Gunnar Heinsohn / 07.12.2015 / 22:31 / 9 / Seite ausdrucken

Polens europäisches Ich

Wie der Piast Henryk Pobożny 1241 den Mongolensturm in Legnickie Pole (Liegnitzer Feld) blockiert, so besiegt 1683 König Jan Sobieski in Wien die muslimischen Belagerer und bewahrt so das Abendland von neuem vor dem Untergang.

Als die polnisch-litauische Adelsrepublik 1795 zwischen Russen, Preussen und Habsburgern verteilt ist, bringen die Unterworfenen – trotz Verbots der Muttersprache für die Schulkinder – ihre bedeutendsten Musiker, Dichter und Maler hervor. Diese Künstler von Frédéric Chopin über Adam Mickiewicz bis hin zu Jacek Malczewski binden sich ein in die immer wieder scheiternden Versuche, die Despoten aus Berlin, Wien oder Sankt Petersburg abzuschütteln.

Als die Nation 1918 gerade wieder ersteht, obliegt es weniger als 50.000 Polen, eine bolschewistische Armee von 115.000 Mann in der Schlacht von Warschau (1920) zurückzuwerfen und so Europa vor einem blutrünstigen Regime zu bewahren. Als die Henker Hitlers und Stalins sich 1939 das Land zur Beute machen, geben seine besiegten Armeen nicht auf, sondern kämpfen an der Seite von Franzosen, Briten und Amerikanern von Afrika bis Norwegen gegen die germanische Ausrottungsmaschinerie.

Wo in der besetzten Heimat die polnische Elite nicht deutschen oder sowjetischen Mördern zum Opfer gefallen ist, kann sie den eigenen Abschaum zwar nicht überall, aber doch an vielen Stellen vom Judenmorden abhalten. Ungeachtet des verbreiteten Antisemitismus ehrt man deshalb in Jerusalems Yad Vashem 6.500 polnische Judenretter als „Gerechte unter den Völkern“, aber nur 650 aus Deutschland und Österreich.

Selbst als die Alliierten das Land 1945 um die Früchte seines Mitsiegens betrügen und in die Moskauer Liga der kommunistischen Diktaturen zwingen, hört der Kampf gegen die Unterdrückung nie auf. Als heutiges Berliner Spitzenpersonal aus der DDR seinen letzten marxistisch-leninistischen Schliff erhält und aus der alten Bundeshauptstadt Bonn Warnungen vor polnischen Unruhestiftern um die Welt gehen, beginnen Arbeiter auf Danzigs Leninwerft 1980 ihre Rebellion gegen ein System, das trotz tödlicher Milizeinsätze und der Generalüberwachung durch Kriegszustand den Eintritt von fast zehn Millionen Polen in die verfolgte Gewerkschaft Solidarność nicht verhindern kann.

Als die Mächtigen in Warschau 1989 abtreten und die totalitären Regime von Moskau und Ost-Berlin bis hin nach Bukarest und Tirana wie Dominosteine fallen, kehrt Polen in ein Europa zurück, für dessen Freiheit es bis 1945 im Weltkrieg und danach gegen den Stalinismus wie kein anderes Land geblutet hat. Es tritt glücklich ein in eine Moderne und hört überrascht vom volkspädagogisch auftrumpfenden westlichen Nachbarn, dass es Patriotismus nicht geben dürfe, weil der doch immer nur als reaktionärer Nationalismus zu haben sei.

Manche ziehen begeistert mit und zeigen in ihren Forschungen die dunklen Flecken und Schuldverstrickungen während der heroischen Vergangenheit. Das schockt und macht die Polen gelegentlich auch trotzig. Aber dann versteht man, dass keine Heldentat allein mit Helligkeit zu vollbringen ist und nimmt seinen Platz unter den seltenen Freiheitsbringern der Menschheitsgeschichte wieder ein.

