Necla Kelek, Gastautor / 15.09.2009 / 17:12 / 0 / Seite ausdrucken

Der Zweifel und die Frage sind die Eltern der Vernunft

Von Necla Kelek

Die Dankesrede für den Hildegard von Bingen Preis

Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich möchte mich recht herzlich für die Ehre bedanken, mit dem Hildegard-von Bingen-Preis ausgezeichnet zu werden, wobei ich ehrlich gestehen muss, dass mir die bemerkenswerte Äbtissin vom Rupertsberg bis zur Ankündigung, man wolle mir den Preis zukommen lassen, nur als Klostergärtnerin geläufig war. Ich bitte um Nachsicht für diese meine Wissenslücke – zugleich aber führt sie uns schon mitten in das Thema meiner Rede.

An ihr werden nämlich Kulturdifferenzen kenntlich. Dass ich bis zum zehnten Lebensjahr muslimisch-türkisch in Istanbul und der anatolischen Provinz, dann die nächsten zehn Jahre türkisch-deutsch in der niedersächsischen Provinz aufgewachsen bin, hat seine Spuren in so mancher Wissenslücke hinterlassen. Sie zu schließen, bedeutet ständige Aneignung, Arbeit und Auseinandersetzung – so wie Sie sich heute mit fremden Kulturen vertraut machen müssen. So mag man in mir ein lebendes Beispiel für die sogenannte Kulturdifferenz-Hypothese sehen, aber auch für ihre Widerlegung. Wenn Sie gestatten, möchte ich ihnen diesen in der Migrationsforschung oft verwendeten Begriff kurz erläutern.

Kultur ist ein Orientierungssystem und ein Feld der Auseinandersetzungen über Symbole, Bedeutungen und Interpretationen einer Gesellschaft. Die in der Familie erlernten Normen, Werte und Handlungsorientierungen wurzeln in den Erfahrungen, den Traditionen und Werten einer Gemeinschaft und bilden die Identität, das „Wir“- oder Zugehörigkeitsgefühl einer gesellschaftlichen Gruppe. Das gilt sowohl für Familien wie auch für ganze Clans, selbst für Völker, Ethnien oder religiöse Gemeinschaften. Nach Max Weber, dem großen Soziologen und Welterklärer, konstituiert nicht unbedingt der faktische Ausweis, sondern die „gefühlte“ Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe die Identität einer gemeinsamen Kultur. 
Treffen nun qua Migration unterschiedliche Ethnien, Religionen und damit „Kulturen“ aufeinander, führt das unweigerlich zu spürbaren Kulturdifferenzen,  zu unterschiedlichen Auffassungen über scheinbar gleiche Vorgänge und Erscheinungen. Und das meint mehr als den „Kulturschock“, der Sie vielleicht ereilt, wenn sie in einem chinesischen Restaurant süßsauren Quallensalat vorgesetzt bekommen – vielmehr wird die Kulturdifferenz an Werten, moralischen Auffassungen, an Begriffen wie Ehre, Respekt, Anstand und den daraus folgenden Handlungsorientierungen deutlich. Die einen verstehen nicht, warum der türkische Nachbar frühmorgens seinen Teppich ausrollt, um darauf niederzuknien, warum Frauen sich in schwarze Zelte kleiden oder ihre Kinder mit Partnern verheiraten, die die gar nicht kennen. Die anderen verstehen nicht, warum der Arbeitskollege in der Kantine am liebsten Eisbein isst, junge Mädchen in bauchfreien T-Shirts herumlaufen oder Mann und Frau auch unverheiratet zusammen wohnen. Wechselseitiges Unverständnis aber begünstigt Diffamierung, Ausgrenzung oder Gegengesellschaften.

