Joe Zammit-Lucia, Gastautor / 17.12.2016 / 06:15 / Foto: NASA / 16 / Seite ausdrucken

Noch vier Jahre Merkel: Stabilität oder das Gegenteil?

Von Joe Zammit-Lucia.

Angela Merkel kandidiert für die vierte Amtszeit als Kanzlerin. Sollte sie gewinnen, was bedeutet das dann für die Welt? Eine mögliche Interpretation wäre es, dass dies Deutschland als Anker der Stabilität in einer politisch zunehmend instabilen Welt etabliert. Nach dem Brexit, nach der Wahl Donald Trumps und angesichts der Unberechenbarkeit in Italien, der Möglichkeit einer zukünftigen Präsidentschaft von Le Pen in Frankreich, dem Rechtsruck in Ungarn und Polen, dem höchstwahrscheinlich guten Abschneiden des Niederländers Wilders im März sowie in Anbetracht all der Entwicklungen andernorts würde eine erneute Amtszeit Merkels der wachsenden Unsicherheit etwas entgegensetzen. Sie würde zeigen, dass die sogenannten populistischen Bewegungen nicht überall unausweichlich sind. Dass Deutschland weiter für Stabilität sorgen und einen Sieg der Vernunft über hitzköpfigen Populismus erringen kann. Einen Sieg der Vernunft in einer Welt, die zunehmend bar jeder Vernunft erscheint.

Eine weitere Sichtweise wäre jedoch, dass die Welt sich verändert, Deutschland aber nicht in der Lage zu Veränderungen ist. Ein Sieg Merkels könnte als letztes Aufbegehren der alten Garde betrachtet werden – des Establishments, das sich weigert zu erkennen, dass sein politisches und wirtschaftliches Modell zum Scheitern verurteilt ist. Einer herrschenden Klasse, die wie das Geschlecht der Bourbonen trotz ihres offensichtlichen Scheiterns weiterhin darauf beharrt, auf dem richtigen Weg zu sein. Entsprechend dieser Sichtweise hätte man es mit einer Art Farce zu tun. Ähnlich dem Protagonisten einer Komödie, der unbeirrt wie gewohnt weitermacht, ohne mitzubekommen, welche massiven Veränderungen um ihn herum vorgehen. Wie eine Person, die im elektronischen Zeitalter darauf beharrt, ausschließlich zu Feder und Papier zu greifen.

Und nicht zuletzt könnte man es als Tragödie betrachten. Die Wiederwahl von Angela Merkel als Kanzlerin wäre nicht per se eine Tragödie. Hält sie jedoch nach ihrer Wiederwahl am politischen Mantra „Es gibt keine Alternative“ fest, das sie und Europa im letzten Jahrzehnt verfolgt haben und das derzeit so eindrucksvoll scheitert, wäre dies sehr wohl tragisch. Denn ein solcher Ansatz würde die vollständige Ideen- und Fantasielosigkeit der etablierten politischen Klasse verraten.

Stagnierende Löhne, zunehmende soziale Ungerechtigkeit, eine (bestenfalls) wirtschaftlich lethargische Eurozone, die existenzielle Bedrohung der europäischen Einheit sowie immer unzufriedenere, aufbegehrende Bürger sind Symptome eines globalisierten Wirtschaftsmodells, das eindeutig nicht mehr funktioniert. Trotz all dessen sollen die Menschen offenbar nach wie vor glauben, es gäbe „keine Alternative“. Genau diese Ideen- und Fantasielosigkeit hat es ermöglicht, dass populistische Parteien das Vakuum füllen und zu ungeahnter Stärke gelangen.

Darüber hinaus würde die Wiederwahl darauf hindeuten, dass das größte demokratische Land Europas in mehr als zehn Jahren keinen glaubwürdigen Alternativkandidaten hervorgebracht hat, der der Kanzlerin ernsthafte Konkurrenz machen könnte. Keine Demokratie kann ohne starke, glaubwürdige Opposition lebendig bleiben. Und darin liegt die wahre Tragödie.

Joe Zammit-Lucia ist Mitverantwortlicher von radix.org.uk und Co-Autor des Buchs „The Death of Liberal Democracy?“. Er ist unter folgender E-Mail-Adresse zu erreichen: joezl@me.com

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Mona Rieboldt / 17.12.2016

Es wird auch nicht besser, wenn man permanent dieses “populistisch” betont, der Pöbel weiß nicht, was gut für ihn ist. Genau das sagt dieses “populistich”. Diese Eliten regieren völlig am Volk vorbei, die Leute sollen immer mehr gegängelt “erzogen” werden. Und die Leute werden belogen, was die Asylanten angeht. Und wenn die Regierung was anderes sagt, als die Leute vor der Haustür erleben, dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie abgewählt werden. Und das Volk vergißt nicht, wenn es von Politikern und “Experten” als dumm, als Pack bezeichnet wird. Die Parteien von CDU, SPD, Grüne, Linke, FDP wollen alle die gleiche Politik machen. Die einzige Opposition ist zur Zeit die AfD. Und die AfD ist das, was die CDU mal vor Merkel war.

