Von Johannes Richardt
Bevormundung und Verbote bestimmen zunehmend den Alltag, analysiert Johannes Richardt. Auch subtilere Formen paternalistischer Politik sind auf dem Vormarsch. Was steckt hinter dem Begriff Paternalismus und in welchen Spielarten tritt er heute auf?
Öko-Bevormundung
Das gesellschaftliche Überleitbild der Nachhaltigkeit und der Kampf gegen den Klimawandel eignen sich bestens als Rechtfertigungen für paternalistische Maßnahmen. Im Jahr 2007, also auf dem Höhepunkt der Klimadebatte, forderte Greenpeace die Einschränkung von Billigflügen, um CO2 einzusparen, womit die NGO glücklicherweise nicht zu den Politikentscheidern durchdringen konnte. Wirksam hingegen ist die EU-Ökodesignrichtlinie, die durch Energieeinsparungen bei Produktion, Nutzung und Entsorgung von bestimmten Produktgruppen – von Legionellenfiltern bis Rasenmähern stehen aktuell 27 in der Diskussion – den Klimawandel bekämpfen und zu mehr Nachhaltigkeit beitragen möchte. Dass die technischen Vorgaben der Richtlinie handfeste Verhaltensänderungen der EU-Bürger zur Folge haben, wird von den EU-Bürokraten in die Vorhaben sozusagen eingepreist. Dank Glühbirnenverbot durften sie sich an das oft doch eher matte Licht der Energiesparlampen gewöhnen. Und auch das kürzlich beschlossene Verbot von besonders stromfressenden Staubsaugern wird Einfluss auf ihren Alltag haben. Der Hersteller Miele kündigte bereits an, die Verbraucher müssten sich auf „Kompromisse“ bei der Reinigungsleistung einstellen. [13] Aktuell gerät gerade der Fleischkonsum zunehmend in den Fokus der grünen Bevormunder. Er sei ungesund aber, was hier vor allem entscheidet ist, „umweltschädlich“ (durch angeblich hohen CO2- und Flächenverbrauch bei der Fleischproduktion) und gehöre deshalb stark eingeschränkt – egal, ob durch individuelle Selbstbeschränkung, sozialen Druck oder administrative Maßnahmen. Die gescheiterte Veggietag-Initiative der Grünen wurde eingangs bereits erwähnt. Selbstverständlich spielen auch Tierschutzerwägungen beim Veggietag eine Rolle – ein Moment des grünen Paternalismus, das aktuell immer bedeutsamer wird: Schon vor einigen Jahren gab es Forderungen danach, das Ponyreiten auf Jahrmärkten und in Streichelzoos zu verbieten. Aktuell wird gefordert, Pferdekutschen oder die Zurschaustellung von Wildtieren in Zirkussen zu verbieten.
Gender-„Maternalisten“
Spöttisch könnte man bei dieser Form von Paternalisten fragen, ob man nicht eigentlich besser von „Maternalismus“ sprechen sollte, da die meisten Protagonisten dieser Bevormundungsbewegung Frauen sind und der Begriff Paternalismus vielleicht als despektierlich empfunden werde könnte. Er ist ja etymologisch mit dem des Patriarchats verwandt. Also jenen Verhältnissen der Väterherrschaft, die Karl Marx bereits 1848 im Kommunistischen Manifest durch die Bourgeoise und die kapitalistische Produktionsweise zerstört sah, [14] die aber seltsamerweise bis heute unerschütterlich von „linken“ Feministinnen bekämpft werden. Obwohl die „Maternalisten“ sich auch durch Verbotsforderungen gegen sexistische Werbung oder durch bevormundende Frauenquoten für Unternehmen und Institutionen hervortun, ist ihr Hauptkampfplatz die Sprache, der sie mythisch übersteigerte Kräfte zur Bewusstseinsformung zuschreiben, die sie für ihre „gute Sache“ nutzbar machen wollen. Also soll wahlweise mit Hilfe von Binnen-Is (MaternalistInnen), Gender-Gaps (Maternalist_innen), neutraler Form (geht bei diesem Beispiel irgendwie nicht) oder, besonders „progressiv“, weil alle möglichen sexuellen Identitäten inkludierend, mit Gender-Sternchen (Maternalist*innen) innerhalb der Schriftsprache für mehr Geschlechtersensibilität und Geschlechtergerechtigkeit gesorgt werden. Diese sehr unästhetische Form politisch-korrekter Sprachumerziehung setzt vor allem auf sozialen Druck und Konformitätszwang. Immer mehr Institutionen und Individuen praktizieren sie. Zu einiger Berühmtheit hat es dabei Ende letzten Jahres eine Initiative an der Uni Leipzig gebracht, in der Satzung das generische Maskulinum „Professor“ durch ein für Frauen und Männer gültiges gender-korrektes Femininum „Professorin“ zu ersetzen.
