Von Alain Pichard.
Erfahrungen aus der Schweiz, die auch deutschen Lehrern nicht ganz unbekannt sein dürften.
Es geschah während einer Stadtführung in La Chaux de Fonds. Die Führerin mühte sich redlich ab, den Anwesenden die phänomenale Städtestruktur der Uhrenmetropole im Jura zu erklären. Etwa die Hälfte der 20 SchülerInnen hörte interessiert zu oder tat wenigstens so, andere liessen ihre Augen auf die vielen Uhren schweifen, die ihnen anzeigten, dass die Führung noch über eine halbe Stunde dauern sollte. Zwei Mädchen hörten nicht zu, sie redeten miteinander, zwei andere lachten laut, weil sie bemerkten, dass einer ihrer Kollegen plötzlich nicht mehr anwesend war.
Eine von Ihnen griff zum Hörer, um den Vermissten aufzuspüren. Lautes „Aha“, Wegerklärungen, saloppe Sprüche und ein Gekichere waren die Folge. Die Städteführerin musste dies bemerken, fuhr aber tapfer weiter. Der Klassenlehrer blickte zurück, verzog aber keine Miene. Am Schluss sollten die vier Mädchen nach einem freien Ausgang sagen, dass es eine doofe Stadt gewesen sei. Man habe einen Coiffeursalon gesucht, nicht einmal das gäbe es an diesem komischen Ort. Und eine meinte, Stadtführungen interessierten sie eh nicht.
Man könnte dieses Ereignis abbuchen unter dem beliebten Thema der ach so unmotivierten heutigen Schülergeneration. Die Krux ist allerdings, dass es sich bei dieser Gruppe nicht um eine Oberstufenklasse mit einem peinlich berührten Klassenlehrer handelte, sondern um einen Kollegiumsausflug. Die vier SchülerInnen waren allesamt Lehrkräfte, darunter eine Geschichtslehrerin, der Klassenlehrer war der Schulleiter.
Lehrkräfte stehen immer kritisch im öffentlichen Fokus
Es ist bekannt: Die SchulmeisterInnen des Landes können sich ab und zu an Fortbildungsanlässen, Konferenzen oder Seminarien genauso verhalten wie unmotivierte Schulklassen. Sie kommen zu spät in den Kurs, sprechen mit dem Tischnachbarn, fallen einander ins Wort, tippen auf dem Handy herum, korrigieren ihre Schularbeiten, hören nicht zu und stellen Fragen, die vor fünf Minuten bereits beantwortet wurden. Ich mache da übrigens keine Ausnahme, doch davon später.
Die Disziplin hat sich zwar gegenüber früher massiv verbessert, aber wenn die Öffentlichkeit über Schulthemen spricht, stehen die Lehrkräfte immer in einem etwas kritischen Fokus. Es ist ein wenig unser aller Problem, das Problem der Lehrkräfte, die man einerseits bespöttelt, als "faule Säcke" beschimpft, als weltfremde wandelnde Klagesäulen, um sie dann andererseits wieder zu den Helden des Alltags zu machen, zu den unverzichtbaren Trägern jeglicher Bildungsformate und Integrationsbemühungen. Und beide Images wurden hart erarbeitet.
Aktuell haben wir allerdings wieder etwas Oberwasser. Seit der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner Mega-Studie über die Wirkung von Schule festgestellt hat, dass das Können und die Persönlichkeit der Lehrkräfte ein zentraler Gelingensfaktor ist, stolzieren wir wieder mit breiterer Brust durch die bildungspolitische Landschaft. Das zeigt sich jetzt vor allem bei der Diskussion um den Schweizer Lehrplan 21. Gegner wie Promotoren reisen durch die Bildungslandschaft und erklären allen: „Auf den Lehrer kommt es an!“
Ich war nicht immer ein guter Lehrer
Bei aller Empfänglichkeit für öffentlichen Beifall, dessen Warmbadwirkung sich wohl niemand entziehen kann, beschleichen mich angesichts solch lobender Aussagen immer wieder die altbekannten Zweifel eines Praktikers, der nach 40 Jahren Schuldienst eines weiss: Ich war nicht immer ein guter Lehrer.
Es gab und gibt auch bei mir Phasen, in denen ich nachlasse. Ich spreche da nicht von unvermeidlichen Fehlern, sondern von persönlichen Krisen, zu viel Politik oder phasenweiser Überforderung. Und wer John Hattie genau liest, der kann sich nicht auf die Formel verlassen: „Es kommt auf den Lehrer an“. Nein, er sagt, es kommt auf die Qualität seines Unterrichts an. Die hat zwar durchaus mit der Persönlichkeit zu tun, aber auch mit Fleiss, Professionalität, Hingabe und – nicht zu unterschätzen – Erfahrung.
