Gerald Wolf, Gastautor / 05.01.2017 / 11:46 / Foto: Micha L. Rieser / 5 / Seite ausdrucken

Partialfaktisch. Eine Mathematik für die Gegenwart

Von Gerald Wolf.

1. Norden = kalt

Süden = heiß

2.Sommer = warm + die Sonne scheint und lädt zum Bade

Winter = kalt + Schnee + lädt zum Rodeln

3. Obst = Äpfel + Birnen

4. Das Alter = Erntezeit

5. Geschlecht und Geschlechtsrolle = gesellschaftlich konstruiert

6. Islam = friedliche Religion

Christentum = friedliche Religion

7. Menschen, die aus dem Süden zu uns kommen = Fachkräfte = Geschenk

8. links = gut

rechts = schlecht

nationalkonservativ = nationalistisch + populistisch + rückwärtsgewandt

9. EU + Euro + Eurorettung + offene Grenzen = gut

Brexit = schlecht

Dexit = schlecht

Trump = schlecht.

9 Gleichungen und 1 Fehler

Die Aussagen 1 – 9 enthalten Fakten oder mögen solche enthalten, aber das jeweilige Gleichheitszeichen ist falsch, so falsch wie in:

4 + 3 = 5.

Richtig (= wahr) hingegen ist:

4 + 3 – 2 = 5

Ebenso:

4 + 3 ≠ 5

Zur Theoriebildung nicht geeignet

Symbolhaft wird hier das Problem umrissen, das die Politik und ihre Medien haben, wenn sie in ihren Erläuterungen und Begründungen anstelle eines „≠“-Zeichens ein „=“ setzen. Bei denjenigen, die schon länger hier ... leben (= Volk?; ≠ Volk?) mögen sie dadurch auf Skepsis stoßen, ja auf Ablehnung. Gern und immer erneut werfen ... sich die Politiker dann vor, das von ihnen gesetzte Gleichheitszeichen nicht genügend erklärt zu haben. Wiewohl sie tagein, tagaus genau das tun, nämlich erklären. Jedoch wissen nicht nur diejenigen, die schon länger hier leben, sondern auch viele, die erst seit Kurzem bei uns sind oder solche, die vom Ausland her auf Deutschland schauen, dass bei politischen Aussagen anstelle eines „=“ sehr oft ein „≠“ stehen müsste. Erst dadurch würde dem partiell Faktischen ein Bestandsrecht im Bereich der Tatsachen gegeben.

Zwar mag das Partialfaktische durchaus auf Fakten fußen, es ist aber wegen der ihm eigenen Unvollständigkeit für die Theorienbildung nicht hinreichend, und ebenso nicht für praktische Ableitungen. Wer sich mit dem Partialfaktischen begnügt, geht das Risiko ein, Fehlentscheidungen zu treffen. Die Unvollständigkeit partialfaktischer Aussagen und Begründungen kann auf ungenügenden Kenntnissen beruhen und auf entsprechend limitierten Vorhersagemöglichkeiten, dürfte allerdings oft auch Bestandteil des methodischen Rüstzeugs sein, mit dem Politik gemacht werden soll. Und gehört damit in den Bereich der Lüge. Der üblich gewordene Begriff „postfaktisch“ hingegen ist blanker Unsinn, der zu Diffamierungszwecken von den auf der Basis von partieller Faktizität Agierenden erfunden wurde. Oder von einem Spaßvogel.

Professor Gerald Wolf ist Hirnforscher und emeritierter Institutsdirektor. Er widmet sich in seinen Vorträgen und Publikationen und regelmäßig im Fernsehen (MDR um 11, Sendung „GeistReich“) dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern hat er auch drei Wissenschaftsromane veröffentlicht.

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Leserpost

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Wolfgang Kaufmann / 05.01.2017

Viele dieser Aussagen repräsentieren reines Wunschdenken. „Wir haben keine Angst“ ist oft keine Aufgabe für den Mathematiker, sondern für einen Psychologen, der die Dialektik des Satzes ergründet. Manchmal lautet die Analyse: „Ich habe Angst, aber mit den Folgen komme ich nicht klar.“ Aber wir schaffen das…

Andreas Rochow / 05.01.2017

Postfaktisch = Unsinn. Endlich sagt das mal einer, vielen Dank! Wir warten noch auf das zu kürende Unwort des Jahres 2016. Postfaktisch hat eine Chance auf diesen Ehrentitel. Es ist klug, “partialfaktisch” dagegen zu halten; so wird berücksichtigt, dass nicht alles falsch oder alles richtig sein muss. Als politisches Instrument sollte man sich einmal “Präfaktisch” anschauen. Ein Ausdruck des Vorauseilens, der manipulativen Prophezeiung, des Wunschdenkens, der positiven, guten Ungeduld, die Verkündung ungewisser Gewissheiten wie: Alles ist gut. Alles wird gut. Nie ging es uns so gut. Die Löhne steigen schneller als die Preise. Selbstverbrennung durch menschgemachte Erderwärmung. Es gibt keine Altersarmut. Die Renten sind sicher. Niemand wird etwas weggenommen. Trump hat keine Chance, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Wir brauchen mehr EU. Eine Grenze kann man nicht sichern. Wir schaffen das. Präfaktische Aussagen ohne Ende!

Rolf Tiede / 05.01.2017

Sehr geehrter Herr Wolf, bitte forschen Sie doch einmal in den Heiligen Texten des Christentums nach Aussagen, die die Feststellung, es handele sich um eine friedliche Religion, infrage stellen. Ich fürchte, Sie werden keine einzige von hinreichender Klarheit finden, aber unendlich viele, die diese Behauptung stützen. Dass das Christentum in seiner Geschichte von fehlbaren Menschen zur Rechtfertigung von bösen Handlungen missbraucht (“instrumentalisiert”) wurde, steht auf einem anderen Blatt - dies aber hat es mit nahezu allen bedeutenden geistig-gesellschaftlichen Strömungen gemein. Der Islam im Gegensatz dazu ist eine genuin gewalttätige Religion, die ihre Anhänger nicht pervertieren müssen, um die schlimmsten Scheußlichkeiten zu begehen: Allah und sein Gesandter fordern die Gläubigen in unzähligen Koranversen und Hadithen zum Hass und zum Terror gegen Nichtmuslime auf. Also: Christentum friedlich? Grundsätzlich ja! Islam friedlich? Im Gegenteil! Schöne Grüße Ihr R. Tiede

Helge-Rainer Decke / 05.01.2017

Beeindruckt schulde ich Ihren umfänglichen Feststellungen und Bemerkungen zum Prozessproblem komplex dynamischer Befindlichkeiten über das Partialfaktische, eine adäquate Replik. Was bereits Diogenes erkannte und es in seine Tonne ritzte, liegt in der horizontalen Transzendenz erogener Zonen, vertikaler demoskopischer Strukturen verborgen, die sich metaphorisch immer dann verknüpfen, sobald kognitive Dissonanzen Aristoteles noli turbare circulos meos missachtend, auf Segmente post kryptischer Dominanten hegelscher Dialektik stoßen, die begrifflich auf der erhöhten vierten Stufe in Sekundstellung, mit der Kunst der Fuge Bachs den Limes egleichcmalmquadrat im zeitlos Unendlichen sich vereinten, wenn nicht das Postfaktische, Fakten schüfe.

Dr. med. Jesko Matthes / 05.01.2017

Glänzend!!!

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