Gesellschaften, die größere Gruppen von Migranten beherbergen, stehen damit vor der Aufgabe, sich entweder zusammenzuraufen oder nebeneinanderher zu leben einen Prozess der Integration, der Assimilation oder der Segregation, des Neben-, Mit- oder Gegeneinanders zu befördern. Befürworter wie Gegner gibt es für jede dieser Optionen. Die einen sagen, eine „Kultur des Konsens“, eine gemeinsame Leitkultur kann, soll und darf es nicht geben. Toleranz heiße: „es lebe der Unterschied“ und der „Respekt“ gebiete es, Unterschiede als gleichwertig zu begrüßen, nur das sei einer freiheitlichen Demokratie angemessen. Dass es so einfach nicht ist mit der „Kulturdifferenz“, dass Freiheit, Ehre oder Respekt ganz anders wahrgenommen, bewertet und gelebt werden, liegt an ihren tief in einem Welt- und Menschenbild gründenden Wurzeln. Der schwarze Tschador, in den sich die arabischen Frauen werfen, wenn sie in Berlin-Neukölln in Begleitung ihrer Männer einkaufen gehen, ist nicht nur ein Kleidungsstück – in ihm vergegenständlicht sich das ganze von einer Religion gebotene Geschlechter-Verhältnis, einer Religion, die Frauen nicht als gleichberechtigte freie Individuen sieht, sondern als untergeordnete Wesen, die sich in der Öffentlichkeit unkenntlich, unsichtbar zu machen haben. Auch in der europäischen Geschichte hat es Jahrhunderte gebraucht, waren Rebellionen und Revolutionen nötig, bis die Grundrechte des Einzelnen und ihre Gewährleistung durch den Staat durchgesetzt werden konnten. Dazu bedurfte es der Zurückdrängung des Religiösen in weltlichen Fragen. Heute können wir sagen: Religion gehört zu unserer Freiheit, aber sie steht nicht über ihr.

Die Migrationsforscher führen noch eine weitere Theorie in die Debatte ein: die Modernitätsdifferenz-Hypothese. Die besagt, trivial formuliert: Unterschiede sind nicht kulturell oder religiös, also in den Werten, sondern sozial, ökonomisch und gesellschaftlich, also materiell begründet. Sie werden sich im Laufe der Zeit durch die zwangsläufige Modernisierung, der alle Gesellschaften unterliegen, angleichen. Es ist der alte Glaube an die eherne Logik des Fortschritts, der hier fröhlich Urständ feiert. Viele Beispiele aus der Geschichte zeigen uns, dass wir gut daran tun, darauf nicht zu setzen – er unterschätzt sträflich das Moment der Gewalt in der Geschichte und verleitet dazu, abzuwarten statt zu handeln, zuzuschauen statt einzugreifen und die Auseinandersetzung zu suchen.

Auch ein Blick auf die gegenwärtige Bundesrepublik widerlegt die These von der Modernitätsdifferenz. So gelungen die Integration von Polen und Vertriebenen, später von Griechen, Italienern, Spaniern, Portugiesen und Vietnamesen verlaufen ist, die alle unser Gemeinwesen bereichert haben, so wenig will das bisher mit einem Teil der muslimischen Bevölkerung klappen. Warum das so ist, kann diese Theorie nicht erklären. Auch wenn mein eigener Lebensweg, dass ich es aus dem kleinen evi, dem Haus in Anatolien, bis in diesen schönen Saal geschafft habe, für die Modernisierungsthese zu sprechen scheint, so müssen außer harter eigener Anstrengung noch ganz andere Umstände hinzukommen – in meinem Fall war es auch die Solidarität und Hilfsbereitschaft meiner deutschen Kollegen und Kommilitonen. Es gibt keine „invisible hand“, keine unsichtbare Hand, die dem Einzelnen zum Wohlgefallen aller den Integrationserfolg beschert.

Viele, zu viele schaffen es nicht oder wollen es auch gar nicht schaffen, in dieser Gesellschaft anzukommen. Viele, zu viele rechtfertigen ihren Weg in die Segregation der Parallelgesellschaft mit kulturellen und religiösen Vorbehalten gegen diese Gesellschaft. Ihre Religion gebiete ihnen, so das Argument, ein anderes Leben als jenes, das hierzulande gelebt werde. Religion kann ein Segen, eine großer Kraftspender sein, sie kann mutig machen und dazu befähigen, gegen Tyrannen aufzustehen – auch dafür gibt es in der Geschichte Beispiele. Aber sie wird zum starren „Gehäuse“, wenn sie die Unterwerfung unter ein Kollektiv einfordert, das höher erachtet wird als die Würde des Einzelnen. Dann wird Religion zum Fluch und Verräter an der Freiheit.

