Rupert Neudeck ist tot, der Mann, der nicht nur 11.340 vietnamesischen Boatpeople „aus dem Chinesischen Meer nach Deutschland“ geholt (Andrea Seibel in der „Welt“), sondern auch ein bemerkenswertes „Votum gegen die pazifistische Reinkultur“ (Christian Geyer in der FAZ) abgegeben hat: „Ich möchte nicht, dass Menschen sterben für die Reinheit meiner Philosophie, meines Pazifismus.“ Mit diesem Satz hatte sich Neudeck für Waffenlieferungen an die Kurden für den Krieg gegen den IS ausgesprochen. Ein Friedensaktivist, der sich für Waffenlieferungen ausspricht. Wie geht das denn?
Das Symbol des Friedens ist die Taube („Friedenstaube“), das Symbol des Krieges der Adler. Nach dem Löwen ist der Adler das zweithäufigste Wappentier. Die Taube findet man dagegen nur in den Wappen der Fidschi-Inseln und von Zypern.
1949 kündigte Pablo Picassos Lithographie „Die Taube" die Pariser Weltfriedenskonferenz an. Die Friedenstaube wurde weltweit anerkanntes Symbol für den Frieden. Seine Tochter nannte er aus Liebe zu den Tauben "Paloma". In politischen Auseinandersetzungen werden gemäßigte oder pazifistische Politiker als Tauben, „hardliner“ als Falken bezeichnet (warum nicht als Adler bleibt rätselhaft).
Tauben sind aggressive Vögel
Hintergrund ist die biblische Geschichte von der Sintflut: „Die Taube spielt in der biblischen Sintflut-Erzählung die Rolle des frohen Botschafters: Eine von Noah ausgelassene Taube kehrt mit einem frischen Olivenzweig im Schnabel zur Arche zurück (Gen 8,11). Die biblische Sintflut-Erzählung beginnt in (Gen 6,5-7) mit einer Art Kriegserklärung Gottes an die Menschen und die Schöpfung, denn "die Erde ist voller Gewalt" (Gen 6,13). Die Rückkehr der Taube mit dem Olivenzweig wird daher als Zeichen des Friedensschlusses verstanden, Taube wie Olivenzweig werden zu Friedenssymbolen.“ (Wikipedia)
Weiter heißt es aber zutreffend bei Wikipedia: „Das Symbol der Friedenstaube hat keine verhaltensbiologische Entsprechung, da Tauben im Vergleich zu beispielsweise Falken untereinander sehr aggressive und angriffslustige Tiere sind.“
In dem Film „Napoleon“ des französischen Regisseurs Abel Gance von 1927, den ich am 15. April 1983 im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle gesehen habe (weil nur dort die benötigte Riesenleinwand vorhanden war), kommt dem Adler als Kriegssymbol eine prophetische Bedeutung zu (laut Programmheft):
„Seine Kameraden [auf der Militärschule von Brienne, die er von Mai 1779 bis Oktober 1784 besuchte] drangsalieren ihn, und sein einziger Trost ist ein zahmer Adler, aber selbst der ist nicht sicher – Napoleons Peiniger lassen ihn fliegen. Rasend vor Wut stürzt er sich auf seine Zimmergenossen, aber die erbosten Padres schicken ihn hinaus in den Schnee. Als er sich weinend an eine Kanone lehnt, kehrt der Adler des Schicksals zu ihm zurück, ein Vorbote kommender Ereignisse ...“ Nachdem Napoleon Bonaparte sich 1804 zum Kaiser der Franzosen ernannt hatte, übernahm er die Aquila, den römischen Legionsadler, an der Spitze der Truppenfahnen (aigle de drapeau – Fahnenadler).
Die Verlogenheit, die zu dem Begriff der Friedenstaube geführt hat, zeigt sich, natürlich ungewollt, auch im Fries über dem Eingang des ehemaligen Gästehauses der Regierung der DDR in Berlin-Niederschönhausen, ein Staat, dessen Regierung seine Bürger erschießen ließ, wenn diese versuchten, über Mauer und Stacheldraht den Wohltaten des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden zu entfliehen.
