Muslimische Communities haben ein ernsthaftes Antisemitismus-Problem

Von Cigdem Toprak.

Die Auseinandersetzung um die Antisemitismus-Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt“ von Joachim Schröder und Sophie Hafner zeigt, dass man die Augen verschließt – vor dem Antisemitismus in seiner modernen Form. Die Begründung von ARTE, dass sich die Doku nicht, wie mit den Produzenten abgesprochen, mit Antisemitismus in Europa beschäftige, sondern stärker mit dem Nahost-Konflikt, zeigt die gesellschaftliche Blindheit bis hin zu Ignoranz gegenüber der Bedrohung, die sich in Europa ausbreitet. 

Die muslimischen Communities haben ein ernsthaftes Antisemitismus-Problem, das durch ein verzerrtes und einseitiges Wissen über den Nahost-Konflikt aufgeheizt und weitergegeben wird. Die sogenannte Israelkritik greift auf antisemitische Narrative, Bilder und Gedanken zurück und reproduziert sie – eingebettet in eine politische Haltung zum Nahost-Konflikt. Wenn junge Muslime von „Juden“ sprechen, dann meinen sie Israel und die Lage im Nahen Osten.

Die Doku ist absolut sehenswert, nicht nur für Arte- und ARD-Zuschauer. Auch für den 40-Jährigen Akademiker mit deutschen oder französischen Wurzeln, der in seiner Altbauwohnung in Berlin oder Paris lebt und beim Antisemitismus an die Parolen der Nazis, an Konzentrationslager und Judengassen aus dem Mittelalter denkt. Diese Doku leistet wichtige Aufklärungsarbeit insbesondere für jene, von denen derzeit die größte Gefahr für europäische Juden ausgeht: Von einem Teil der jungen Muslime Europas.

Können wir es uns erlauben, deren Verhalten zu ignorieren, ganz nach der türkischen Redewendung: „Die Schlange, die mich nicht beißt, soll 1000 Jahre leben“? Hier geht es nicht um anti-muslimische Ressentiments.  In Gesprächen mit antisemitisch eingestellten Freunden oder Bekannten wurde mir klar: Es ist ihnen nicht bewusst, dass ihre Positionen im Nahost-Konflikt auf antisemitischen Narrativen beruhen. Und so lange wir nicht darüber sprechen, schauen wir zu, wie sie zu Opfern von Verschwörungstheorien und zu Verbreitern von rassistischen Äußerungen und Taten werden.  

„Kein Problem mit den Juden, sondern nur mit Israel"

Dabei glauben junge Muslime, politisch Stellung zu beziehen. Es ist oft ein Gefühl für Ungerechtgkeit, das sie antreibt und sie empfänglich macht für Verschwörungstheorien und die einseitige Verdammung Israels als Unrechtsstaat. Sie glauben fest daran, dass der einzige Schuldige Israel ist. Kritik an der Hamas halten sie für israelische Propaganda. Die westlichen Medien, denken sie, sind manipuliert und werden, wie die Finanzmärkte, von den Rothschilds beherrscht.

Und dann sehen sie in dem Erfolg und Einfluss einiger Juden genau das, wofür sie diese so hassen: Sie sagen „Juden sind schlimm“ und meinen damit, dass sie geizig, gierig, auf ihren Vorteil bedacht und nicht vertrauenswürdig seien. Und wenn ich sie darauf hinweise, dass sie sich antisemitisch äußern, sagen sie, dass man das in Deutschland so wahrnehme „wegen Hitler und so“. Dann wechseln sie sofort zum Thema Nahost und behaupten, sie hätten „kein Problem mit den Juden, sondern nur mit Israel".

Sie sagen nicht, „Juden sind das Übel der Welt“, sondern „Israel ist das Übel der Welt“. 

Es herrscht eine Obsession mit dem Thema. Und gerade deshalb ist es so wichtig, dass europäische Journalisten Stimmen aus Gaza einholen, in denen Bürgerinnen und Bürger sich kritisch gegenüber der Hamas äußern. Auch Muslime müssen verstehen, dass dieser Konflikt eben ein Konflikt ist mit unterschiedlichen Interessen, mit Doppelstandards, mit groben Menschenrechtsverletzungen. Kritik an Israel als Staat ist möglich und wichtig – und auch der Einsatz für die Palästinenser in den besetzten Gebieten ist legitim, wenn man sich für das Leid der Menschen in der Region interessiert, nicht für den Machterhalt der Hamas.

