Von Gabriel Berger
Die in Reden westlicher Politiker zuweilen auftretende Nachlässigkeit, von „polnischen Konzentrationslagern“ zu sprechen, wird heute von vielen Polen, besonders aus dem aktuellen Regierungslager der Partei PiS, als eine beleidigende Geschichtsklitterung verstanden. Denn es habe in der Kriegszeit tausende Polen gegeben, die unter Bedrohung für ihr eigenes Leben Juden halfen, sie versteckten, sie mit Nahrungsmitteln versorgten. Das ist wahr und wohldokumentiert. Ebenso wahr und hinreichend dokumentiert ist es aber auch, dass es viele, viel zu viele Polen gegeben hat, die zumindest in einem Punkt mit den deutschen Besatzern bereitwillig kooperiert hatten: bei der Aufgabe, Juden in Verstecken aufzuspüren, sie in Wäldern zu jagen, sie ihres Besitzes zu berauben, sie an die nationalsozialistischen deutschen Besatzer auszuliefern oder eigenhändig zu ermorden.
Und dennoch, eines kann den Polen nicht nachgesagt werden: Die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager haben sie weder erfunden noch betrieben noch in ihnen Wachmannschaften gestellt – im Gegensatz etwa zu vielen ukrainischen Kollaborateuren und sogenannten „Volksdeutschen“.
Es waren deutsche NS-Lager auf polnischem, okkupiertem Territorium. Sie wurden von den Deutschen auf dem besetzten Gebiet Polens errichtet, weil in Polen und in den angrenzenden besetzten osteuropäischen Territorien die meisten Juden Europas lebten, allein in Polen über drei Millionen. Die Lage der Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka, Sobibór und Majdanek auf dem Territorium Polens war demzufolge logistisch begründet. Sie führte zu kürzesten, ökonomisch effizientesten Transportwegen für die Juden auf den Weg in die Massenvernichtung.
Geschichte Polens als eine Kette von Heldentaten
Doch diese Tatsachen werden in der Welt kaum von jemandem angezweifelt, weshalb ein polnisches Gesetz über die Bestrafung von gegenteiligen Aussagen (IPN [Instytut Pamięci Narodowej, deutsch: Institut für Nationales Gedenken]- oder Holocaust-Gesetz) als nicht notwendig erscheinen kann. Es erzeugt aber in der Welt, besonders in Israel und in den USA, Ressentiments und Verdachtsmomente gegen die derzeitige polnische Regierung, die von dieser als eine Bedrohung und als eine Schädigung des Ansehens Polens interpretiert werden.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass das Szenario einer äußeren Bedrohung Polens von der PiS-Regierung mutwillig herbeigeführt wurde, um in der polnischen Gesellschaft – und besonders bei der polnischen Jugend – eine Haltung des Trotzes und des übersteigerten Nationalstolzes zu provozieren. Nach Meinung der derzeitigen PiS-Regierung soll die Geschichte Polens ausschließlich als eine Kette von Heldentaten und Leiden des polnischen Volkes vermittelt werden. Das neue Holocaust-Gesetz soll deshalb durch Androhung juristischer Sanktionen die öffentliche Diskussion über eine Mittäterschaft zahlreicher Polen beim Massenmord an Juden während der nationalsozialistischen deutschen Besatzung unterbinden.
[Die Zahl polnischer Kollaborateure und Denunzianten ist nur vage zu beziffern. Sie wird von polnischen Historikern auf 50.000 bis zu 500.000 geschätzt (siehe hier). Vergleichsweise wenige polnische Täter sind nach dem Krieg, zwischen 1945 und 1949, juristisch belangt worden, nämlich etwa 21.000, siehe Mirosław Tryczyk, Miasta Śmierci. Sąsiednie pogromy Żydów, (deutsch: Städte des Todes. Nachbarschaftliche Judenpogrome) Verlag RM Warschau 2015, S. 1., Anm. d. Autors]
Hoffnung auf mehr kritische Stimmen?