Pazifisten wollen nur das Beste
Und die gleiche Verlogenheit sehe ich auch hinter dem Pazifismus. Natürlich ist jeder vernünftige Mensch gegen Krieg und für Frieden. Aber bekanntlich sind nicht alle Menschen vernünftig. Als Kleinkinder waren selbst Hitler, Stalin und Mao Tse Tung sicher süße Kerlchen. Und trotzdem wurden sie zu den größten Massenmördern der Weltgeschichte.
Pazifisten sind zweifellos ehrenhafte Menschen, die nur das Beste wollen. Aber allein aufgrund dieser Absicht sind sie noch keine besseren Menschen – im Gegenteil. Denn wenn sie konsequent an ihrer Position festhalten, müssen andere die Kastanien für sie aus dem Feuer holen, wie Hochhuth sarkastisch festgestellt hat („Pazifisten sind Menschen, die andere für sich kämpfen lassen“). Mit dem Pazifismus verhält es sich ähnlich wie mit der Toleranz: So wie diese sich letztlich selbst beseitigt, so führt auch der Pazifismus am Ende zu Tod, Völkermord, Flucht und Vertreibung sowie Unterdrückung und Tyrannei.
Während des Kalten Krieges prägten diejenigen, die nicht zur Verteidigung der Freiheit bereit waren, das eingängige Schlagwort: „Lieber rot als tot". Also lieber unter kommunistischer Herrschaft leben, als gegen diese zu kämpfen. Vermutlich konnte sich dieser Slogan nur deshalb etablieren, weil er das Gegenstück zur Naziparole „Lieber tot als rot“ (“Better dead than red“) von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels war.
Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die an Schrecken alles überboten, was die Menschheit bisher gekannt hatte, glaubten vermutlich viele, jetzt sei es mit Kriegen ein für alle Mal vorbei. Dies kommt insbesondere in der Charta der Vereinten Nationen zum Ausdruck. Die Charta wurde zum Abschluss der Konferenz über eine internationale Organisation am 26. Juni 1945 in San Franzisco von 50 Gründungsstaaten unterzeichnet und ist am 24. Oktober 1945 in Kraft getreten. Sie wurde wesentlich von Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ beeinflusst.
Es ist müßig zu zählen, wie viele Kriege seither stattgefunden haben. Der Mensch wäre nicht der Mensch, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung hat ermittelt, dass die Zahl der Kriege 2011 auf den höchsten Stand seit 1945 gestiegen ist. Lag der Höchstwert 1993 bei 16 Kriegen, so betrug er 20 im Jahr 2011. Wobei diese Zahlen natürlich nichts über das Leid aussagen, das hinter ihnen steht.
Dabei ist die Sehnsucht der Menschen, aber leider eben nicht aller, nach Frieden ungebrochen. Seit den antinapoleonischen Kriegen entstanden in verschiedenen europäischen Staaten kleine Vereine von meist bürgerlichen Idealisten, die für Menschenrechte, soziale Verbesserungen, Freihandel, die Abschaffung der Sklaverei eintraten und – meist aus ethischen und religiösen Gründen – auch jede Militärgewalt ablehnten. Sie schlossen sich bald in einigen Staaten zu nationalen Friedensgesellschaften zusammen: so zur American Peace Society in New York City (1815), London Peace Society in Großbritannien (1816) und Genfer Friedensgesellschaft in der Schweiz (1830).
Churchill und das Krokodil
Am 21. Mai 1867 gründete der französische Humanist Frédéric Passy die Internationale Friedensliga (Ligue internationale et permanente de la paix), die später in die Société d’arbitrage entre les Nations umbenannt wurde und erhielt dafür am 10. Dezember 1901 den ersten Friedensnobelpreis (zusammen mit Henry Dunant, Gründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz). Was hätte er wohl getan, wenn er geahnt hätte, dass ihm eines Tages Menachem Begin (1978), Yassir Arafat (1994), Al Gore (2007) und Barack Obama (2009) folgen würden? Ist Frieden schon eine zweischneidige Sache, so ist es der Friedensnobelpreis erst recht.
Einige Kritiker setzen Pazifismus und Appeasement, das heißt eine nachgiebige, verständigungsbereite Außenpolitik gegenüber kriegsbereiten Diktaturen, gleich und werfen deren Anhängern vor, diese zu stärken, ihre Beseitigung zu erschweren und damit Krieg insgesamt eher zu fördern.