Neuer Paternalismus, altes Spiel
Keine Berücksichtigung in dieser ohnehin unvollständigen Liste fand eine relativ neue Spielart des Paternalismus, von dem wir aber in Zukunft noch viel hören dürften: der sogenannte „Libertäre Paternalismus“. Spätestens seitdem die Bild-Zeitung Ende August 2014 eine Stellenausschreibung des Bundeskanzleramtes im Netz entdeckte, aus der hervorgeht, dass im Stab für Politische Planung eine Projektgruppe mit dem unheilvollen Namen „wirksam regieren“ im Entstehen begriffen ist, die auf Grundlage „verhaltenswissenschaftlicher Evidenz“ nach „neuen politischen Lösungsansätzen“ sucht, ist die Diskussion auch hierzulande angekommen. Es geht um eine Variante des sanften Paternalismus, der auf einem Set von anwendungsorientierten Methoden und Grundnahmen über die menschliche Natur beruht, die auf Studien und theoretischen Überlegungen der Verhaltensökonomie fußen, und für die verschiedenste paternalistische Zwecke eingesetzt werden können. Die Begründer der Theorie, die US-Wissenschaftler Cass Sunstein und Richard Thaler, gehen davon aus, dass Menschen in der Regel zu irrational und affektgesteuert seien, um ihre eigenen langfristigen Interessen erkennen zu können. Aus diesem Grund sollten Experten sie bei ihren Entscheidungsprozessen unterstützen – sie sprechen von nudge, also auf Deutsch „anschubsen“. Entscheidungssituationen sollen so gestaltet werden, dass Individuen mit größerer Wahrscheinlichkeit die für sie „richtige“ Entscheidung treffen – etwa indem in einer Kantine Obst hervorgehobener präsentiert wird als Süßigkeiten. [15] Der Haken an der Sache: Selbstverständlich sind es die Experten, die vordefinieren, was als „richtig“ zu gelten hat, und nicht die betroffenen Individuen. Ebenfalls problematisch ist, dass viele Nudger nicht den Anspruch haben, Menschen rational anzusprechen und überzeugen zu wollen, sondern oft gerade menschliche Schwächen für ein vorgeblich richtiges Ziel ausnutzen wollen – also mehr oder weniger unverhohlen auf Manipulation setzen.
Mit seiner Betonung längst bekannter menschlicher Schwächen und der Forderungen an die Politik, genau darauf zu setzen, um Individuen mit Hilfe psychologischer Tricks in Richtung bestimmter Entscheidungen zu lenken, knüpft der libertäre Paternalismus an andere weitere oben beschriebene, subtilere Formen der Bevormundung an. Die heutigen Paternalisten – staatlich oder nichtstaatlich – betrachten die Menschen nicht als souveräne Entscheider über ihr eigenes Leben, sondern als Verwaltungsmasse einer „aufgeklärten“ Elite, die sich anmaßen darf, besser zu wissen, was gut für die Menschen ist, als diese selbst. So tragen sie dazu bei, auf gesellschaftlicher Ebene den Wert von Freiheit und Autonomie zu unterhöhlen. Politisch verkehrt sich so der Gedanke der demokratischen Repräsentation in sein krasses Gegenteil. Die Regierenden verstehen sich nicht mehr als Repräsentanten der Bürgerinteressen, sondern möchten die Menschen nach ihren Vorstellungen eines „gesunden“, „nachhaltigen“ und „bewussten“ Lebens umformen. Wir sollten uns das nicht bieten lassen und darauf beharren, dass wir selbst am besten wissen, was gut für uns ist. Wie hat es der Philosoph John Stuart Mill so prägnant auf den Punkt gebracht: „Wenn jemand ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand und Erfahrung besitzt, so ist seine eigene Art sich das Leben einzurichten die Beste, nicht weil sie an sich die Beste, sondern weil sie seine Eigene ist.“ [16]
Johannes Richardt ist Redaktionsleiter der Zeitschrift NovoArgumente in der dieser Artikel zuerst erschien.
Anmerkungen:
13 Alexander Neubacher: „Brüssels trübes Menschenbild“ in: Spiegel Online, 01.09.2014.
14 Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“.
15 Vgl. Richard H. Thaler / Cass R. Sunstein: Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Ullstein 2009.
16 John Stuart Mill: Über die Freiheit, 1859. Kapitel 3: „Über Individualität als eins der Elemente der Wohlfahrt“.