Es gibt immer wieder Probleme, die gären lange und fast völlig unbemerkt unter der Oberfläche. Nur nach und nach sind sie zu spüren, diffus, kaum konkret fassbar, aber doch immer heftiger. Und dann gibt es den Moment, in dem sich das Ganze Bahn bricht. Selbst noch an diesem Punkt ist den meisten die komplexe und sich nun als völlig neue Herausforderung darstellende Lage nur schemenhaft klar. Wenigen ist es gegeben, Formulierungen zu finden, um besagte Probleme zu benennen. Nur die Mutigsten ringen sich zu Postulaten durch.
Führende deutsche Nachrichtenmagazine wollen jedoch immer wieder dazugehören. Mit ihren aktuellen Titeln beweisen sowohl der Spiegel („Süßes Gift. Wie die Zucker-Lobby uns belügt und verführt“) als auch der Focus („Fahr Rad! Auf zwei Rädern in die Zukunft: Welches Modell zu ihnen passt“) ein außerordentlich feines Gespür für den Puls der Nation.
Auch große deutsche Parteien stehen dem nicht nach. Bis vor kurzem verorteten viele CDU und CSU tief im konservativen Lager. Weit gefehlt! Die „WerteUnion“ (ein „bundesweiter Zusammenschluss von Mitgliederinitiativen“ beider Parteien) macht darauf aufmerksam: Insbesondere die CDU müsse sich wieder auf ihren Markenkern besinnen.
Ständiges Augenreiben
Ein „Konservatives Manifest“ wurde am 7. April verabschiedet. Erstaunliche Dinge werden beim Namen genannt. Wer bisher treu den Aussagen der Vorsitzenden und ihrer wechselnden Generalsekretärinnen und -sekretäre gefolgt ist, kommt beim Lesen mit dem Augenreiben gar nicht mehr hinterher. So vieles ist einem bislang entgangen. Seit wann gibt es „ungesteuerte Zuwanderung in Deutschland und in unser Sozialsystem“, welche abzuwenden sei? Wen interessiert eine „europäisch-deutsche Leitkultur“? Wieso muss „insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam“ geführt werden? Und was verbirgt sich hinter der Forderung nach einer „deutlich“ verbesserten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr? War die bislang nicht gegeben? Wieso soll die aktuelle Energiepolitik überprüft werden? Ist die nicht gut? Was hat es mit der „Stärkung des Leistungsprinzips in der schulischen und universitären Ausbildung“ auf sich? Setzen Bildungseinrichtungen nicht seit jeher auf Leistung? Gibt es denn nicht längst „Freiheit in Forschung, Lehre und Bildung“? Warum lehnt die „WerteUnion“ einen „EU-Zentralstaat“ ab? Hat den etwa jemand geplant?
Auch die SPD setzt Wegmarken und geht voran. Man schaue nur die entsprechende Passage der Tagesschau vom 9. April an. Hier wird über die „Grundsätze für eine Erneuerung“ der SPD berichtet, welche die Parteispitze vorstellte. In der Partei solle „mehr und anders debattiert“, sie solle „vielfältiger und lebendiger“ werden. Vier Schwerpunkte gebe es: Wachstum und Wohlstand, Zukunft der Arbeit, ein bürgerfreundlicher Staat und die Außenpolitik. SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel spricht es deutlich aus: Man müsse heraus aus der „Beobachterrolle“, hinein in eine „Gestaltungsrolle“. Als wäre dies für das offenbar neue Selbstverständnis einer politischen Partei noch nicht bahnbrechend genug, fügt die parteiranggleiche Natascha Kohnen hinzu: „Wir gehen wirklich auf Visionen hinaus… Wie soll sich der Staat entwickeln, wie soll sich das Verhältnis entwickeln in der Welt, in Europa?“ Die drängendsten Zeitzeichen könnten kaum besser umrissen werden. Da freut sich nicht nur der Genosse auf den bevorstehenden Bundesparteitag.
Man sieht also: Ohne die – momentan nicht mehr ganz so großen, aber das klärt sich sicher bald wieder – deutschen Medien und Parteien würden viele von uns ganz schön alt aussehen. Vor uns hindümpelnd, wüssten wir nur wenig vom Lauf der Welt. Wir wären abgehängt. Und wozu die Abgehängten fähig sind, das wissen ja Nachrichtenmagazine, CDU und SPD ganz genau. Deshalb wollen sie uns ja auch fürsorglich davor bewahren, zu denen zu gehören.
Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.