Gunnar Heinsohn
Als Expertin für den Bildungsaufstieg der türkischen Migranten wird gerade Naika Foroutan herumgereicht. Doch die beeindruckenden Erfolge, von denen sie berichtet, dokumentieren eine Irreführung mittels Statistik.
Von “achthundert bis neunhundert Prozent” Abiturzunahme unter Türken spricht die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan und hat damit - zuletzt am 6. September in der “Welt” - Thilo Sarrazin als Irren hingestellt. Diese Zahlen sind keine reine Lüge. Es stimmt, dass von den türkischen Erstankömmlingen in der Bundesrepublik damals nur drei Prozent eine abgeschlossene Ausbildung hatten. 2008 hingegen verfügen nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes immerhin 23,9 Prozent über eine Berufsausbildung. Das reicht knapp für achthundert Prozent. Die Abiturquote liegt allerdings nur bei dreizehn bis vierzehn Prozent.
Es ist aber nicht klar, um welche Türken es dabei vorrangig geht. Sind es Mehrheitssunniten oder überwiegend die in der Türkei verfolgten Aleviten? Sie sind für hohes Bildungsstreben bekannt und bestehen auch bei ihren Töchtern auf Ausbildung. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky teilte dem Autor kürzlich mit, dass fast alle seine Praktikanten für die Verwaltung Aleviten sind.
Für daheim verfolgte Gruppen oder auch für Gruppen, die ganz ohne Bildungssystem auskommen müssen, sind schnelle Bildungserfolge beim Einwandern in Länder mit gebührenfreier Erziehung gut belegt. Hier werden also längst vorhandene Schätze nur gehoben. Selbst für vergleichsweise sehr schlecht abschneidende Gruppen leisten Kindergärten und Schulen eine ganze Menge. So können Gruppen mit einem IQ von 65 auf 85 steigen oder auch solche mit einem IQ von 80 auf 95. Das sind tüchtige Zuwächse, und die werden in den Medien auch euphorisch ausgebreitet. Aber eine längst beschulte 95er-Gruppe auf 115 zu bringen, was in vielen Disziplinen Spitzenleistungen erst möglich macht, gelingt nicht. Gruppen von 120 auf 135 oder gar von 140 auf 160 zu schieben wird nicht einmal erträumt. Das ist der Grund dafür, dass selbst entschiedenste Milieutheoretiker - wenn auch unter Zähneknirschen - maximal fünfzig Prozent der Leistungen für schulisch formbar halten.
Solche Erfolge werden natürlich auch von Sarrazin ohne Wenn und Aber anerkannt. Naika Foroutan aber unterschlägt neben ihren immerhin halbrichtigen achthundert Prozent eine andere Zahl, um die es in der ganzen Debatte allein geht. Der Anteil unter den einreisenden Türken auf Sozialhilfe lag zu Beginn der Einwanderung bei weniger als einem Prozent. Das kann auch gar nicht anders sein, weil sie ja für offene Stellen angeworben wurden. 2008 allerdings liegt in Berlin der Anteil an Sozialgeldempfängern unter Türkischstämmigen laut Auskunft des “Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung” bei knapp fünfzig Prozent. Diese Verfünfzigfachung ist eine Steigerung um fünftausend Prozent. Nur weil sie dieses ungeheure Wachstum unterschlägt, kann Foroutan dann triumphierend nachsetzen: “Sarrazins Deutschland gibt es nicht.”
Doch genau dieses krasse Auseinanderdriften nach dem Eintreten in Gratisbildung kennt die Forschung schon lange. Wer mehr Potential hat, kann mehr daraus machen. Wer weniger davon hat, kann das nun nicht mehr verstecken: “Förderliche Lernumwelten können familiär gegebene Unterschiede sogar verstärken, weil intelligentere Kinder solche Umwelten besser nutzen können” (Heiner Rindermann). Berlin liefert das Lehrbuchbeispiel für diesen Befund.
Gunnar Heinsohn lehrt Sozialwissenschaften an der Universität Bremen.
(F.A.Z., 09.09.2010, Nr. 209 / Seite 32)