Egon Flaig, Gastautor / 13.12.2017 / 14:50 / Foto: Jean Housen / 3 / Seite ausdrucken

Ohne kulturelle Dankbarkeit keine Demokratie

Von Egon Flaig.

„Die westlichen Gesellschaften sind absolut zersetzt. Es gibt keinen Blick auf die Gesamtheit mehr, der es erlaubt, Politik zu betreiben... Die westlichen Gemeinschaften sind praktisch keine Staaten mehr... Sie sind einfach Anhäufungen von Lobbys, ... in denen jeder jede seinen Interessen zuwiderlaufende Aktion verhindern kann.“

So diagnostizierte Cornelius Castoriadis 1981 in der Zeitung "Libération" die Entkräftung der institutionalisierten Entscheidungsfähigkeit. Das Endstadium eines Pluralismus, in dem die sozialen Sektoren nur noch ihre partikularen Interessen verfolgen und nicht mehr willens sind, sich einem Gemeinwohl unterzuordnen, mündet in die Unfähigkeit der Regierungen, politische Entscheidungen gegen soziale Sektoren durchzusetzen.

So verliert das Politische seine Autonomie; und das Motto des republikanischen Pluralismus – e pluribus unum: aus Vielfältigem eine Einheit zu machen – wird sinnlos. Was Castoriadis vor 36 Jahren noch nicht bemerken konnte, ist, dass die Gesellschaft sich noch weiter fragmentieren könnte, nämlich in Parallelgesellschaften, die auf demselben staatlichen Territorium einander fremd bleiben und sich nicht in eine gemeinsame politische Kultur integrieren. Zu überlegen, was diese Fragmentierung für die Zukunft der Demokratie bedeutet, das fällt uns zu.

Die europäischen Demokratien zerbröckeln, weil der Demos – die Bürgerschaft – zerfällt in kulturell verfeindete Parallelgesellschaften. Deren Bewohner sträuben sich – in einem erschreckend hohen Prozentsatz – gegen die Zumutung, sich integrieren zu sollen in ein Volk von partizipierenden Bürgern. Diese Integrationsunwilligen glauben, dass sie der westlichen Kultur nichts verdanken. Schlimmer noch: Diesem Glauben verfällt ein immer weiter wachsender Anteil des Staatsvolkes selber. Wenn diese Undankbarkeit ansteigt, dann verlieren wir Europäer drei Dinge, nämlich die Wissenschaft, die Demokratie und die Menschenrechte. Bleiben wir bei der Demokratie.

Demokratien sind Gemeinschaften. Gesellschaften beruhen auf dem Tausch, Gemeinschaften auf dem Opfer. Wären wir bloß Mitglieder der Gesellschaft, dann wären wir geschäftliche Partner ohne weitere Pflichten gegenüber den anderen. Gemeinschaften hingegen werden zusammengehalten zum einen von gemeinsamen Normen, zum anderen vom Bewusstsein einer Zusammengehörigkeit, das ihre Mitglieder dazu befähigt, füreinander einzustehen auch ohne Entlohnung, und eventuell das Äußerste für diese Zusammengehörigkeit zu geben.

Was den Bürger vom Untertan unterscheidet 

Republikanische Gemeinschaften verlangen noch mehr: Sie muten ihren Mitgliedern zu, aktiv an den Entscheidungen des Gemeinwesens zu partizipieren; das macht den Bürger aus, das unterscheidet ihn vom freien Untertan. Indes, das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit benötigt einen intensiven Bezug zur eigenen Vergangenheit. Da nirgendwo die Menschen als Erwachsene geboren werden, fungieren die Generationen als Scharnier zwischen der biologischen Reproduktion eines jeden Staates und der Sterblichkeit seiner Individuen. Jede Kultur verwirklicht sich durch die Kommunikation und die Interaktion zwischen den Generationen. Der kulturelle Reichtum stellt sich dar als ungeheure Ansammlung von Artefakten und Institutionen.