Thomas Robert Rausch / 17.12.2016

Merkel unter normalen Umständen nicht gewinnen. Sie und ihre Partei haben sich nach drei Legislaturen verschlissen. Schon aus dem Grund wird das nichts mehr. Essentiell aber ist, dass die Konservativen eben nicht konservativ sondern rückständig sind. Und das könnte angesichts der technische raschen Entwicklung fatal werden. Stagnation aufgrund der Austerity Politik des Finanzministers bedeutet Rückschritt, da wichtige Investitionen unterbleiben. Das kann Deutschland unter Umständen nicht mehr aufholen. Ganz zu Schweigen von den sozial entstehenden Verwerfungen. Immer mehr Arbeitsplätze werden abgebaut, neu gleichwertige entstehen eben nicht. Das kann man nicht dem Markt überlassen. Da muss der Staat, bzw die jeweilige Regierung reagieren. Diese Regierung überlässt alles dem Markt. Dabei kippen nicht nur ganze Besitzstände des einfachen Bürgers weg, sie werden und wurden sogar noch von der Regierung zusätzlich enteignet. Das führt zu erheblichem Unmut . Anstatt Probleme im Inland anzugehen, werden noch zusätzliche Probleme in das Land geholt. Diese Regierung, wenn nicht sogar das gesamte Establishment, haben versagt. Sie könnten sich zukünftig nur noch mit Gewalt halten. Erste Anzeichen dafür liefern schon avisierte Maßnahmen zur Zensur, die auf überspitzt dargestellte Einzelfälle von absichtlich falschen Informationen im Internet abheben. Das sind erste Anzeichen einer kommenden Diktatur des Establishments.

Bernd Pfrommer / 17.12.2016

Sehr geehrter Herr Zammit-Lucia, Sie schreiben: “Stagnierende Löhne, zunehmende soziale Ungerechtigkeit, eine (bestenfalls) wirtschaftlich lethargische Eurozone, die existenzielle Bedrohung der europäischen Einheit sowie immer unzufriedenere, aufbegehrende Bürger sind Symptome eines globalisierten Wirtschaftsmodells, das eindeutig nicht mehr funktioniert.” So haette es auch Frau Wagenknecht schreiben koennen. Leider bleiben Sie den Beweis schuldig, dass die aufgelisteten Symptome auf wirtschaftliche Globalisierung zurueckzufuehren sind. Etliche Umfragen sehen z.B. die Ursachen des Brexit direkt in der Unzufriedenheit der Buerger mit der unkontrollierten Einwanderungsbewegung. Das haengt aber hoechstens indirekt mit wirtschaftlicher Globalisierung zusammen. Mit freundlichem Gruss, Bernd Pfrommer

Dr. Bredereck, Hartmut / 17.12.2016

Cora Stephan hat bereits vor fünf Jahren in ihrem Buch “Angela Merkel - Ein Irrtum” die Verwandlung von Angie zu “Tina” (There is no alternative) sehr zutreffend beschrieben. In den nachfolgenden Jahren hat die Kanzlerin “Tina” bei der (Nicht)Bewältigung der Euro- Krise und insbesondere der Flüchtlingskrise immer wieder ihre “Alternativlosigkeit” -sprich Staatsversagen- unter Beweis gestellt. Man braucht nicht viel hellseherisches Talent, dass es nach ihrer Wahl 2017 leider so weitergehen wird.

Jochen Fischer / 17.12.2016

Nochmal vier Jahre Merkel wäre vor allem eins: eine Katastrophe für unsere Demokratie, für unser Parteiensystem und unsere Institutionen – für unser Verhältnis zu Recht und Rechtsstaatlichkeit, für den öffentlichen Diskurs und für unser Verhältnis zur unseren Nachbarn. Es ist in der Tat ein Desaster, dass ein 80-Mio-Volk in 10 Jahren keine geeignete Persönlichkeit hervorbringt, die sich als deutliche Alternative zu einer Frau Merkel anbietet. Seltsamerweise scheinen alle westlichen Staaten von diesem Defizit an geeignetem Führungspersonal betroffen.

Philipp Richardt / 17.12.2016

Ich verstehe nicht, wie es möglich ist, Merkel mit Stabilität in Einklang zu bringen. Griechenlandrettung, Euro-Rettung, Energiewende, Flüchtlingskrise und alle dazugehörigen massiven Rechtsbrüche stehen für politischen Extremismus in Reinkultur.

Karla Kuhn / 17.12.2016

Den ersten Abschnitt des Autors halte ich für unwahrscheinlich. Merkel müßte sich und ihre Einstellung zu den Menschen"die schon länger hier leben”,  zur Politik insgesamt und auch zur ihrem Machbewußtsein grundlegend ändern.  Eher gehen Mond und Sonne gleichzeitig auf und unter, bevor das geschieht. “Darüber hinaus würde die Wiederwahl darauf hindeuten, dass das größte demokratische Land Europas in mehr als zehn Jahren keinen glaubwürdigen Alternativkandidaten hervorgebracht hat, der der Kanzlerin ernsthafte Konkurrenz machen könnte. Keine Demokratie kann ohne starke, glaubwürdige Opposition lebendig bleiben. Und darin liegt die wahre Tragödie.” Diesen Abschnitt kann ich voll unterschreiben. Aber es ist ja noch nicht alles verloren, es gibt mit Sicherheit einige Hoffnungsträger, die sich nach und nach aus ihrer “Versenkung” raustrauen. Auch die vielen “Weggebissenen” werden bestimmt nicht ruhig im stillen Kämmerlein verharren, dazu sind sie viel zu machtbewußt. Kommt Zeit, kommt Rat.

Martin Heine / 17.12.2016

Eine Wiederwahl Angela Merkels würde meiner Einschätzung nach keine volle Legislaturperiode durchhalten. Rot-Rot-Grün wäre die Fortführung der bisherigen Politik, nur ohne Merkel. Nach der Bundestagswahl werden einige über ihren Schatten springen müssen, und es vermutlich auch tun. Soll heißen, Koalitionen einzugehen die derzeit noch als undenkbar gelten. Politiker sind doch sehr flexibel, wenn es gilt an der Macht zu bleiben. Es bleibt auf jeden Fall spannend.

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