Fred Viebahn / 26.08.2010 / 05:44 / 0 / Seite ausdrucken

Only in America

Wir haben Besuch von Kathy und Max, einem Ehepaar aus Ohio; meine Frau drückte mit den beiden in längst entfleuchter Jugend die High School-Bank. Drei Wochen lang sind sie auf Ferienfahrt durch die Südstaaten gewesen; jetzt, am vorletzten Tag ihrer Heimreise, machen sie Halt bei uns in Virginia. Während wir mit ihnen in Charlottesvilles südafrikanischem Restaurant Shebeen sitzen und uns bei Wein aus Stellenbosch über Burenwürste und Zulusteaks hermachen, schildern sie ihre Erlebnisse. Zwar kennen wir die meisten Orte und touristischen Attraktionen, die sie besucht haben, aus eigener Anschauung, können mit den beiden jedoch nicht mithalten, wenn es ums Schmausen geht. Wo wir bei unseren Road Trips selten Risiken eingehen und uns meist mit vertrauten Kettenrestaurants wie Applebee’s, Bonefish Grill oder Texas Roadhouse zufrieden geben, erleben Kathy und Max gern kulinarische Abenteuer; die seien, sagen sie, im Google-Zeitalter weniger riskant als früher, da man heutzutage, bevor man bei einer Lokalgaststätte über die Schwelle tritt, im iPhone fix die Speisekarte und Kundenkritiken überfliegen kann. So stießen sie zum Mittagessen in der Nähe der Tabakmetropole Winston-Salem in North Carolina aufs “Snappy Lunch”, “Home of the Famous Pork Chop Sandwich”, und kriegen sich immer noch kaum ein vor lauter Begeisterung über das saftige Ferkelfleisch.

“Das war einer meiner ‘Max ißt Schwein’-Tage”, sagt Max.

“Ja,” setzt Kathy hinzu, “früher hat er Schweinefleisch gegessen, ohne weiter darüber nachzudenken, aber seit sein Bruder religiös geworden ist, beißt er richtig trotzig rein, als wollte er ihm damit eins auswischen.”

“Ich muß unsere säkularjüdische Familientradition verteidigen”, sagt Max.

“Deine Eltern haben auch kein Schweinefleisch gegessen”, sagt Kathy.

“Das war Gewohnheit.” Max verzieht das Gesicht. “Aber gläubig waren wir nicht. Und dann wird mein Bruder auf seine alten Tage ein ‘born again Jew’ und rennt ausgerechnet in die orthodoxe Synagoge. Ich kann’s nicht fassen.”

“Laß ihn”, sagt Kathy. “Er tut dir doch nichts.”

“Du hast gut reden”, sagt Max, “du spirituelle Ex-Katholikin.”

“Wißt ihr”, sagt Kathy, jetzt will sie wohl ablenken, bevor ihr Mann eine Tirade gegen organisierte Ismen losläßt, “in Winston-Salem haben wir auch das Grab von Eng und Chang besucht. Schon irre. Sie sind dort gemeinsam mit ihren Frauen begraben.”

Eng und Chang? Ich hab keine Ahnung, wovon die Rede ist, aber bevor ich nachfragen kann, läßt Rita, meine Frau, vom Schnitzelschnetzeln. “Wow”, ruft sie, “wie habt ihr das denn entdeckt?”

“Im Internet”, sagt Max, der nicht lange den Mund halten kann.

Ich komme mir vor wie’n Ochs vorm Berg. “Hab keine Ahnung…” sage ich, doch bevor ich fragen kann, wovon die Rede ist, fährt Max fort: “Ich kapier immer noch nicht, wie die’s getrieben haben. Muß man sich mal vorstellen.”

“Sind sie nicht am selben Tag gestorben?” fragt Rita.

“Blieb ihnen wohl nichts anderes übrig”, sagt Max und kichert ein bißchen.

“Eigentlich nicht zum Lachen”, sagt Kathy.

Max,  der mir gegenüber sitzt, sieht mich forschend an. “Er hat keine Ahnung”, sagt er zu den beiden Frauen.

“Du hast keine Ahnung?” fragt Rita. “Wirklich? Na, die berühmten siamesischen Zwillinge, Eng und Chang, die ersten, daher kommt der Ausdruck.”

“Ach so…” Mir geht langsam ein Licht auf. “Waren die nicht beim Zirkus? Warum sind sie in North Carolina begraben?”

“Eine verrückte Geschichte”, sagt Kathy und verfällt in eine Art Reiseführerton. “Sie stammten tatsächlich aus Siam, dem modernen Thailand. 1811 geboren. Am Brustbein zusammengewachsen.”

“Beim heutigen Stand der Medizin würde man sie chirurgisch mit Leichtigkeit trennen können”, wirft Max ein.

“Aber nicht im 19. Jahrhundert”, fährt Kathy fort. “1829 entdeckte ein schottischer Händler die Jungs, da hatten sie in Siam schon eine gewisse Berühmtheit erlangt, und stellte sie als Kuriosität in England aus, bevor er sie auf eine Amerikatour verfrachtete. In New York übernahm sie P. T. Barnum für seine ‘Greatest Show on Earth’. Aber groß ausbeuten ließen sie sich nicht, sie waren geschäftstüchtig und verdienten sich bald goldene Nasen. 1839, als ihr Wanderzirkus nach North Carolina kam, wurden sie des Rummels überdrüssig und quittierten das Showgeschäft. Sie investierten in eine ziemlich große Farm, komplett mit Sklaven, nahmen den Nachnamen Bunker an und wurden U.S.-Bürger.”