Dieses Kapital ist geronnene Arbeit und Mühe, ist objektivierte Tätigkeit, akkumuliert mittels der Tradition, d. h. der Weitergabe von Errungenschaften, von Fertigkeiten und Wissen – von einer Generation an die andere. Dieser intergenerationelle Transfer übertrifft den Transfer zwischen Kulturen um ein Vielfaches. Immanuel Kant ließ keinen Zweifel daran, was das bedeutet: „Dankbarkeit ist Pflicht (...) Was die Extension dieser Dankbarkeit angeht, so geht sie nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren, selbst diejenigen, die man nicht mit Gewissheit namhaft machen kann.“ Daraus deduzierte Friedrich Schiller die Pflicht, uns verpflichtet zu fühlen gegenüber der Nachwelt, weil die Dankesschuld gegenüber den Vorfahren sich nur so überhaupt abstatten lasse.

Der Grund, dankbar zu sein, lässt sich nicht wegdiskutieren, da er in Gestalt tausendfacher Errungenschaften vor unseren Augen steht. Von den vielen Besonderheiten der westlichen Kultur sind einige für unsere heutige Orientierung besonders relevant. Davon sei verwiesen auf drei, die nun in akute Gefahr geraten: Einzig die europäische Kultur hat bereits in der griechischen Antike institutionalisierte Republiken und Demokratien hervorgebracht und hat im Mittelalter erneut zu republikanischen Ordnungen gefunden. Ferner war sie die einzige, die in schwersten Kämpfen weltweit die Sklaverei abgeschafft hat und dabei die Menschenrechte formulierte. Und schließlich entwickelte sie als erste – in der griechischen Klassik – wissenschaftliches Denken und Wissenschaften. Dieser Kultur verdanken wir einen enormen rechtlichen Universalismus und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Genauer: All das verdanken wir den Generationen vor uns.

Alle jene Errungenschaften wurden teuer errungen, und wir können sie rasch wieder verlieren. Doch genau diese Verlierbarkeit ist aus den Diskursen zur kulturellen Selbstbesinnung entwichen. Der naiv gewordene Großteil der medialen und politischen Eliten hat sie längst aus dem Auge verloren, und auch eine zunehmende Quote der akademischen Elite bedenkt nicht mehr, dass wir alle Errungenschaften verlieren können. Falls es soweit käme, dass man sie für fraglose Gegebenheiten hielte, dann mutierten wir zu amnestischen Troglodyten, die als Parasiten durch die Geschichte stolpern.

Wenn Dankbarkeit in Ablehnung umschlägt 

Eben das droht der westlichen Welt. Die Undankbarkeit – so betitelte 1999 Alain Finkielkraut ein Werk, in welchem er über das Verhältnis von kulturellem Erbe und republikanischer Tradition nachsinnt; seine Gedanken ähneln jenen, die während des ‚Historikerstreits’ 1986/1987 gegen Habermas vorgebracht wurden: Wenn die westliche Memorialkultur überwiegend Verbrechen erinnert, dann wird der Bezug auf die kollektive Vergangenheit negativ, und dann entschwindet die Dankbarkeit gegenüber jeglicher vorangegangenen Generation und verkehrt sich in Ablehnung. Geschieht das, dann kommt der Gegenwart die Orientierung abhanden, und sie findet nur noch Halt in einem Hypermoralismus, der selber keine Maßstäbe mehr hat.

Ein Blick auf die Universitäten und die Schulen bestätigt diese Diagnose. Just eine sich „kritisch" wähnende Strömung in den Kulturwissenschaften und die ihr folgende schulische Erziehung ist versessen darauf, angebliches „historisches Unrecht“ aufzuarbeiten und daran zu „erinnern“. Die Lehrpläne in den geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fächern sind dazu übergegangen, die betreffenden Themen – die Epochen mit ihren spezifischen moralischen und politischen Vorstellungen – herauszureißen aus ihrem diachronen Wirkungszusammenhang, um über sie zu richten nach den heutigen Maßstäben von Gut und Böse. Die Gegenstände werden also enthistorisiert, um sie rückhaltlos zu moralisieren.