Nach Ansicht des auch in Deutschland bekannten polnischen Historikers Włodzimierz Borodziej könnte das neue Gesetz die umgekehrte Wirkung haben. In einer Veranstaltung in einem polnischen Buchladen in Berlin vertrat er am 16. Februar 2018 die Meinung, als Folge der internationalen Kritik an dem Holocaust-Gesetz, besonders in Israel und den USA, würde in der polnischen Öffentlichkeit über die Haltung der polnischen Bevölkerung angesichts des vor ihren Augen stattgefundenen nationalsozialistischen Massenmordes an polnischen Juden so heftig und kontrovers wie noch nie diskutiert. Kritische Stimmen würden immer lauter zu vernehmen sein. Einen weniger optimistischen Standpunkt vertreten im polnischen PEN Club organisierte Schriftsteller, die in einer am 8. Februar 2018 verbreiteten Erklärung unter anderem folgendes schrieben:
„Entgegen der Regierungspropaganda ist nicht die Bekämpfung der Auschwitzlüge und des Neofaschismus das Ziel der oben genannten Gesetzes-Novellierung. Es setzt vielmehr die schlimme Tradition der Verfolgung wegen Majestätsbeleidigung fort, hier in Gestalt der Beleidigung des Staates und des polnischen Volkes. Freiheitsentzug für ein willkürlich auslegbares Fälschen der Geschichte ist eine Idee aus der Gesetzgebung in Putins Russland. Der Grundgedanke des Aktes beider Häuser unseres Parlaments ist die Einführung der Zensur, und das unter Androhung langjähriger Haftstrafen. Diese werden unter anderem dafür angedroht, dass polnischen Bürgern irgendwelche Kriegs- oder Menschheitsverbrechen während des Krieges oder sogar in der Zeit von 1925 bis 1950 (bezogen auf die Ukrainer) zugeschrieben werden. Dieses durch die Zensur ausgesprochene Verbot ist von vornherein darauf angelegt, mit Völkern, die Beispiele solcher Verbrechen in ihrem Gedächtnis erhalten haben, Konflikte auszulösen.“
Und eine Gruppe von namhaften polnischen Intellektuellen verbreitete im Februar 2018 im Internet eine dramatische Erklärung unter dem Titel „An die jüdischen Freunde“. Hier einige Zitate aus dieser Erklärung:
„Wir dachten nicht, dass wir irgendwann wieder gezwungen sein würden, uns an unsere Freunde, Mitbürger, polnische Juden zu wenden, sie unserer Brüderlichkeit und Solidarität zu versichern.
[Dieser Satz bezieht sich auf die von der kommunistischen polnischen Regierung 1968 inszenierte antisemitische Hetze, als deren Folge etwa 15 tausend vollständig polonisierte Juden zur Emigration gezwungen wurden. Mit dieser Aktion lenkte die damalige Regierung durch Mobilisierung einer „Wut des Volkes auf die Juden“ in einer Krisensituation vom eigenen Versagen ab. Drei Jahre später wurde sie durch Streikaktionen von Arbeitern an der Küste gestürzt. Anm. d. Autors] Das ist ein Albtraum. […]
Der Protest Israels, später auch der USA, gegen das Gesetz über IPN [über das nationale Gedenken] löste eine Welle von antisemitischen Auftritten im Internet und in öffentlichen Medien aus. Aus Mündern bekannter Publizisten aus dem PiS-Lager, von Mitarbeitern des TVP [polnisches Staatsfernsehen], vernahmen wir schändliche, antisemitische Worte. Vor dem Präsidentenpalast standen Nationalisten mit der Losung „Nimm die Kippa ab, unterschreibe das Gesetz“. Der Präsident hat unterschrieben. In seiner Erklärung hat er vermieden, zu diesen Appellen Stellung zu nehmen. […]
Angesichts der Welle des Hasses und der schändlichen Sprache können wir nicht gleichgültig bleiben. […]
Wir versichern Euch unserer Solidarität. Das alles beleidigt und schmerzt auch uns.“
In welche Richtung sich die polnische Gesellschaft bewegen wird, kann man nicht wissen. Man kann nur hoffen, dass der optimistische Standpunkt des Historikers Włodzimierz Borodziej den Trend korrekt beschreibt. Das hieße, auf Selbstheilungskräfte der derzeit kranken polnischen Gesellschaft zu vertrauen.
Gabriel Berger wurde 1944 in Frankreich als Kind jüdischer kommunistischer Emigranten aus Polen geboren. 1948 bis 1957 wuchs er in Polen auf, bis sein Vater 1956 wegen einer antisemitischen Welle in die DDR übersiedelte. Gabriel Berger war u.a. Kernphysiker in der DDR, wurde1976 wegen „Staatsverleumdung“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und 1977 in den Westen entlassen. Hier ist er neben Tätigkeiten als Physiker und Informatiker auch journalistisch und publizistisch tätig. Dieser Beitrag ist ein Kapitel des Buches „Der Kutscher und der Gestapo-Mann“, das im März dieses Jahres im Lichtig Verlag Berlin erscheinen wird.