Von Volker Seitz.
Der Künstler und Schriftsteller Samson Kambalu aus Malawi rät afrikanischen Kindern, sich von Touristen fernzuhalten – und sich nicht fotografieren zu lassen. „Sonst landet ihr noch auf dem Spendenaufruf irgendeiner Hilfsorganisation.“ Außerdem hat er festgestellt, dass die Kinder auf solchen Fotos keine Schuhe tragen dürften, denn sonst könnten sie nicht als arm gelten.
Ich habe kein Land erlebt, wo es nicht wenigstens 300-400 aktive Hilfsorganisationen gab. Die Nichtregierungsorganisationen (NGO) sind aus der Ernüchterung über die Tätigkeit oder Untätigkeit der meisten Regierungsinstitutionen in Afrika entstanden. Als gemeinsamer Nenner wurde ihr gemeinnütziger Charakter betrachtet. NGOs können in demokratischen Gesellschaften ein bedeutender Faktor sein, um die Zivilgesellschaft an der Gestaltung des Gemeinwesens zu beteiligen.
Manche tendieren dazu, ein Geschäft wie jedes andere zu betreiben, während andere von den lokalen Regierungen oder Privatpersonen instrumentalisiert werden, um ausländische Mittel abzuschöpfen. (16 Prozent des BMZ Budgets gehen an die NGOs.) Sie haben sich erst rasant vermehrt, nachdem bekannt wurde, dass die Geber für sie mehr Geld lockermachen wollten. Das Problem ist, dass alle Entwicklungsorganisationen Teil des Systems in den Einsatzländern sind. Zur Erreichung bestimmter Ziele geht oft nichts ohne "einflussreiche Freunde".
936 NGOs und etwa 8.000 neue Geländewagen in Haiti
Es existieren zahlreiche nationale und internationale NGOs ohne die geringste demokratische Legitimation, und es entstehen jeden Tag ein paar neue. Fast jeder Politiker in Afrika hat eine NGO gegründet. Oft gehört ihm auch noch eine Zeitung, die sein Loblied singt. Viele dieser NGOs arbeiten mit Steuergeldern, und deshalb sollten wir uns für sie interessieren. Nicht alle arbeiten so nachhaltig und mit Verwaltungskosten unter 5 Prozent wie das SOS Kinderdorf, Zikomo, die Flying Doctors oder die Grünhelme. Andere nutzen das Elend der Bevölkerung auch schon mal als Ressource. Wie anders ist zu erklären, dass in Haiti derzeit 936 NGOs tätig sind und etwa 8.000 neue Geländewagen mit dem Logo der jeweiligen NGO durchs Land fahren. Die Hilfsbranche floriert. In Haiti wird Nothilfe geleistet, aber schon vor dem Hurrican Matthew gab es Hunger und Armut und Regierungen, deren einziges Ziel schien, den Erhalt der Macht zu organisieren.
Bei den Hilfsorganisationen handelt es sich um nationale und internationale Organisationen. In dem kleinen Benin gibt es z.B. über 6.000 registrierte NGOs. Dies zeugt vordergründig von einer lebendigen Demokratie, das Engagement liegt allerdings meist im sozialen und karitativen Bereich. Oft besteht eine NGO aus einer oder mehreren Privatpersonen, die sich über die NGO-Struktur private Vorteile verschaffen.
Der ehemalige Weltbank-Ökonom William Easterly hat ausgerechnet, dass in Afrika 40.000 Mitarbeiter ausländischer Hilfsorganisationen beschäftigt sind. Seiner Meinung nach wird „das Hilfesystem beherrscht von Leuten, die aus der Ferne ihrer klimatisierten Büros utopische, aber nicht praktikable Pläne machen, ohne zu erkennen, was vor Ort tatsächlich gebraucht wird und ohne die Ergebnisse zu überprüfen.“ Es gibt bis heute keine unabhängige Instanz, vor der die Hilfsorganisationen Rechenschaft ablegen müssten.