So lassen sich sämtliche Hochkulturen der bisherigen Geschichte abqualifizieren als sklavistische Systeme, als sexistische und xenophobe Ordnungen. Schülern und Studenten wird ein Bewusstsein moralischer Überlegenheit anerzogen, das von aller Pflicht, die geistigen Schätze jener Epochen zu pflegen, dispensiert und alle Neugier auf dieselben unter Verdacht stellt. Letztlich sind dies die Fernwirkungen des „Antikolonialismus", also jener Ideologie der Neuen Linken seit den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts, welche den chinesischen, persischen, türkischen und vor allem den arabischen Kolonialismus leugnete, um einzig und allein die europäische Expansion seit dem Ende des 15. Jahrhunderts als „Kolonialismus" zu bezeichnen.

Die Neue Linke schuf ein radikal neues Bild der Weltgeschichte: Alles Übel der Welt begann mit der europäischen Expansion, und alle Erlösung hängt ab vom Sieg der Völker der Dritten Welt über den westlichen Kolonialismus und Imperialismus. Als dieses antiimperialistische Geschichtsbild die kulturelle Hegemonie gewann, etwa ab der Mitte der 70-er Jahre, kamen zwei historische Leugungen auf. Die erste Leugnung betrifft den Rassismus, die zweite die Sklaverei und ihre Abschaffung. Die antikolonialistische Ideologie hat den klassischen Rassismus zum europäischen Produkt gestempelt. Aber wo entstand der hautfarbliche Rassismus? Er existierte nicht bei den Griechen, nicht bei den Römern, nicht im europäischen Mittelalter. Er entstammt der arabischen Kultur.

Die Abschaffung der Sklaverei

Bernard Lewis und David Goldenberg haben diesen Ursprung dokumentiert. Die arabischen Geographen erblickten im heißen und im kalten Klima die Ursache, warum nur die „Braunen" vollwertige Menschen würden, wohingegen die Weißen im Norden und die Schwarzen im Süden zu Untermenschen gerieten. Erst fünf Jahrhunderte später gelangte dieser Rassismus zu den Europäern, was auf die vielen Übersetzungen von Avicennas medizinischen Schriften zurückzuführen ist. Ein hautfarblicher Rassismus fasste in Europa erst Fuß, als im Laufe des 17. Jahrhunderts die von Westeuropäern betriebene Sklaverei fast gänzlich schwarz wurde. Die Historiker könnten die Quellen nachprüfen; sie sind alle übersetzt. Trotzdem setzt sich in der jüngeren Historikergeneration das Dogma fest, der Rassismus sei ein europäisches Produkt.

Die zweite Leugnung betrifft die Abschaffung der Sklaverei. Wie Orlando Patterson nachgewiesen hat, waren alle Hochkulturen sklavistisch – und sogar eine stattliche Anzahl von vorstaatlichen Gesellschaften. Dass wir in einer sklavenfreien Gesellschaft leben, ist mitnichten selbstverständlich. Dieses Privileg verdanken wir der politischen Zerschlagung der sklavistischen Systeme im 19. Jahrhundert, durchgeführt vor allem von den Briten und später den Franzosen, bewerkstelligt mit Blockaden der westafrikanischen Küste und schließlich mit direkten Interventionen auf dem afrikanischen Kontinent, um die unaufhörlichen Versklavungskriege zu stoppen, was letztlich bedeutete, den Kontinent unter Protektorat zu stellen.