In diesem Sinne nannte Winston Churchill pazifistische Studenten der Oxford University, die 1933 eine Resolution zur Verständigung mit dem nationalsozialistischen Deutschland veröffentlicht hatten, „unerfahrene, falsch erzogene Jugend“, deren Haltung ein „sehr beunruhigendes und widerwärtiges Symptom“ sei. Der britische Liberale Robert Bernays berichtete dem britischen Unterhaus 1934 von Reaktionen eines Nationalsozialisten auf diese Oxforder Friedensresolution bei seinem Deutschlandbesuch:
“He was asking about this pacifist motion and I tried to explain it to him. There was an ugly gleam in his eye when he said, „The fact is that you English are soft“. Then I realized that the world enemies of peace might be the pacifists.” Ähnlich hat sich George Orwell geäußert:
"Since pacifists have more freedom of action in countries where traces of democracy survive, pacifism can act more effectively against democracy than for it. Objectively the pacifist is pro-Nazi."
Man muss ein bisschen nachdenken, ehe man dahinter steigt: Der Pazifist kann sich nur in der Demokratie entfalten. Wenn er den Krieg durch eine demokratische Regierung verhindern will, unterstützt er nolens volens kriegslüsterne Diktatoren. Hauptvertreter dieser Richtung war der britische Premierminister (1937-1940) Arthur Neville Chamberlain, der durch seine Zustimmung zum Münchener Abkommen vom 30. September 1938 Hitlers Kriegspläne begünstigte. Von seinem Nachfolger Winston Churchill stammt die Erkenntnis: "An appeaser is one who feeds a crocodile, hoping it will eat him last."
Auch Pazifisten lernen dazu
Die berühmtesten Pazifisten des letzten Jahrhunderts waren sicher Gandhi (Indien), Einstein (Deutschland/Schweiz/USA), Schweitzer (Deutschland/Frankreich) und Russel (GB).
Einstein: „Bis 1933 habe ich mich für die Verweigerung des Militärdienstes eingesetzt. Als aber der Faschismus aufkam, erkannte ich, dass dieser Standpunkt nicht aufrechtzuerhalten war, wenn nicht die Macht der Welt in die Hände der schlimmsten Feinde der Menschheit geraten soll. Gegen organisierte Macht gibt es nur organisierte Macht; ich sehe kein anderes Mittel, so sehr ich es auch bedaure.“
Auch Bertrand Russel gab angesichts des Zweiten Weltkrieges seinen rigorosen Pazifismus auf. Albert Schweitzer bezog sich in seinem Pazifismus auf Mohandas Karamchand Gandhi. Von beiden ist mir nicht bekannt, dass sie ihre Haltung jemals relativiert hätten. Ähnlich streng zeigt sich neuerdings die evangelische Theologin und frühere Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland Margot Käßmann. Mit der Plattitüde „Nichts ist gut in Afghanistan“ hatte sie bereits eine Diskussion ausgelöst.
„Der Pazifismus des 21. Jahrhunderts“, so hat Henryk M. Broder formuliert, „ist ein Lifestyle, für dessen Kosten andere aufkommen. Es ist weniger die Liebe zum Frieden als vielmehr der Wunsch, sich die Hände nicht schmutzig machen zu müssen.“Das ist genau so hart wie die oben zitierte Formulierung von Robert Bernays – und genauso treffend.
„Meine Hoffnung bleibt“, schreibt Käßmann in der Bild-Zeitung, „dass die Menschen irgendwann den Frieden lernen und Deutschland vielleicht der Ort wird, an dem Vermittlung und Versöhnung möglich wird, denn wir sind ein Land, das die Freiheit schätzen gelernt hat und weiß, dass Menschen verschiedener Meinung sein können . . .“
Wer wollte etwas gegen diese schöne Vision sagen, der auch der aus der römisch-katholischen Kirche ausgetretene Theologe Eugen Drewermann anhängt? Entscheidend ist aber letztlich, wie sich ein Staat verhält, wenn alle Friedensbemühungen fruchtlos geblieben sind. Beten wird dann mit Sicherheit nicht helfen.
Schon die Römer wussten: Si vis pacem, para bellum – „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.“ Vermutlich wird dieser Satz erst überflüssig, wenn Gott selbst mit allen Engeln und Heiligen die Weltherrschaft übernommen hat. Aber das kann dauern.