Dabei mag hier zu viel Selbstbewusstsein oder dort zu wenig Eleganz an den Tag gelegt werden. Wer Polen jedoch als Bürde hinstellt, weil die neue Regierung seinen Schutz für Europa in Erinnerung hält, verkennt, wie sehr der auch weiterhin vonnöten sein wird.

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Marcel Neumann / 09.12.2015

Sehr geehrter Herr Heinsohn, Ihr Artikel ist mir viel zu euphorisch, auch wenn Sie im Kern Recht haben. Die Polen haben eben Rückgrat, die Deutschen ... Sie machen allerdings viele gravierende historische Fehler (vgl. auch die Zuschrift von Hrn. Rostert). Erlauben Sie bitte einige Hinweise. Die Mongolenschlacht auf der / bei Wahlstatt am 9.4.1241 in der Nähe von Liegnitz in Niederschlesien (“Liegnitzer Feld” gibt es nicht in der dt. Toponomastik, Sie haben irrtümlicherweise eine Rückübersetzung aus dem Polnischen verwendet) hat mitnichten das Abendland gerettet. Das Abendland war gar nicht das Ziel der auf der Wahlstatt kämpfenden Mongolen. Es war lediglich ein Entlastungs/Ablenkungsangriff, damit den Ungarn (das Ziel des mongol. Hauptheeres) die Völker des Nordens (Polen, Deutsche, Mährer, Böhmen usw.) nicht zur Hilfe kommen können. Die Schlacht endete auch in einer vernichtenden Niederlage der Deutschen und Polen, die bei Wahlstatt gemeinsam gegen den Feind gekämpft haben. Und der geköpfte (ja, schon damals so) Herzog war auch mehr Deutscher als Pole (Sohn der Andechserin, der Hl. Hedwig) und heißt für uns Deutsche Heinrich der Fromme. Holocaust und/in Polen ist ein besonders tragisches Kapitel. Sie erwähnen die eine Seite der Medaille (übrigens das Jonglieren mit Zahlen bringt uns hier nicht weiter, z.B. 6.500 Retter aber über 3 Mio.(!) zu Rettende in Polen). Die andere Seite der Medaille, die Sie unzulässigerweise völlig ausgeblendet haben, schildern z.B. die Bücher der polnischen Historiker Jan Gross oder, vor kurzem, “Judenjagd” - so der poln. Originaltitel - von Jan Grabowski.

Wolfgang Zieten / 09.12.2015

Ich schließe mich meinem Vorredner Alexander Rostert an. Ich schätze Professor Heinsohns Analysen. Man kann die Rolle der osteuropäischen Länder in der EU schätzen und würdigen. Polen, wie es sich heute präsentiert, kann man mögen. Mit der Geschichte des deutschen Ostens kann man seinen Frieden machen, Schlesien ist durchaus in guten Händen. Aber muss man deswegen der gesamten Historie einen Heiligenschein umhängen? Vor 100 Jahren ist manches eskaliert. Wenn ich in Breslau durch die ulica Powstańców Śląskich gehe, muss ich schmunzeln. Wird da nicht an eine Aufstandsserie gegen ein verlorenes referendum erinnert? Dann noch ein Hinweis: Ein “Liegnitzer Feld” gibts nicht, in deutschen Geschichtsbüchern ist das die Schlacht an der Wahlstatt.

Alexander Rostert / 08.12.2015

Ich möchte Herrn Prof. Heinsohn, den ich sonst sehr schätze, wirklich nicht zu nahe treten, aber dass die Polen 1919 ihre Hauptstadt gegen einen “bolschewistischen Ansturm” zu verteidigen hatten, war allein einem unprovozierten polnischen Eroberungskrieg gegen die junge Sowjetunion zu verdanken und nicht einer polnischen “europäischen Mission” (sonst wäre das “Unternehmen Barbarossa” nämlich auch eine solche gewesen). Und dass 1919 der Rest Europas - mit den gerade erst langsam demobilisierenden Millionenheeren, die bis eben an der Westfront gegeneinander gekämpft hatten - nicht in der Lage gewesen wäre, sich des Ansturm von 115 Tausend barfüßiger Rotarmisten zu erwehren oder auch der zehnfachen Zahl, stelle ich rundheraus in Abrede.