Dieser Kampf für die Abolition der Sklaverei ist ein einzigartiges welthistorisches Phänomen. Die Diskussionen mit ihren ergreifenden Texten gehören zu den maßgeblichen Quellen für die Entstehung der Menschenrechte. In sämtlichen anderen Hochkulturen der Welt fehlt jegliche Spur einer solchen Diskussion. In der islamischen Welt existiert bis heute keine einzige Fatwa, die grundsätzlich die Sklaverei untersagt, stattdessen gilt Sklaverei als vorläufig nicht praktizierbar. All das ist wissenschaftlich gesichert. Doch die Neue Linke hat diese beiden historischen Tatsachen geleugnet. Und diese Leugnung setzt sich heute fort in den postcolonial studies, deren Ideologeme die kulturwissenschaftlichen Zweige der westlichen Universitäten verpesten.

Unter dem Deckmantel der „Kritik” wird – ganz antikantianisch – eine glaubensgestützte Gesinnung planmäßig hergestellt, eine Anmaßung, über Vergangenheiten richten zu dürfen und sie verurteilen zu können – und das mittels offenherziger Verfälschung von historischen Tatsachen, also mit regelrechter fake history. So lassen sich enorme Schuldverhältnisse zwischen den synchron existierenden Kulturen postulieren. Und so lässt sich die Erinnerung daran, dass man den vergangenen Generationen etwas schulde, zurückweisen als arglistige Zumutung.

Die Generation der Destruktiven kommt wieder

Das fordert freilich seinen Preis: Wird die junge Generation herausgelöst aus ihren intergenerationellen Verpflichtungen, dann ist sie der enormen Gewalt der Momentaneität wehrlos ausgeliefert, denn es kippen jene normativen und semantischen Leitplanken, die uns orientieren und davor bewahren, den lächerlichsten Imperativen zu gehorchen und jedweden moralischen Konjunkturen anheimzufallen. Was der Philosoph Michael Großheim das Zusammenschnurren des Zeithorizontes nannte, das äußert sich in der politischen Kultur als geistige Eindimensionalität, die auf der einen Seite unter Aufklärung jenes Abräumen versteht, mit dem die Generation der Destruktiven nach dem 1. Weltkrieg sich so fatal brüstete, und auf der anderen Seite sich nicht zurückhält, die Gesellschaft mit wellenmäßig hochschwappenden Ansprüchen zu überfluten.

Unsere öffentliche Kultur leidet unter einer Verfemung der Dankbarkeit in fast allen kulturellen Hinsichten. Anspruchsberechtigte sind prinzipiell undankbar, und die gesamte mediale Welt – in gleichschrittiger Eintracht mit fast sämtlichen NGOs – ist darauf programmiert, Ansprüche ins Absurde weiterzutreiben oder immer neue zu erfinden. Freilich ist die Haltung „Ich schulde nichts, daher muss ich nichts rückerstatten" für jede Kultur selbstmörderisch, für eine politische Gemeinschaft sowieso. Es sollten daher die Aussprüche alarmieren, welche die Existenz von nationalen Kulturen überhaupt abstreiten.

Als der nachmalige französische Präsident Macron am 5. Februar 2017 in Lyon verlautbarte „Es gibt keine französische Kultur. Es gibt eine Kultur in Frankreich; sie ist divers“, negierte der mit einer Arbeit über Hegel diplomierte Philosoph just jene Kultur, die in Europa lange Zeit zurecht den Ruf genossen hat, die „Kultur" schlechthin zu sein. Wer sich noch gebildet nennen darf, wird eingestehen, dass die abendländischen Gemeinsamkeiten der Menschen unseres Kulturkreises um ein Vielfaches größer und intensiver sind als die nationalen Besonderheiten, denn die nationalen Kulturen ruhen auf einem gewaltigen abendländischen geistigen Sockel. Dass es jedoch kulturelle Besonderheiten gibt und dass sie liebevoll gepflegt werden – im alltäglichen Umgang ebenso wie in der Literatur, in der Musik, in Theatern und Zeitschriften –, kann nur leugnen, wer entweder bar aller Bildung ist oder aber sich fanatisch ideologisiert.