Der Lehrerberuf ist anspruchsvoll. Neben dem Unterricht kommen da nämlich noch einige wichtige Dinge dazu: Klassenführung, Elterngespräche, Zusammenarbeit mit den Behörden, Umgang mit Absentismus, Umgang mit Multikulturalität, Umgang mit Facebook und I-Phone, Vorbereitungen von Schulreisen, Skilagern und Landschulwochen, durchstehen eines 24-Stunden-Betriebs, Coaching bei der Berufswahl, Planen von Betriebsbesichtigungen, Begründen von Selektionsentscheiden, Klassenkonferenzen, Kenntnisse im Schulrecht, Führen eines Klassenkontos, Organisation von Schulanlässen, persönliche Beziehungsarbeit, Umgang mit schwierigen SchülerInnen, Ordnung und Sauberkeit des Klassenzimmers, Kollegiumszusammenarbeit, und noch vieles mehr..
Dazu sollen die Lehrpersonen, offen, optimistisch, belastbar, innovativ und vor allem gerecht sein. Jeder, der einmal in die Schule gegangen ist, weiss, dass es "den Lehrer" oder "die Lehrerin" ohnehin nicht gibt, genauso wenig wie "den Schüler". Es gibt miserable und schlechte Lehrpersonen und es gibt hervorragende und gute Lehrkräfte, und dazwischen eine grosse Mitte, genau wie bei den Schülern.
Ein sehr guter Lehrer ist übrigens fast unbezahlbar
Ein sehr guter Lehrer ist übrigens fast unbezahlbar. Er ersetzt teure Fachinstitutionen, Psychologen, Case Manager, Sozial- und Jugendarbeiter und entlastet Arbeitslosenprogramme. Um das fragile Können der Lehrkräfte zu stützen, haben wir gewisse Korrektive. Da wären einmal die Schulleitungen, die allerdings nicht nur verwalten sondern auch eine Ahnung von Pädagogik haben sollen. Und - das ist wichtig -heute ist es möglich, sich von konstant schlechten Lehrpersonen zu trennen.
Für die Lehrkräfte aber immer noch der verlässlichste Anzeiger für ihr berufliches Können sind die Rückmeldungen ihrer Schülerinnen und Schüler. Diese können in der Regel sehr genau abschätzen, wer da vor ihnen steht. Und auch Hattie weist nach, dass Rückmeldungen sowohl für die Lehrer wie auch für die Schüler zentral sind. Ich führe zum Beispiel regelmässig Klassenkonferenzen durch, in denen die Schülerinnen und Schüler mir sagen können, wenn sie etwas stört.
An meiner letzten Sitzung wurde ich zum Beispiel kritisiert, dass ich die Proben viel zu lange bei mir behalte, schnell "hässig" (wütend, böse, sauer) werde, und irgendwie manchmal abwesend sei. Als ich meiner Frau etwas zerknirscht diese Rückmeldungen gezeigt hatte, meinte sie erbarmungslos: "Die haben völlig Recht, das beobachte ich hier zu Hause genauso." Eine Folge davon, dass ich in meiner unterrichtsfreien Zeit im Stadtrat sitze und solche Artikel schreibe? Nun, denn, ich kandidierte nicht mehr für den Stadtrat und investiere wieder mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung. Denn eines ist klar: Auch als Lehrer mit 40 Jahren Schulerfahrung, muss der Unterricht immer noch gründlich vorbereitet werden, wenn er nicht monoton sondern eben gut sein soll.
Solche Erkenntnisse kosten auch nicht viel. Sie erfordern etwas Mut (von beiden Seiten), Kritikfähigkeit und ein wenig Unterrichtszeit. Natürlich gibt es auch bei Rückmeldungen Qualitätsunterschiede. Als ich als ganz junger Lehrer mit einer ziemlich schwierigen Klasse einmal mit dem Bus zur Schlittschuhbahn gefahren bin, erwies sich ein rüstiger Senior, der per Zufall im Bus sass, als genauer Beobachter. Die Busfahrt war ein Desaster. Die Schüler tanzten mir und den anderen Passagieren auf der Nase herum. Ich schämte mich in Grund und Boden. Der betagte Rentner diskutierte indes im Bus vorne intensiv mit einer meiner Schülerinnen. Als wir endlich aus dem Bus gestiegen waren, kam die Schülerin grinsend zu mir und sagte: „Ich soll euch einen Gruss von dem alten Mann ausrichten. Er sagte, Ihr seid eine Niete!“
Alain Pichard ist Grünliberaler Stadtrat in Biel /Schweiz und seit 40 Jahren Lehrer in sozialen Brennpunktschulen.