Gisela Tiedt / 08.12.2015

Für diesen Artikel bin ich sehr dankbar. Es ist schwer erträglich, immer wieder den Vorwurf zu hören und zu lesen, die osteuropäischen Länder wollten zwar Geld von der EU, zeigten aber keine Solidarität bei der Lastenverteilung. Welche Geschichtsvergessenheit!

Dr. Gerd Brosowski / 08.12.2015

Welch gründlich recherchierter, fairer Beitrag – einen herzlichen Dank dem Autor! Ist es erlaubt, den hier aufgezeigten großen Leistungen der Polen noch ein Beispiel beizufügen? Wäre ohne die ständige Ermutigung und zugleich Beruhigung, die vom polnischen Papst Johannes Paul II. auf seine Polen, aber auch auf alle Völker Mitteleuropas ausgeübt wurde, der Sturz der kommunistischen Regierungen 1989 so unblutig verlaufen? Hat nicht die ganze Welt gezittert vor dem Ausbruch von Wut und Rache, der mit einer solch riesenhaften Revolution bevorzustehen schien? Wir Deutschen verweisen gerne und durchaus zu Recht auf den Beitrag, den die Friedensgebete und anschließenden Montagsdemonstrationen in Leipzig zur friedlichen Revolution geleistet haben. Aber die friedliche Revolution war kein speziell deutsches Ereignis; sie betraf ganz Mittel-und Osteuropa. Die Polen ließen einerseits keinen Zweifel aufkommen an ihrem Freiheitswillen, an ihrem Todesmut, ihre Freiheit zu erringen und zu verteidigen, und andererseits gab es im Verlauf der Revolution oder nach deren siegreichem Ende keine blutige Abrechnung, keine schreckliche Rache an den Gestürzten. Frühere, dankbarere Generationen hätten nach einem so glücklichen Ausgang einer Revolution Kathedralen gebaut und Jahr für Jahr ein Freudenfest veranstaltet – wir meckern über den Soli und anderes. Aber das ist eine andere Geschichte.

Boris Blaha / 08.12.2015

Sehr geehrter Herr Heinsohn, großartig - während den grün-pubertären Kindsköpfen nur wieder einfällt, auf Herrn Tusk mit der moralischen Keule einzuprügeln, bin ich mit Ihnen einer Meinung, dass ein politischer Aufbruch, wenn überhaupt, am ehesten aus Osteuropa kommt. Länder wie Polen oder Litauen/Lettland/Estland haben ein Sinn für Republik, der Frankreich und Deutschland abgeht. Kazimierz Brandys, der 1981 bei der Verhängung des Kriegsrechts in Polen zufällig in Berlin weilt, und sich die weinerlich-ängstlichen Deutschen anschaut (der SPIEGEL titelte mit dem großen russichen Bären, der sich Europa schnappt) meinte dazu lapidar in seinem Warschauer Tagebuch: “Man stirbt nicht für die Zivilisation”.  Inzwischen erlebe ich in meinem privaten Umfeld schon einige, darunter ein Jurist mit eigener Kanzlie, die ernsthfaft über Auswandern nachdenken. Boris Blaha

Joachim Kuhlmann / 08.12.2015

Polen scheint mir so etwas für die unbekannte, geheimnisvolle “Perle” Osteuropas zu sein, gegen das viel zu lange und ohne trifftigen Grund in Deutschland Vorurteile geschürt wurden. Vielen Dank für diesen hintergründigen Artikel!

Vaclav Endrst / 08.12.2015

In entscheidenden Momenten der Europäischen Geschichte haben die Polen immer wichtige Rolle gespielt. Sie haben u.A. der Anfang der Zusammenbruch des Sowjetischen Imperium mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarnost angeläutet und jetzt tragen sie , hoffentlich, die Flagge der Freiheit gegen die Usurpatoren der möchtegern Weltregierung.

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