Zu Recht werden Sie sich inzwischen fragen, was denn dies alles um Himmels willen mit Hildegard von Bingen zu tun haben möge?  Auf den ersten Blick wenig, ein zweiter Blick aber zeigt uns, dass in ihrer Zeit die Weichen für eine Entwicklung gestellt wurden, mit der die Kulturdifferenz eingeleitet wurde, die uns heute zu schaffen macht. Sowohl für den Herrschaftsbereich des Islam wie für des Christentums markiert diese Zeit einen Wendepunkt. 

Folgen Sie mir ins Hochmittelalter, um einen Blick auf die damals bekannte Welt von Mainz bis Teheran zu werfen. Es ist nicht nur das Zeitalter prägender Persönlichkeiten, wie Hildegard, Ibn Rush, Al-Ghazali, Friedrich Barbarossa, Papst Innozenz III., Walter von der Vogelweide und Thomas von Aquin. Es ist auch die Zeit der Glaubenskriege, der Kreuzzüge, der Beginn der Inquisition in Europa, des aufkommenden Osmanischen Reichs und der Herrschaft der Fatimiden im Nahen Osten. Es gibt die Ritterturniere und den Minnesang, Klöster, Derwischorden und Koranschulen. Es ist das Jahrhundert der Mystik und der Wissenschaft, der Philosophie und der Religion, und des frühen Zusammenpralls der Kulturen.
Von dieser Welt möchte ich erzählen und dazu einige ihrer Hauptdarsteller auf die Bühne bitten, von denen Ihnen zwei vermutlich nicht sehr bekannt sind: Abu Hamid Al-Ghazali (1058-1111), der wohl berühmteste islamische Theologe, Philosoph und Sufi-Mystiker aus Tus in Persien, und sein intellektueller Kontrahent Ibn Rushd, bekannter als Averroes (1126-1198), spanisch-arabischer Philosoph, Arzt und Mystiker des Islam und geistiger Anreger von Thomas von Aquin. Hildegard von Bingen muss ich Ihnen nicht näher vorstellen: charismatische Benediktinerin, ausgestattet mit unbändiger Neugier, Wissensdurst und einem erfrischenden Selbstbewusstsein – eine Leuchte in zuweilen finsteren Zeiten, die selbst Päpste in ihren Bann zog.

Die Kirche ihrer Zeit hatte sich 1054 gerade in Byzanz und Rom gespalten, der römisch-katholischen Kirche stand ein Papst vor, der Heiliger, weltlicher Fürst und Steuern eintreibendes Finanzamt zugleich war. Die Kirche war erstarrt, demütigte Könige, verfolgte all jene, die sie zu Ketzern erklärte und schuf sich schließlich mit der Inquisition eine mächtige Institution, die das christliche Europa für Jahrhunderte in Angst und Schrecken versetzen sollte.

Charismatischer, innovativer und entschlossener trat der von Süden vorrückende Islam auf, der nicht nur Arabien, sondern auch Nordafrika bis Andalusien erobert, Sizilien eingenommen hatte und das Mittelmeer beherrschte. Der militärische Erfolg der muslimischen Krieger gründete auf der Gewissheit, in jedem Kampf nur gewinnen zu können – wer überlebte, erhielt einen Teil der Beute, wer den Tod fand, dem winkten als Märtyrer die Wonnen des Paradieses – Jungfrauen, Knaben und Wein, alles was im irdischen Leben verboten war. Der erste Kreuzzug, zu dem Papst Urban II. 1095 aufrief,  war der Versuch eines Entlastungsangriffs gegen den allgegenwärtig drohenden Djihad der Glaubenskrieger. Denn die Seldschuken standen vor den Toren von Byzanz, die Osmanen hatten die Stadt des ersten Konzils Nicäa eingenommen und zu ihrer Hauptstadt gemacht.