Aber nicht durch Hetze, nicht durch Verschwörungstheorien, die antisemitische Stereotype bedienen und sie reproduzieren. Wenn wir nicht damit beginnen, in Deutschland über den versteckten Antisemitismus zu sprechen, bei den Linken, bei den Religiösen, bei den politisch interessierten jungen Menschen mit Migrationshintergrund, dann werden wir es erleben, wie europäische Juden unseren Kontinent verlassen, wie europäische Muslime ganz schnell aufgehetzt werden können (wie die eindrucksvollen wie erschreckenden Bilder der Doku aus Frankreich zeigen) und wie unser Wunsch nach einer  bunten, toleranten und weltoffenen Gesellschaft zusammenbricht. Die einen flüchten, während die anderen hassen. Und wir schauen zu.

Cigdem Toprak  ist 30 Jahre alt, freie Journalistin und Autorin. Sie bloggt auch auf www.cigdemtoprak.de über Kultur, Politik und Gesellschaft in der Türkei und Deutschland, insbesondere über Integration, Minderheitenpolitik und Frauenrechte.

Foto: Ildar Sagdejev Specious GFDL via Wikimedia

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Leserpost

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Frances Johnson / 18.06.2017

Ich war vor einigen Jahren mit einem türkischen Taxifahrer unterwegs. Es war gerade ein Gaza-Krieg zugange, und irgendwie kamen wir darauf. Er begann mit dem üblichen Narrativ. Ich wusste erst nicht, ob ich mich überhaupt dazu äußern sollte. Schließlich sagte ich: “Ich sehe das etwas anders.” Wir gerieten in ein Gespräch darüber. Als ich ausstieg, meinte er, er hätte sich gern länger mit mir darüber unterhalten. Ich denke, man sollte etwas mehr kontra geben, aber vorsichtig und mit Fakten. Die Politik macht genau das Gegenteil, Sie ist eine ängstliche Tante, die meint, wenn Tacheles in Maßen geredet würde, gäbe es gleich Aufstände. Der Unterschied zwischen Juden und Muslimen ist, dass Juden Widerrede vertragen, weil sie die immer hatten. Wenn Muslime keine Widerrede kriegen, wird man sie auch nie daran gewöhnen können. Ich habe diesem Taxifahrer vorsichtig Widerrede gegeben, und er war davon angetan. Manchmal denke ich, dass die normalen Menschen unter den Muslimen sich geradezu danach sehnen, denn erst mit Widerrede werden sie vollwertig. Unsere Politiker nehmen diese Menschen nicht als vollwertige Kontrahenten an, meinen, jeder Konflikt führe geradlinig zum nächsten Terrorattentat, und das ist sicherlich verkehrt. Und hier kann man auch das Duckmäusertum von Arte einordnen. Keine Scholls mehr, nirgends. Danke für Ihr Stück hier.

Caroline Neufert / 18.06.2017

Wir können uns gern einmischen, anmaßen und den Dreck vor fremden Türen wegräumen,  Der Film hatte die Aufgabe, den Dreck vor der eigenen Haustür und im Haus zu zeigen. Er tat es nicht, außer ein paar nicht zu übersehender bekannter Dreckhaufen. Ein Film wird nicht besser, wenn egal woher und mit wenig Geist gesegnete Befürworter zu Wort kommen und Beifall klatschen. “Muslimische Communities haben ein ernsthaftes Antisemitismus-Problem”. Gibt es ein nicht ernsthaftes .... ? Zunächst haben Muslime kein Problem. Das Problem haben andere. Alles wird nicht besser, was im Grundsatz falsch oder schlecht “angelegt”, auch wenn es von Hunderten, Tausenden, Millionen bejubelt wird.

Belo Zibé / 18.06.2017

Sehr geehrte Frau Toprak, wieviel Muslime und vor allem muslimische Organisationen in Deutschland haben den Wunsch nach einer bunten, toleranten , weltoffenen Gesellschaft und setzten eindeutige Zeichen hierzu? Vom Engagement muslimischer Organisationen ist so gut wie nichts wahrnehmbar.Dabei sind gerade sie es, die jungen Muslimen Wegweiser sein könnten. Der letzte Absatz Ihres Artikels relativiert die klare Aussage der Überschrift, indem Sie vom versteckten Antisemitismus in Deutschland bei Linken und sehr schwammig von Religiösen und politisch interessierten Menschen mit Migrationshintergrund schreiben. Nicht wir schauen zu,dass europäische Muslime ganz schnell aufgehetzt werden können, sondern die muslimischen Communities.

Daniela Gmeiner / 18.06.2017

Sehr geehrte Frau Toprak, vielen Dank für Ihren Artikel. Ich habe den gegenständlichen Film vor ein paar Tagen auf “YouTube” gesehen und kann Ihnen deshalb nur vollinhaltlich zustimmen. In diesem wirren Land, darf nicht sein, was nicht sein darf.

Wilfried Cremer / 18.06.2017

Das Problem ist erst gelöst, wenn Koran und Islam vergessen sind.

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