Besser mit klugen Afrikanern sprechen, als auf Popstars zu hören
Spätestens die Massenflucht aus Afrika müsste Anstoß für eine breitere öffentliche Auseinandersetzung mit den Gründen des Scheiterns der Entwicklungshilfe sein. Die Entwicklungshilfegeber müssen endlich umdenken und künftig nur noch dort helfen, wo Regierungen Probleme selbst anpacken. Niemand kann Afrika retten und erneuern, außer den Afrikanern selbst. Andernfalls werden Migrationsbewegungen sowohl von Niedrig- als auch Hochqualifizierten weiter zunehmen.
Entwicklungshilfe ist kein Mittel, um Menschen aus Afrika abzuhalten, nach Europa zu kommen. Das ist so, weil die Hilfe nur zu einem geringen Teil bei den Bedürftigen ankommt. Europäische Politiker sollten sich weniger von Pop- und Filmstars unter Druck setzen lassen, als mit kritischen Afrikanern wie George Ayittey (Ghana), Moeletsi Mbecki (der Bruder des früheren südafrikanischen Präsidenten) oder Andrew Mwenda (Uganda) sprechen.
Dann würden sie wissen, dass die bisherige Hilfsstrategie die afrikanischen Länder entmündigt. Das Bewusstsein, selbst Verantwortung zu übernehmen, wird zerstört, weil zehntausende ausländische Helfer – die das Helfen zum Beruf gemacht haben – zu viel Verantwortung an sich ziehen. Verlassen sie ihren Einsatzort, bricht das „Projekt“ in sich zusammen. Die Wohltätigkeitsaktivisten verstärken Fehlentwicklungen und machen sich zu willigen Helfern autokratischer Regime.
Bürokratischen Apparate der Geberorganisationen, Misswirtschaft, die destruktive Konkurrenz untereinander sowie „aberwitzige Doppel- und Mehrfachförderungen“, wachsende Geldströme von außen lösen die Armutsprobleme nicht, im Gegenteil. Die Umverteilung von Nord nach Süd zerstört Anreize, verschüttet oft lokale Potenziale und verführt gute Leute dazu, ihr Glück in der Entwicklungshilfe statt im Unternehmertum zu suchen.
Die übliche ständige Fremdhilfe an die "Nehmerländer" zum Zudecken der fehlenden "good governance" verschärft nur die Misere. Wir müssen klären, worauf zu achten ist, wenn wir es besser machen wollen. Selbsthilfe bedeutet Eigeneinsatz, Mühe und die Notwendigkeit eines Mentalitäts- und Wertewandels, um die dortigen Gemeinwesen nach vorne zu bringen. Jeder muss selbst entscheiden, ob und wie er sich entwickelt.
Die Weiße-Retter-Industrie (White Saviour Industrial Complex)
Es muss künftig transparenter ausgewiesen werden, wo und wie Steuergelder konkret eingesetzt wurden und vor allem, was erreicht wurde. Alle Hilfsorganisationen sollten bevölkerungsnäher werden. Die lokalen Medien, die bis heute oft von den Informationen ausgeschlossen werden, könnten zu aufmerksamen Beobachtern werden. Zugleich erhielten alle Beteiligten eine Gelegenheit, ihre Beobachtungen und Meinungen einzubringen. Dann würde dafür gesorgt, dass die Wünsche, Bedürfnisse, Initiativen, Ideen der Bevölkerung so gut wie möglich erfüllt werden. Dies würde Selbstbestimmung und Mitgestaltung ermöglichen. Entwicklungshilfeorganisationen und die Behörden könnten dadurch deutlich Verantwortung und Transparenz verbessern.
In der Entwicklungspolitik werden Diskussionen in einer Weise geführt, die grundlegende Fragen peinlich umgehen oder einfach kategorisch ausschließen. Es geht um die Weiße-Retter-Industrie (White Saviour Industrial Complex), wie sie der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole bezeichnet. Die Debatte dreht sich um die klassische Entwicklungshilfe, die in vielen Ländern südlich der Sahara noch immer originäre Aufgaben des Staates finanziert. Afrika wird bei uns gerne als Kontinent betrachtet, der ständig Hilfe braucht. Das liegt natürlich inzwischen auch an der hohen Erwartungshaltung hinsichtlich der Hilfsleistungen der Geber. Sehnlichst möchte man Erfolge wahrhaben, die aber einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Es liegt nahe, auf mühsame eigene Anstrengungen zu verzichten, wenn ständig verkündet wird, dass Afrika ein Pflegefall und auf unsere Hilfe angewiesen ist. Deshalb gibt es so viele Akteure, die miteinander um Projekte konkurrieren. Das Afrikabild wird von den sich selbst erhaltenden Hilfswerken und Helfern, die Hilfe als Lebensjob betreiben, geprägt.