Es war eine Zeit, in der die „Papstkirche“ weltlich und geistig zunehmend erstarrte, immer größere Herrschaftsansprüche erhob und zu Kriegen im Namen Gottes aufrief. Die von ihr vertretene Moral, eine Beichtmoral, wurde immer rigider – durch Geschlechtslust werde die Erbsünde übertragen. Für jene, die der Kirche dienten, sei ein strenges Zölibat erforderlich. Dies und die Klerikalisierung der Kirche führten zur großen theologischen Debatte über das Dogma der jungfräulichen Empfängnis. Während in der katholischen Kirche aus der gefallenen Jungfrau langsam aber sicher die Gottesmutter wurde, ein Prozess, den der Kulturphilosoph Martin Burckhardt genauer analysiert hat, der zu Ehren Kathedralen erbaut werden, wird Gottes Sohn Jesus, der aller Menschen Sünde auf sich genommen und dadurch Vergebung, Gnade erreicht hat, in diesen Sakralbauten in eine Nische verbannt. Es gab nur einen Ort, an dem die Frauen dieser Zeit dem Patriarchat entkommen konnten: das Kloster. Das kirchliche Ideal für das Dasein der Frau war die geschlechtslose Nonne. Als Braut Gottes hatten sie wiederum Freiräume, die sonst Frauen ihrer Zeit verwehrt wurden. Noch bei Thomas von Aquin ist die reale Frau „etwas Mangelhaftes und Misslungenes“.
Hildegard von Bingen nutzte im Kloster diese Freiräume auf vielfältige Weise. Sie unterlief die Körperfeindlichkeit des Klerus durch anschauliche Schilderungen in ihren beiden medizinischen Werken „Physika“ und „Ursachen und Heilungen““ – hier wird die Sexualität realistisch dargestellt, selbst der Geschlechtsverkehr und das Lustempfinden. Dass sie sich solche Freiheiten nahm, blieb nicht ohne Widerspruch. Die Enge der geistigen Welt führte sie zwangsläufig auf einen anderen Weg der Freiheit, den der geistigen, spirituellen Freiheit – der Mystik. In ihrem Zwielicht ließ sich manches suchen, was die Welt draußen nicht zu suchen erlaubte, ließen sich Visionen heranziehen, wo das Argument versagte. Die Entdeckung der visionären Autorität des Ichs und der inneren Freiheit ist ein großes Thema der Selbstbehauptung gegen die durch die Religion auferlegten Verbote. Nicht nur in der europäischen Welt.

Über viertausend Kilometer entfernt lebte und lehrte fast zur gleichen Zeit Muhammed al-Ghazali, einer der einflussreichsten, umstrittensten Philosophen, der später, als Wächter über Scharia und Islam, auch „das Argument des Islam“ genannt wurde. Vorher war er durch alle Höhen und Tiefen der Philosophie und Theologie gegangen. Als junger Mann hatte er Theologie und Rechtswissenschaft studiert und an der Autoritätshörigkeit der Hanbaliten gezweifelt, die den Kanon der Prophetenüberlieferung erstellt, das „Tor der selbständigen Rechtsfindung “ geschlossen hatten. Nur die Nachahmung, taqlid oder Analogieschlüsse, ightihad, waren noch zugelassen, selbständiges Denken war untersagt. Geschult an griechischen Philosophen wie Aristoteles versuchte Al-Ghazali, zweifelsfreie Gewissheit in Gott zu erlangen, verfiel aber zunehmend der Skepsis und verlor sein Vertrauen in die Vernunft. In der Mitte seines Lebens zog er sich ganz in die Mystik der Sufis zurück, die er als „gänzliches Versinken des Herzens in der Anrufung Gottes“ empfand. Hier, nur hier, werde man den Gottesbeweis finden. Er hoffte, als wandernder Derwisch spirituelle Freiheit im Rückzug von der materiellen Welt zu finden, die damals von den mörderischen Seldschuken bestimmt wurde.

Schließlich lehnte er die Philosophie als eigenen Weg zur Wahrheit ab und verteidigte im Koran die Offenbarung und die darin verbürgte Erschaffung der Welt durch Allah. Al-Ghazali war es letztlich, der den Islam mit seiner „Widerlegung der Philosophen“ gegenüber jedwedem Zweifel versiegelte und die Religion damit in jenes Gehäuse verbannte, das ihr jede Möglichkeit zu Innovation, Weiterentwicklung und Modernisierung raubte.

