Beim Stichwort Washington denkt der Fernsehzuschauer heutzutage an «House of Cards», die viel gelobte Fernsehserie um den skrupellosen Kongressabgeordneten Frank Underwood. Fällt dagegen das Wort «Brüssel», kommt ihm nach längerem Nachdenken vielleicht Rolf-Dieter Krause in den Sinn, ein schnauzbärtiger ARD-Korrespondent, der seit nunmehr 14 Jahren vom EU-Hauptsitz berichtet – und dies gerade so kritisch, wie es das grosse Ziel der europäischen Einigung eben noch zulässt.
Die Mission, auf die sich «Politico» eingelassen hat, ist also keine einfache: Gestern hat das amerikanische Magazin zusammen mit seinem Partner, dem Axel-Springer-Verlag, eine europäische Ausgabe gestartet: politico.eu.
In Amerika gibt es «Politico» seit 2007; damals gründete der Washingtoner Verleger Robert Albritton zusammen mit Ex-Mitarbeitern der «Washington Post» ein neuartiges Medium, das etablierte Blätter schon bald das Fürchten lehrte.
«Politicos» Erfolgsformel bestand in einer Mischung aus Insiderinformationen und gekonntem Storytelling: ein Angebot für Polit-Nerds, das es gleichzeitig fertigbrachte, glamourös zu wirken: Wenn Charles Schumer, der demokratische Senator aus New York, im Fitnesscenter des Washingtoner Kapitols auf dem Hometrainer strampelnd versucht, mit Abgeordneten der Gegenseite ins Gespräch zu kommen, sind «Politico»-Leser mit dabei.
Gestern Morgen machte die US-Ausgabe von «Politico» mit einer Geschichte über die demokratische Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton auf: Peter Schweizer, ein konservativer Autor, gibt vor, brisante Informationen darüber zu haben, wie das Ehepaar Clinton zu seinem Vermögen kam. Zeitungen wie die «New York Times» und die «Washington Post» haben laut «Politico» Deals mit Schweizer abgeschlossen, um dessen Material gegebenenfalls ausschlachten zu können.
Ein möglicherweise dubioser Informant, der Verdacht auf krumme Geschäfte und eine Kandidatin, die als Favoritin ins Rennen ging und nun auch im zweiten Anlauf spektakulär scheitern könnte – das ist der Stoff, aus dem Dramen sind. Washington hat Hillary Clinton, Brüssel hat Jean-Claude Juncker. Politico.eu machte denn an seinem ersten Tag auch mit dem EU-Kommissionspräsidenten auf, genauer gesagt mit einem Interview zur griechischen Schuldenkrise. Eine Pleite Griechenlands, so führte Juncker aus, würde «Folgen haben, deren Ausmass bisher kaum abzuschätzen ist». Einen Austritt des Landes aus der Eurozone schloss er «zu 100 Prozent» aus. Eine Aussage, die weder besonders brisant noch überraschend war und der man Glauben schenken konnte oder auch nicht.
Lange hielt sich das Interview denn auch nicht zuoberst: Schon bald wurde die Juncker-Story von einem Stück über Marion Maréchal-Le Pen abgelöst, die Enkelin des französischen Rechtsaussen Jean-Marie Le Pen und Nachwuchshoffnung des Front National. Politischer Extremismus, eine Dynastie und 25-jähriges blondes Gift – das war nun eine gute Geschichte, doch freilich auch eine aus dem Bereich der nationalen Politik. Nach vergleichbar interessanten Figuren muss man in Brüssel lange suchen.
Also war es noch einmal an Jean-Claude Juncker, für etwas human touch zu sorgen. Dieser, so wurde bekannt, begann nach dem Rückweg von einem Mittagessen auf einmal auf und ab zu hüpfen, zur verständlichen Verwunderung seiner Mitarbeiter. Er leide unter Nierensteinen, verriet Juncker. Durch das Herumgehopse versuche er, diese loszuwerden. «Ärzte haben mir gesagt, mit Nierensteinen zu leben, sei schmerzhafter als die Beschwerden einer Schwangeren in der 19. Stunde des Geburtsvorgangs», erzählte er Carrie Budoff Brown, «Politicos» aus Amerika importierter Star-Reporterin.
Wenige Monate zuvor hatte Budoff Brown noch für das US-«Politico» aus dem Weissen Haus berichtet. Ihr anstehender Umzug nach Europa beschäftigte selbst den Präsidenten: «Eine ‹Politico›-Ausgabe, das ist zweifellos das, was Belgien braucht», foppte Barack Obama die Reporterin im Dezember, nachdem Budoff Brown auf einer Pressekonferenz von ihren Plänen berichtet hatte. «Übrigens gibt es dort ausgezeichnete Waffeln.» Eben noch schäkerte sie mit dem mächtigsten Mann der Welt, nun sind es Junckers Nierensteine, die sie beschäftigen: Miss Budoff Brown ist in Brüssel angekommen.
Erschienen in der Basler Zeitung: http://bazonline.ch/ausland/europa/Miss-Budoff-Brown-und-die-Nierensteine-des-JeanClaude-Juncker/story/14407347