Mangels einer glaubwürdigen Opposition gibt es auch keine gesellschaftlichen Entwürfe, Vorschläge für unterschiedliche Arten zu wirtschaften, die miteinander in Wettbewerb stehen. Der aus Kamerun stammende Historiker Achille Mbembe schreibt in seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch „Ausgang aus der langen Nacht“, es fehle eine demokratische Alternative zum „Modell des Raubbaus“ der afrikanischen Machthaber. Dennoch werden Sündenböcke für die Misere gerne außerhalb ihrer Länder gesucht.
Entwicklungshilfe ist für viele afrikanische Länder falsch
Der Westen wird sich künftig deutlicher positionieren müssen. Seit langem ist bekannt, dass sich ein Staat nur entwickeln kann, wenn das – oft genau kalkulierte – Chaos in den afrikanischen Finanzverwaltungen beendet wird, das die Unterschlagungen der Mächtigen verschleiern soll. Wir müssen den politischen Willen und die Einsicht der Verantwortlichen in ihrem eigenen Interesse fördern, bevor noch mehr materielle Hilfe folgt. Die deutsche Entwicklungspolitik muss endlich die Sprache sprechen, die die Autokraten wirklich verstehen: künftig keine Visa mehr für korrupte Politiker und Beamte. Das wäre die Höchststrafe.
Gerne wird übersehen, dass fast alle mit fremder Hilfe errichteten Projekte nicht mehr weitergeführt werden, wenn ausländische Subventionen versiegen. Diese Misserfolge sollten nicht verschwiegen, sondern es sollte nach den Gründen geforscht werden. Bei einer hohen Abhängigkeit von externen Geldgebern ist nach meinen Erfahrungen jedes Projekt gefährdet.
Entwicklungshilfe ist für viele afrikanische Länder falsch. Es gibt spannende Kontroversen, die man austragen sollte, statt mit großer Einigkeit immer mehr Geld für die Entwicklungshilfe zu fordern. Nichts gegen spontane Solidarität nach verheerenden Naturkatastrophen, nichts gegen Steuergelder für Nothilfe. Aber in der Entwicklungshilfe müssen wir den Mut haben, einen einmal eingeschlagenen Weg als falsch zu erkennen und umzukehren. Die Armut nimmt in den meisten afrikanischen Staaten – trotz hoher Einkünfte durch Bodenschätze – immer noch zu.
Menschen wertschätzen Dinge danach, welche Opfer sie für sie bringen müssen. Es darf keine Gratis-Hilfe sein. Es muss sichergestellt werden, dass ein, auch nicht zu geringer, finanzieller Beitrag zum Beispiel von den Dorfbewohnern geleistet wird. Damit geht man sicher, dass angemessene Selbsthilfe-Maßstäbe nach Lebensstandard, Wohlstand und Gesundheit gesetzt werden. Durch die Selbstbeteiligung (hat sich beim Brunnenbau und Schulbau bewährt) kann auch die meist problematische Wartung (das Dorf bestimmt Verantwortliche) gesichert und Diebstahl verhindert werden. Unbedingt müssen aber die Dorfbewohner die Anlagen vor der Installation akzeptieren. Die Hoffnung, die Leute werden schon kooperieren, wenn ein Projekt einmal arbeitet, kann zu einem weiteren Fehlschlag führen. Grundsätzlich ist es positiv, ohne großen administrativen Aufwand den Armen zu helfen. Wer kleine Ziele hat, kann erfolgreich sein. Wer spenden will, sollte darauf achten, dass die Wirksamkeit geprüft wird, und zwar nicht von der Organisation selbst.
Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Buches „Afrika wird armregiert“, das im Herbst 2014 in erweiterter siebter Auflage bei dtv erschienen ist.