Das unterscheidet den französischen Präsidenten von der sozialdemokratischen Integrationsbeauftragten Aydan Özoguz. Wenn diese behauptet, es gebe keine spezifische deutsche Kultur, dann hat sie nicht bloß vergessen, welcher Menge von deutschen Gegebenheiten sie verdankt, dass sie so leben darf, wie sie lebt, sondern sie offenbart damit, in welchem Grade sie sich geweigert hat, ein kulturbedingtes Wertesystem persönlich und bewusst anzunehmen. Wenn es keine deutsche Kultur gibt, dann besteht auch keine Pflicht für den Immigranten, sich in eine solche Kultur zu integrieren. Daher konnte sie verlangen, in Deutschland Kinderehen und Zwangsverheiratungen zu legalisieren.  

Macron schafft die Idee der Dankbarkeit ab 

Dennoch ist, was die bildungslose Barbarin von sich gibt, weniger bedrohlich als das Anathema eines Intellektuellen, der dem Philosophen Paul Ricoeur zwei Jahre lang dabei assistierte, just dessen Buch „La mémoire, l’ histoire, l’ oubli“ herauszugeben. Die Existenz der französichen Kultur dementierend propagiert Macron jene globalistische Ideologie, welche die Menschen reduziert auf ihre bloße Eigenschaft, Arbeitskräfte zu sein. Solche rein ökonomisch motivierte Wesen ohne kulturelle Imprägnierung sollen sich über den Planeten ebenso ungehindert bewegen wie die Kapitalströme, weswegen staatliche Grenzen ein bösartiges Überbleibsel aus einer Welt des Abschottens seien. Und selbstverständlich ist dann – wie die Chefideologen des Globalismus behaupten – jedwede nationale Kultur eine illegitime Barriere, ausgrenzend und diskriminierend. Was eine „diverse’ Kultur" sein soll, das lässt dieser Diskurs der totalen Inklusion vorsichtshalber offen.

Freilich, der Intellektuelle Macron weiß so gut wie jeder Gebildete: Menschliche Kulturen – so lernen wir es von Herodot bis Lévi-Strauss – müssen Diversität radikal reduzieren, um überhaupt semantische Horizonte zu konstruieren und normative Orientierung zu gewährleisten. Mit dem selbstwidersprüchlichen Konzept „diverse Kultur" liquidiert Macron den Begriff der Kultur überhaupt. Doch just dieser Blindbegriff, sobald übersetzt in zirkulierende Diskurse zum politischen Gebrauch, erspart die doppelte Integration, ohne welche keine menschliche Kultur zu dauern imstande ist: Erstens die Integration der Fremden in unsere politische Kultur, zweitens die Integration der nachgeborenen Generationen in unser moralisches, ästhetisches, wissenschaftliches und politisches Wertesystem.

Macron, der kürzlich in Berlin verlautbarte, der ökonomische Zusammenhalt sei für das geeinte Europa die entscheidende Komponente, erhebt die Verweigerung von Dankbarkeit zur kulturpolitischen Maxime. Indes, die verweigerte Dankbarkeit destruiert die Grundlagen jeder Republik. Denn die kulturelle Vergangenheit ablehnen heisst das Gefühl der politischen Zugehörigkeit zum lästigen Unbehagen zu machen; damit verflüchtigt sich das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit rapide und mit ihm die Opferbereitschaft gegenüber dem Gemeinwesen. Die Menschen der Jetztzeit vermögen sich dann nicht mehr auf historische Haltepunkte zu beziehen.

Der Glaube, nichts zu verdanken, ist ein erstrangiges kulturelles Phänomen der Postmoderne. Er unterspült nicht nur das Wissen, sondern auch die Demokratie, weil er ein eindimensionales Bewusstsein erzeugt, das teils aus geklitterter Vergangenheit besteht, teils auf absolute Synchronie zusammengeschnurrt ist. Und ein solches Bewusstsein laugt den Zusammenhalt der Bürger aus, einen Zusammenhalt, auf den Demokratien existentiell angewiesen sind. Man kann die Demokratie nicht bewahren, wenn man nicht mehr weiß, auf welchen kulturellen Grundlagen sie aufruht. Und das Wissen darum wird zusammen mit der Dankbarkeit verschwinden, wenn unsere historische Erinnerung ersetzt wird von fake history.