In seiner Schrift „Wiederbelebung der Wissenschaft in der Religion“ stellte er – ähnlich wie Hildegard von Bingen es in ihrem „Buch der Lebensverdienste“ (Liber Vitae Meritorum) unternahm – Laster und Tugenden einander gegenüber und entwickelte schließlich einen Leitfaden für eine an der Scharia orientierte wahrhaft muslimische Lebensführung. Nicht zu seinen Lebzeiten, erst später wurden seine Schriften zu einer Art Katechismus eines gottgefälligen Lebens. Die Sprüche und Empfehlungen, die er beispielsweise in seinem „Buch der Ehe“ versammelte, lieferten all die Argumente und Begründungen, die die patriarchalische, diskriminierende Haltung des Islam zu den Frauen bis heute bestimmt. „Eine Matte im Winkel des Hauses ist besser als eine Frau, die nicht gebiert“, soll der letzte Prophet, Mohammed, über eine kinderlose Frau geurteilt haben.

Al-Ghazalis großer intellektueller Gegenspieler auf muslimischer Seite wurde 1126 in Cordoba, in El-Andalus geboren, hieß Ibn Rushd und wurde Averroes genannt. Er war Hofarzt in Marrakesch, Richter in Sevilla und Cordoba und übersetzte die Werke Aristoteles und kommentierte sie. Damit gab er Europa zurück, was Jahrhunderte lang verloren schien – oder verboten war – und entfachte damit ein neues Denken, das letztlich in die europäische Aufklärung mündete. Averroes Befassung mit der Aristotelischen Logik ließ ihn in Widerspruch zu Al-Ghazali treten und führte zur Trennung von Offenbarung und Philosophie – der deutsche Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing sollte Jahrhunderte später mit dieser Unterscheidung seinen Angriff gegen die „Buchstabenhörigkeit“ der christlichen Orthodoxie munitionieren und fordern, die Bibel, das heilige Buch der Christen, als historisches Dokument zu lesen. Nur so, schrieb Lessing, könne die Vernunft von der „Gefangennehmung unter den Gehorsam des Glaubens“ befreit werden.

Lessing wurde für solche Gedanken die Zensurfreiheit entzogen, aber ihm blieb das Theater, um den Kampf für den „freien und öffentlichen Gebrauch der Vernunft“ fortzusetzen; der Preis, den Averroes zu zahlen hatte, war existentieller: Er erregte mit seinen Schriften das Missfallen der Ulemma, der Rechtsgelehrten, solche Gedanken stifteten Unruhe, schürten Zweifel und untergruben die Einheit der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, wetterten sie. Der Kalif, der ihre Unterstützung im Kampf gegen die christliche Reconquista brauchte, die das seit Jahrhunderten in arabischer Hand befindliche Andalusien zurückerobern wollte, folgte ihrem Urteil. Er verbannte Ibn Rushd und ließ seine Werke verbrennen. Mit ihm verschwand das philosophische Denken aus dem Islam. Es war das vorläufige Ende der arabischen-islamischen Philosophie, die bis dahin – und noch für einige Zeit – in vielen Bereichen der Wissenschaft dem „Westen“ weit voraus war.

Averroes’ Wirkung auf das christliche Europa – und auf das Judentum – war dafür umso grundstürzender.  Mit der Trennung von Vernunft und Glauben war das Tor zur „Lehre von der doppelten Wahrheit“ aufgestoßen, weder Thomas von Aquin, der entschied, die Philosophie habe die „Dienstmagd der Theologie“ zu sein, noch den zahlreichen Bannflüchen der Kirche gelang es noch, den Geist zurück in die Flasche zu drängen. Offenbarung und Wissenschaft, Glaube und die „Lehre von Gott“, Philosophie und Theologie entwickelten sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte immer weiter auseinander und schafften Raum für neue Erkenntnisse.

