Von Joe Zammit-Lucia.
Angela Merkel kandidiert für die vierte Amtszeit als Kanzlerin. Sollte sie gewinnen, was bedeutet das dann für die Welt? Eine mögliche Interpretation wäre es, dass dies Deutschland als Anker der Stabilität in einer politisch zunehmend instabilen Welt etabliert. Nach dem Brexit, nach der Wahl Donald Trumps und angesichts der Unberechenbarkeit in Italien, der Möglichkeit einer zukünftigen Präsidentschaft von Le Pen in Frankreich, dem Rechtsruck in Ungarn und Polen, dem höchstwahrscheinlich guten Abschneiden des Niederländers Wilders im März sowie in Anbetracht all der Entwicklungen andernorts würde eine erneute Amtszeit Merkels der wachsenden Unsicherheit etwas entgegensetzen. Sie würde zeigen, dass die sogenannten populistischen Bewegungen nicht überall unausweichlich sind. Dass Deutschland weiter für Stabilität sorgen und einen Sieg der Vernunft über hitzköpfigen Populismus erringen kann. Einen Sieg der Vernunft in einer Welt, die zunehmend bar jeder Vernunft erscheint.
Eine weitere Sichtweise wäre jedoch, dass die Welt sich verändert, Deutschland aber nicht in der Lage zu Veränderungen ist. Ein Sieg Merkels könnte als letztes Aufbegehren der alten Garde betrachtet werden – des Establishments, das sich weigert zu erkennen, dass sein politisches und wirtschaftliches Modell zum Scheitern verurteilt ist. Einer herrschenden Klasse, die wie das Geschlecht der Bourbonen trotz ihres offensichtlichen Scheiterns weiterhin darauf beharrt, auf dem richtigen Weg zu sein. Entsprechend dieser Sichtweise hätte man es mit einer Art Farce zu tun. Ähnlich dem Protagonisten einer Komödie, der unbeirrt wie gewohnt weitermacht, ohne mitzubekommen, welche massiven Veränderungen um ihn herum vorgehen. Wie eine Person, die im elektronischen Zeitalter darauf beharrt, ausschließlich zu Feder und Papier zu greifen.
Und nicht zuletzt könnte man es als Tragödie betrachten. Die Wiederwahl von Angela Merkel als Kanzlerin wäre nicht per se eine Tragödie. Hält sie jedoch nach ihrer Wiederwahl am politischen Mantra „Es gibt keine Alternative“ fest, das sie und Europa im letzten Jahrzehnt verfolgt haben und das derzeit so eindrucksvoll scheitert, wäre dies sehr wohl tragisch. Denn ein solcher Ansatz würde die vollständige Ideen- und Fantasielosigkeit der etablierten politischen Klasse verraten.
Stagnierende Löhne, zunehmende soziale Ungerechtigkeit, eine (bestenfalls) wirtschaftlich lethargische Eurozone, die existenzielle Bedrohung der europäischen Einheit sowie immer unzufriedenere, aufbegehrende Bürger sind Symptome eines globalisierten Wirtschaftsmodells, das eindeutig nicht mehr funktioniert. Trotz all dessen sollen die Menschen offenbar nach wie vor glauben, es gäbe „keine Alternative“. Genau diese Ideen- und Fantasielosigkeit hat es ermöglicht, dass populistische Parteien das Vakuum füllen und zu ungeahnter Stärke gelangen.
Darüber hinaus würde die Wiederwahl darauf hindeuten, dass das größte demokratische Land Europas in mehr als zehn Jahren keinen glaubwürdigen Alternativkandidaten hervorgebracht hat, der der Kanzlerin ernsthafte Konkurrenz machen könnte. Keine Demokratie kann ohne starke, glaubwürdige Opposition lebendig bleiben. Und darin liegt die wahre Tragödie.
Joe Zammit-Lucia ist Mitverantwortlicher von radix.org.uk und Co-Autor des Buchs „The Death of Liberal Democracy?“. Er ist unter folgender E-Mail-Adresse zu erreichen: joezl@me.com