Die Vorfahren, denen wir Dank schulden

Dankbarkeit gegenüber der kulturellen Vergangenheit ist kardinale Voraussetzung für ein hinreichendes zivisches Selbstverständnis, aus welchem unsere Demokratien sich nähren. Um Missverständnissen vorzubeugen: Diese Vergangenheit ist keine biologische, keine genealogische, sondern eine kulturelle. Der Liberale John Stuart Mill hat 1846 geschrieben, die Schlacht bei Marathon sei für die englische Geschichte wichtiger als die Schlacht von Hastings, in der die Normannen England eroberten. Stuart Mill zögerte nicht, den Sieg der Athener über die Perser 490 v. Chr. für ein „Ereignis der englischen Geschichte" zu nehmen. Warum? Weil jene kleine griechische Polis, die sich damals gegen ein asiatisches Weltreich wehrte, die Demokratie zur Vollendung brachte und die Idee der politischen Freiheit weiterreichte an die ganze Nachwelt.

Die politische Ideenwelt der Griechen diente zum geistigen Bezugspunkt, als im abendländischen Mittelalter selbstverwaltete Stadtkommunen entstanden und auch, als die englische politische Ordnung sich republikanisierte. Die kulturellen Vorfahren – das lernen wir von Stuart Mill – sind nicht die biologischen. Es sind die Vorfahren, denen wir Dank schulden, weil sie uns Errungenschaften hinterließen, die für unsere kulturelle Identität entscheidend sind. Und wenn es der Geschichtskultur in den Bildungsanstalten nicht gelingt, eine Dankbarkeit gegenüber den historischen Errungenschaften zu erzeugen, dann wird ein politisch geeintes Europa nicht entstehen. Denn niemals entsteht eine politische Zusammengehörigkeit durch die ökonomischen Interessen, sondern immer nur durch gemeinsame Werte und Bezüge auf eine gemeinsame Geschichte, an denen man Halt findet und für die man dankbar ist.

Vielleicht benötigen wir eine politische Philosophie der Dankbarkeit. Entstünde eine solche, dann gründete sie auf dem verstörenden Satz Senecas „Unterhalb von Allem steht der Undankbare. Denn alle ... Übel stammen vom Undankbaren, ohne den kaum jemals ein großes Verbrechen entstand“. Wäre es die Dankbarkeit, was letztlich die menschliche Gesellschaft – nicht bloß die politische Gemeinschaft – zusammenhält?

Die griechischen politischen Philosophen kamen nicht los von der Idee des Gesellschaftsvertrages zwischen freien und unabhängigen Individuen. Hat der atheoretisch formulierende und deswegen unterschätzte Römer tiefer geblickt? Vor allem Vertrag stünde eine Bindung, die auch über das hinausgeht, was Platon in seinem „Kriton" als „stillschweigende Einwilligung in den Gesellschaftsvertrag" beschwor. Letztlich hinge jede politische Gemeinschaft an der Dankbarkeit gegenüber den Vorfahren. Diese Tatsache erhielt in der römischen Kultur eine besondere Aufmerksamkeit; auch deswegen besaßen die Römer in der pietas eine politische Tugend, die den Griechen fremd war. In der römischen Weltsicht müssen Vorfahren keineswegs die biologischen sein, sondern auch diejenigen, deren kulturelles und soziales Erbe man antritt, als sei man adoptiert. Entkräftet sich jene Dankbarkeit, dann lösen sich für den römischen Philosophen alle sozialen Verpflichtungen auf, und es endet alle Sozialität.