In den europäischen Gesellschaften bildete sich – um es verkürzt zu sagen – eine rationale Wissenschaft heraus, die den Zweifel und damit so etwas wie „Geschichte“ zuließ – man begann, sich und seine Zeit als historisch und damit veränder- und wandelbar zu begreifen. Die Gesellschaften wurden zukunftsoffen und damit der bewussten Gestaltung zugänglich. Geschichte wurde nicht mehr als Ausdruck höherer Vorsehung begriffen, sondern als von Menschen gemachte. Gott zog sich aus der Geschichte zurück – das mag, und viele empfinden es bis heute so, eine Leerstelle hinterlassen haben. Nun wurde dem Menschen die alleinige Verantwortung dafür auferlegt, was er aus seinem irdischen Dasein zu machen versteht. Freiheit bringt auch Zumutungen mit sich, auch in ihren Nachtseiten, in den „Frösten der Freiheit“ – um ein Bild der Schriftstellerin Gisela von Wysocki zu verwenden – muss der Mensch zu leben lernen.

Das von Al-Ghazali aufgestellte Dogma der Überzeitlichkeit des Islam hingegen und die damit verbundene „Versiegelung“  der überlieferten Texte und Riten führten dazu, dass die Religion zur Fessel wurde für eine Gesellschaft, die bis dahin in der Mathematik, Medizin, Astronomie, und Philosophie ganz außergewöhnliche, dem christlichen Europa weit überlegene Leistungen hervorgebracht hatte. Nicht in der Zukunft, in einer weit zurückliegenden Vergangenheit wurde das Ideal gesucht: Mit dem im Jahr 622 erfolgten Auszug Mohammeds aus Mekka nach Medina, der Verkündung des Islam und der Einigung der arabischen Stämme unter eine Religion wurde die „Zeit der Unwissenheit“ beendet. 

Das Gegenteil trat ein: Eigentlich begann jetzt eine „Zeit der Unwissenheit“.  Aus den islamischen Gesellschaften verschwand jede Innovation. Noch heute gibt es unter ihnen keine Volkswirtschaft, die der Welt irgendeinen technischen Fortschritt beschert hat; und die Bildungsstudien der OECD weisen deprimierende Werte bei der Lese- und Schreibfähigkeit der Bevölkerung islamischer Länder aus. Ins Arabische werden noch heute fünfmal weniger Bücher übersetzt als in den viel kleineren Sprachraum des Griechischen. Die Versiegelung des Denkens führte zur Verkümmerung der Neugier.

Dass wir im Heute leben, ermöglicht uns ein anderes Verhältnis zur Vergangenheit. Wir können die Texte, Rezepte oder Lieder der Hildegard als persönliche Zeugnisse einer für ihre Zeit ganz ungewöhnlichen Frau nehmen. Von ihrer Neugier können wir lernen, ohne ihre mystischen Implikationen teilen zu müssen. Auch wenn wir ihre Visionen und Offenbarungen für überzogen halten mögen, können wir das, was Hildegard uns an Wissen und praktischen Mitteln geschenkt hat, nehmen, nutzen und ganz profan-banausisch sagen: Warum nicht?  Wenn es hilft!

Niemand wird beleidigt sein, wenn wir nicht mehr glauben, sondern wissen wollen und mit Lust unsere Zweifel artikulieren. Denn wir wissen, dass der Zweifel und seine kluge Schwester: die Frage, die Eltern der Vernunft sind, die uns das größte aller Geschenke gebracht hat: die Freiheit.

Dem Islam, jener Religion, Weltanschauung und Ideologie, die bei uns bisher nicht durch ihre geistige oder spirituelle Attraktivität, sondern durch Zuwanderung an Bedeutung gewinnt, fehlt ein solcher Zweifel an sich selbst. Er hatte die historisch einmalige Chance – durch Ibn Rushd und andere – zur Selbstaufklärung, er hat sie verschenkt. Die Profiteure waren die anderen. Diese Erbschaft, an der wir säkularen Muslime spät, aber vielleicht noch rechtzeitig unseren Anteil nehmen wollen,  legt uns auch die Verantwortung auf, alles zu tun, um jenen Austausch, jene Auseinandersetzung, die dereinst so fruchtbar zur Entstehung des aufgeklärten Europa beigetragen hat, wieder zu befördern – auch um jene, die um solche Früchte betrogen wurden, aus dem Gehäuse, von den Fesseln einer Unterwerfungsreligion zu befreien. Wenn wir über dieselben Dinge lachen können, dann wird es soweit sein.

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