Gastautor / 01.03.2018 / 15:00 / Foto: Pixabay.de / 5 / Seite ausdrucken

Polens riskantes Spiel mit Dämonen

Von Gabriel Berger

Die in Reden westlicher Politiker zuweilen auftretende Nachlässigkeit, von „polnischen Konzentrationslagern“ zu sprechen, wird heute von vielen Polen, besonders aus dem aktuellen Regierungslager der Partei PiS, als eine beleidigende Geschichtsklitterung verstanden. Denn es habe in der Kriegszeit tausende Polen gegeben, die unter Bedrohung für ihr eigenes Leben Juden halfen, sie versteckten, sie mit Nahrungsmitteln versorgten. Das ist wahr und wohldokumentiert. Ebenso wahr und hinreichend doku­mentiert ist es aber auch, dass es viele, viel zu viele Polen gegeben hat, die zumindest in einem Punkt mit den deutschen Besatzern bereitwillig kooperiert hatten: bei der Aufgabe, Juden in Verstecken aufzuspüren, sie in Wäldern zu jagen, sie ihres Besitzes zu berauben, sie an die national­so­zia­listischen deutschen Besatzer auszuliefern oder eigenhändig zu ermorden.

Und dennoch, eines kann den Polen nicht nachgesagt werden: Die deutschen Konzentrations- und Vernichtungs­lager haben sie weder erfun­den noch betrieben noch in ihnen Wachmannschaften gestellt – im Gegensatz etwa zu vielen ukrainischen Kollaborateuren und sogenannten „Volksdeutschen“.

Es waren deutsche NS-Lager auf polnischem, okkupiertem Territorium. Sie wurden von den Deutschen auf dem besetzten Gebiet Polens errichtet, weil in Polen und in den angrenzenden besetzten osteuropäischen Territorien die meisten Juden Europas lebten, allein in Polen über drei Millionen. Die Lage der Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka, Sobibór und Majdanek auf dem Territorium Polens war demzufolge logistisch begründet. Sie führte zu kür­zesten, ökonomisch effizientesten Transportwegen für die Juden auf den Weg in die Massenvernichtung.

Geschichte Polens als eine Kette von Heldentaten

Doch diese Tatsachen werden in der Welt kaum von jemandem ange­zwei­felt, weshalb ein polnisches Gesetz über die Be­strafung von gegenteiligen Aussagen (IPN [Instytut Pamięci Narodowej, deutsch: Institut für Nationales Gedenken]- oder Holocaust-Gesetz) als nicht notwendig er­scheinen kann. Es erzeugt aber in der Welt, besonders in Israel und in den USA, Ressentiments und Verdachts­momente gegen die derzeitige polnische Regierung, die von dieser als eine Bedrohung und als eine Schädigung des Ansehens Polens interpretiert werden.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass das Szenario einer äußeren Bedrohung Polens von der PiS-Regierung mut­willig her­bei­geführt wurde, um in der polnischen Gesellschaft – und besonders bei der polnischen Jugend – eine Haltung des Trotzes und des übersteigerten Nationalstolzes zu provozieren. Nach Meinung der der­zeitigen PiS-Regie­rung soll die Geschichte Polens ausschließlich als eine Kette von Heldentaten und Leiden des polnischen Volkes vermittelt werden. Das neue Holocaust-Gesetz soll deshalb durch Androhung juristischer Sanktionen die öffentliche Diskussion über eine Mittäterschaft zahlreicher Polen beim Massenmord an Juden während der nationalsozialis­tischen deutschen Besatzung unterbinden.

[Die Zahl polnischer Kollaborateure und Denunzianten ist nur vage zu beziffern. Sie wird von polnischen Historikern auf 50.000 bis zu 500.000 geschätzt (siehe hier). Vergleichsweise wenige polnische Täter sind nach dem Krieg, zwischen 1945 und 1949, juristisch belangt worden, nämlich etwa 21.000, siehe Mirosław Tryczyk, Miasta Śmierci. Sąsiednie pogromy Żydów, (deutsch: Städte des Todes. Nachbar­schaftliche Judenpogrome) Verlag RM Warschau 2015, S. 1., Anm. d. Autors]

Hoffnung auf mehr kritische Stimmen?