“Und dann heirateten sie zwei Schwestern”, sagt Max. “Unglaublich. Sie zeugten über zwanzig Kinder.”

“Ob wohl alle vier zusammen in einem Bett?” wundere ich mich und will mir das Gerangel lieber nicht vorstellen.

“Wie sonst?” sagt Rita.

“Weiß keiner genau”, sagt Kathy, “aber die Schwestern wohnten jede in ihrem eigenen Haus, während Eng und Chang alle drei Tage tauschten.”

“Will ich das genau wissen?” fragt Rita.

“Und das Verrückteste”, sagt Max und macht eine bedeutungsvolle Pause. “Hab ich zufällig im Internet gelesen.”

“Noch verrückter?” frage ich.

“Ratet mal, wer im November bei den Gouverneurswahlen von Florida für die Demokraten antritt?”

“Siamesische Zwillinge?” frage ich im Scherz.

“Muß mich das interessieren?” wundert sich Rita.

“Alex Sink, die höchste Finanzbeamtin von Florida”, sagt Max und verstummt, um sich gemächlich sein letztes Stück Steak zwischen die Zähne zu schieben.

“Na und?”

Max kaut und läßt sich Zeit, bevor er seine Bombe fallen läßt: “Alex Sink ist eine Urenkelin der siamesischen Zwillinge.”

“Von Eng oder Chang?” fragt Kathy; wir kriegen uns erst wieder ein vor Lachen, als die Kellnerin mit der Dessertkarte erscheint.

“Nur in Amerika”, sage ich.

“Nur in Amerika”, sagt Kathy und stößt Max ihren Ellbogen in die Rippen. “Erzähl den beiden mal, was du am Tag vor unserer Abreise aus Ohio gemacht hast.”

“Ihr werdet es nicht glauben”, sagt Max.

“Die beste Freundin meiner Tochter wollte heiraten”, sagt Kathy. “Ihre Mutter ist früh gestorben, und sie ist praktisch bei uns aufgewachsen.”

“Da kommt sie mit ihrem Verlobten zu mir”, sagt Max, “und sagt, Max, wir möchten, daß du unsere Trauung vornimmst.”

“Dazu brauchst du doch eine Lizenz”, werfe ich ein, “und die kriegen nur Priester und Pastöre und Rabbiner und Imame und Bürgermeister und Friedensrichter, oder?”

“Genau”, sagt Max. “Aber wie du weißt, wird in diesem Land Religionsfreiheit sehr ernst genommen, da hat der Staat nicht viel zu quaken. Also hab ich ins Internet geguckt und mir die Kirche rausgesucht, die mir für diesen Zweck am besten paßte.”

“Kirche?” staunt Rita. “Du bist konvertiert?”

“Was heißt konvertiert”, sagt Max. “Ich bin einfach offiziell anerkannter Pfarrer der Universal Life Church geworden.”

“The Right Reverend Rabbi Max”, lacht Kathy.

“Nee nee”, protestiert Max. “Nix Rabbi. Das ging mir denn doch zu weit.”

“Sein Bruder hätte sich in die Hose gemacht”, sagt Kathy.

“Hat mit meinem Bruder nichts zu tun.” Max schüttelt den Kopf. “Mehr mit meiner Identität. Ich bin Jude, aber ungläubig. Oder, sagen wir mal, ich bin ungläubig, aber Jude. Da will ich kein Rabbiner sein, auch nicht sozusagen zum Jux, denn das mit dem Verheiraten war doch völliger Ernst.”

“Aber Pfarrer zum Jux war o.k.?” fragt Rita.

“Mit dem Christentum verbindet mich emotional absolut nichts”, sagt Max.

“Das nenne ich Dialektik”, sage ich. “Trotzdem, ich kapier’s immer noch nicht ganz. Wie lief das denn mit der Ordinierung?”

“Alles im Internet zu haben, einschließlich staatlich anerkannter Lizenz. Kannst du auch machen, wenn sich jemand von dir verheiraten lassen möchte. Das glückliche Paar muß nur mindestens eine Woche vorher bei der entsprechenden Verwaltungsbehörde die Heiratsurkunde beantragen, aber das muß ja jeder, der heiraten will, egal ob in Kirche oder Synagoge oder Moschee oder beim Friedensrichter.”

“Oder wie unsere Freunde im Garten ihres eigenen Hauses”, wirft Kathy ein.

“Yep”, sagt Max. “Swimmingpool wär auch cool gewesen, haben die beiden aber keinen. Mit deiner Lizenz darfst du dann die Zeremonie durchführen mit dem üblichen Ehegelöbnis, dich dabei auf Gott berufen oder auch nicht, und die Urkunde kraft deines Amtes unterschreiben. Bang!”

“Moment mal”, sagt Rita. “Ist euer glückliches Paar christlich, jüdisch, gemischt, oder wie?”

“Agnostisch”, sagt Kathy. “Und spirituell. Wie ich.”

Ich hebe mein Weinglas: “Na dann—L’chaim!”

“L’chaim”, stimmen Rita und Kathy ein.

“Cheers”, ruft Max. Und die Welt ist wieder im Lot.

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