Im Sinne Senecas ließe sich folgern: Wenn sich die Dankbarkeit gegenüber den Gründern unserer aufklärerischen Kultur in Undankbarkeit verwandelt, dann lösen die europäischen Republiken sich auf, und es spielt keine Rolle, ob das in zwei Generationen oder in dreien geschieht. Ein solcher Prozess ist zunächst kaum wahrnehmbar, und wer in den Eindrücken des Augenblicks lebt, wird ihn abstreiten. Das Schicksal der europäischen Kultur und der Demokratie entscheidet sich im Widerstreit von Anspruch und Opfer, und diesen Kampf entscheiden die Kräfte von Dankbarkeit oder Undankbarkeit. Der ist noch nicht verloren. Es liegt an uns, den Rat zu beherzigen, den Hölderlin uns gab:

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, 

Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern,

Und verstehe die Freiheit,

Aufzubrechen, wohin er will.

Egon Flaig, Professor Emeritus für Alte Geschichte, Autor zahlreicher Bücher, u.a. Weltgeschichte der Sklaverei (2009), Gegen den Strom. Für eine säkulare Republik Europa (2013), Die Niederlage der politischen Vernunft (2017). 

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K. Rainer / 13.12.2017

Wer ist “DER freie, gebildete Mensch” - Sie, Herr Driesel? -  Es gibt ewige Gesetze in diesem Universum, die man nicht einfach verwerfen oder “eingrenzen” kann, ohne Schaden zu nehmen. Dankbarkeit ist eines davon. Ein Mensch ist noch lange nicht frei, nur weil er sich gebildet und frei wähnt - wer nicht “dankbar sein” kann/will, hat überhaupt nicht viel Bildung (oder besser: Weisheit), höchstens viel Einbildung. “Gebildet” zu sein, hat mit “freier Mensch” nicht viel zu tun - ist eher trügerische Illusion. Dies zu erkennen wäre ein Stück des (kulturellen) Weges. - Zu Macron: ich kann bei ihm keine ungelesenen “Einsichten” erkennen, allenfalls ein gewisses, verführerisches Reden (und Denken), eingeübt auf den Strategie-Seminaren von Goldman Sachs. Im Galaterbrief 5.1 heißt es: “So steht nun fest in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasst euch nicht wieder in ein Joch der Knechtschaft spannen.” Ist das nun kulturelles Erbe oder Hölderlin’scher Schwachsinn? - Ich unterstelle: Sie würden es verwerfen.

Helmut Driesel / 13.12.2017

Einen Rat vom geisteskranken Hölderlin anzunehmen, obliegt jedermanns persönlicher Freiheit. Ebenso das Dankbar- oder Undankbarsein gegenüber wem oder was auch immer. Warum soll der freie, gebildete Mensch nicht Stücke überlieferter Kultur verwerfen, wenn er das erachtet? Es gibt immer Gründe, Freiheit einzuhegen, ganz besonders die Freiheit anderer. Hilfreich ist in solchen Fällen die Frage: Wem nützt es? Begründet es Macht? Also doch Ökonomie? Was hat Herrn Macron zu Einsichten verholfen, die er in etlichen Jahren als Studiosus nirgends gelesen haben kann - der grundsätzliche Erfolg von Schauspieltalent in einer Mediengesellschaft?

Andreas Rühl / 13.12.2017

Wenn dem so ist, mache ich den Anfang. Ich bin dankbar. Vor allem Ihnen, sehr geehrter Herr Flaig, für die aufbauenden Worte; denn seit Jahrzehnten gehen mir ähnliche Gedanken durch den Kopf und seit Jahrzehnten merke ich zunehmend, wie selten diese Gedanken, im Gespräch geäußert, noch auf ein Gegenüber treffen, der versteht; und je jünger das Individuum, desto kleiner ist die Chance, hier haben die von Ihnen geschilderten Ideologen oftmals schon “ganze Arbeit geleistet”. Das Konzept der Dankbarkeit für all das, was über Generationen erkämpft, erdacht, erlitten wurde, kann durchaus die Rettung sein. Es muss ja keine Dankbarkeit in erstarrter Demut sein, vielmehr ein Auftrag, das Erworbene zu erhalten oder gar, soweit möglich, die Freiheit sogar auszubauen.

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