Nach Ansicht des auch in Deutschland bekannten polnischen Historikers Włodzimierz Borodziej könnte das neue Gesetz die umgekehrte Wirkung haben. In einer Veranstaltung in einem polnischen Buchladen in Berlin vertrat er am 16. Februar 2018 die Meinung, als Folge der internationalen Kritik an dem Holocaust-Gesetz, besonders in Israel und den USA, würde in der polnischen Öffentlichkeit über die Haltung der polnischen Bevöl­kerung angesichts des vor ihren Augen stattgefundenen nationalsozialistischen Massenmordes an polnischen Juden so heftig und kontrovers wie noch nie diskutiert. Kritische Stimmen würden immer lauter zu vernehmen sein. Einen weniger optimistischen Standpunkt vertreten im polnischen PEN Club organisierte Schriftsteller, die in einer am 8. Februar 2018 verbrei­teten Erklärung unter anderem folgendes schrieben:

„Entgegen der Regierungspropaganda ist nicht die Bekämpfung der Auschwitz­lüge und des Neofaschismus das Ziel der oben genannten Gesetzes-Novellierung. Es setzt vielmehr die schlimme Tradition der Ver­fol­gung wegen Majestätsbeleidigung fort, hier in Gestalt der Belei­digung des Staates und des polnischen Volkes. Freiheitsentzug für ein willkürlich auslegbares Fälschen der Geschichte ist eine Idee aus der Gesetzgebung in Putins Russland. Der Grundgedanke des Aktes beider Häuser unseres Parlaments ist die Einführung der Zensur, und das unter Androhung langjähriger Haftstrafen. Diese werden unter anderem dafür angedroht, dass polnischen Bürgern irgendwelche Kriegs- oder Menschheitsverbrechen während des Krieges oder sogar in der Zeit von 1925 bis 1950 (bezogen auf die Ukrainer) zugeschrieben werden. Dieses durch die Zensur ausgesprochene Verbot ist von vornherein darauf angelegt, mit Völkern, die Beispiele solcher Verbrechen in ihrem Gedächtnis erhalten haben, Konflikte auszulösen.“

Und eine Gruppe von namhaften polnischen Intellektuellen verbreitete im Februar 2018 im Internet eine dramatische Erklärung unter dem Titel „An die jüdischen Freunde“.  Hier einige Zitate aus dieser Erklärung:

„Wir dachten nicht, dass wir irgendwann wieder gezwungen sein würden, uns an unsere Freunde, Mitbürger, polnische Juden zu wenden, sie unserer Brüderlichkeit und Solidarität zu versichern.

[Dieser Satz bezieht sich auf die von der kommunistischen polnischen Regierung 1968 inszenierte antisemitische Hetze, als deren Folge etwa 15 tausend vollständig polonisierte Juden zur Emigration gezwungen wurden. Mit dieser Aktion lenkte die damalige Regierung durch Mobilisierung einer „Wut des Volkes auf die Juden“ in einer Krisensituation vom eigenen Versagen ab. Drei Jahre später wurde sie durch Streikaktionen von Arbeitern an der Küste gestürzt. Anm. d. Autors] Das ist ein Albtraum. […]

Der Protest Israels, später auch der USA, gegen das Gesetz über IPN [über das nationale Gedenken] löste eine Welle von antisemitischen Auftritten im Internet und in öffentlichen Medien aus. Aus Mündern bekannter Publi­zisten aus dem PiS-Lager, von Mitarbeitern des TVP [polnisches Staatsfernsehen], vernahmen wir schändliche, antisemitische Worte. Vor dem Prä­si­dentenpalast standen Nationalisten mit der Losung „Nimm die Kippa ab, unterschreibe das Gesetz“. Der Präsident hat unterschrieben. In seiner Erklärung hat er vermieden, zu diesen Appellen Stellung zu nehmen. […]

Angesichts der Welle des Hasses und der schändlichen Sprache können wir nicht gleichgültig bleiben. […]

Wir versichern Euch unserer Solidarität. Das alles beleidigt und schmerzt auch uns.“

In welche Richtung sich die polnische Gesellschaft bewegen wird, kann man nicht wissen. Man kann nur hoffen, dass der optimistische Stand­punkt des Historikers Włodzimierz Borodziej den Trend korrekt be­schreibt. Das hieße, auf Selbstheilungskräfte der derzeit kranken polnischen Gesell­schaft zu vertrauen.

Gabriel Berger wurde 1944 in Frankreich als Kind jüdischer kommunistischer Emigranten aus Polen geboren. 1948 bis 1957 wuchs er in Polen auf, bis sein Vater 1956 wegen einer antisemitischen Welle in die DDR übersiedelte. Gabriel Berger war u.a. Kernphysiker in der DDR, wurde1976 wegen „Staatsverleumdung“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und 1977 in den Westen entlassen. Hier ist er neben Tätigkeiten als Physiker und Informatiker auch journalistisch und publizistisch tätig. Dieser Beitrag ist ein Kapitel des Buches „Der Kutscher und der Gestapo-Mann“, das im März dieses Jahres im Lichtig Verlag Berlin erscheinen wird.           

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Dieter Sulzbach / 01.03.2018

Ich bezweifle, daß unsere polnischen Nachbarn als erstes deutsche Kommentare zu diesem Thema hören wollen. Wie wäre es, wenn nach all den wohlfeilen Ratschlägen in jüngster Vergangenheit durch EU-“Größen” von deutscher Seite erst einmal Zurückhaltung geübt würde?

Dirk Jungnickel / 01.03.2018

Der Beitrag trägt wesentlich zur Erhellung der Problematik bei.  Wenn die “Nachlässigkeit” von “polnischen Konzentrationslagern ” zu sprechen der Ausgangspunkt ist, kann ich mir gut vorstellen, dass dies der Korrektur bedarf.  Ob dafür ein Straftatbestand “erschaffen”  werden muss, ist sehr fraglich, zumal in Polen selbst dieser Unsinn wohl eher nicht kolportiert wird. Wird hier aus der Mücke eine Elefant gemacht, oder gar Geschichtspolitik betrieben indem Geschichte politisch instrumentalisiert wird ?  Unstrittig ist, dass es während kriegerischer Auseinandersetzungen immer auch Überläufer und zu Besatzungszeiten immer schon willige Helfer der Sieger gegeben hat.  Und der Antisemitismus war wie ein Seuche in Europa mehr oder weniger verbreitet. Da machte leider auch Polen keine Ausnahme.  Ich kann nicht beurteilen,  inwieweit in Polen in dieser Frage geschichtlicher Klartext geredet wird.  Aber ich hoffe sehr, dass dieses Gesetz der PiS - Regierung nicht der Geschichtsklitterung dienen soll. Denn Geschichtsklitterung geht in der Regel nach hinten los. - Übrigens haben wir guten Grund uns nicht einzumischen.

Arthur Bergmann / 01.03.2018

Der Autor schreibt “Das neue Holocaust-Gesetz soll deshalb durch Androhung juristischer Sanktionen die öffentliche Diskussion über eine Mittäterschaft zahlreicher Polen beim Massenmord an Juden während der nationalso­zialis­tischen deutschen Besatzung unterbinden.” Eben DAS nicht! Das neue Holocaust-Gesetz soll unterbinden, DEM POLNISCHEN STAAT eine Mit/Schuld am Holocaust zuzusprechen. Das wurde bereit von zahlreichen polnischen Vertretern so dargestellt und es ist ein himmelweiter Unterscheid.

Johann Selig / 01.03.2018

Es sollte aber schon mal an die polnischen Lager erinnert werden. 1918 in Szcypiorno und 1919 in Stralkowo. Mehr als 8000 Deutsche sollen dort in der ersten Nachkriegszeit interniert gewesen sein. 1926 wurde das Lager Bereza-Kartuska in Galizien und das in Brest-Litowsk eröffnet, wo Deutsche, Ukrainer und andere politische Gegner gefangengehalten wurden. 1939 kam das Lager Chodzen hinzu, in dem Anfang September 1939 Tausende Volksdeutsche zusammengetrieben wurden. Dann noch zu erwähnen die Nachkriegslager

Wilfried Cremer / 01.03.2018

Das Motiv für dieses maßlose Gesetz ist vermutlich die Sorge vor dem wachsenden Einfluss Deutschlands auf Polen über die EU. Mal was anderes: Warum wird eigentlich immer von Vernichtung gesprochen? Ich hab mal einen Aufsatz eines Rabbiners gelesen, in dem es hieß, dass die Leiber der Toten sich (unterirdisch) gen Jerusalem “wälzen”, um bei der Auferstehung vor Ort zu sein. Die Verbrechen der Nazis sind selbstverständlich damit nicht zu relativieren.

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