Rainer Bonhorst / 10.10.2015 / 12:00 / 4 / Seite ausdrucken

Merkel in der Schröder-Falle?

Gibt es ein Gesetz, das große Pragmatiker schließlich doch in den Idealismus treibt und sie darin untergehen lässt? Oder anders gesagt: Hat sich Angela Merkel in die Gerhard-Schröder-Falle begeben?

Schröder hat sich ja über lange Strecken seiner Kanzlerschaft als gewiefter Taktiker gegeben, dem es schwer fiel, die sozialdemokratische Seele überzeugend zu streicheln. Politik als Kunst der Macht, in seinem Falle halblinks betrieben, aber das hätte nicht zwingend so sein müssen. Er gab als Genosse der Bosse eine ebenso gute Figur ab wie als volkstümlicher „Hol-mir-mal-n-Bier“-Kumpel.

Und dann geschah es. Gerhard Schröder wurde von einer Überzeugung ergriffen. Von der Überzeugung, das deutsche Arbeits- und Sozialwesen für das neue Jahrtausend fit zu machen. Hartz IV, spätere Rente, und Entschlackung des Arbeitsrechts. Eine kleine, liberal geprägte Revolution. Ein Modernisierungsschub, von dem wir heute noch leben, obgleich seine Sozialdemokraten inzwischen eine linkskonservative Gegenreformation begonnen haben.

So bleibt unterm Strich nicht Schröder, der Opportunist der Macht sondern Schröder, der Überzeugungspolitiker, der für eine patriotische Sache sein Amt riskierte und verlor und in der Geschichte nun bemerkenswert gut dasteht.

Hat diese Sehnsucht des Pragmatikers, für eine „ideale“ Sache den Untergang zu riskieren, nun auch Angela Merkel erfasst?

Ihr Willkommens-Idealismus angesichts des Flüchtlingsstroms hat ja etwas fast religiöses, jedenfalls moralgetriebenes. Nach Jahren des kühlen Pragmatismus geht sie nun ein gewaltiges Risiko ein für eine Politik, die wunderbar auf eine Kirchenkanzel passt, in der politischen Praxis aber höchst problematisch ist. Der Aufstand ihrer eigenen Leute und vor allem der CSU zeigt deutlich die Gefahr, in die sie sich begeben hat.

Noch sieht es nicht so aus, als würde sie darin umkommen. Aber das Risiko, das sie eingeht, ist untypisch für die sonst kalkulierende Naturwissenschaftlerin. Offenbar betrachtet sie den Flüchtlingsstrom nicht nur als ein Problem, das praktischer politischer Lösungen bedarf, sondern als einen moralischen Auftrag. Kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Oder amerikanisch: Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free.

Die kauernden Massen sind schon lange nicht mehr das Ziel der amerikanischen Willkommenskultur. Deutschland aber, das Jahrzehnte lang bei geschlossenen Augen so tat als sei es kein Einwanderungsland, soll nun, folgt man Angela Merkel, plötzlich ein Hort der kauernden Massen werden. An das Märchen, aus Syrien kämen lauter Akademiker, glaubt sie sicher nicht.

Sollte sie nicht schaffen, wovon sie meint, wir schaffen das, dann wird sie einerseits - wie Schröder - als Gescheiterte dastehen, andererseits als die Kanzlerin, der eine große moralische Geste wichtiger war als ihr Amt. Sie wird als eine Art deutscher Freiheitsstatue in die Geschichte eingehen.

Es sei denn, es sei denn: Ihre scheinbare Moralpolitik gegenüber den Flüchtlingen ist doch nur ein pragmatischer Poker mit Blick auf die herzigen Grünen. Angela Merkel braucht schließlich dringend einen neuen Koalitionspartner. Die Wiederauferstehung der Liberalen ist ungewiss. Der Ausstieg aus der Atomenergie hat das Tor in die grüne Richtung weit aufgestoßen. In der Flüchtlingsfrage wirkt sie nun grüner als Claudia Roth. Wenn sie die Proteste in den eigenen Reihen lange genug übersteht, wird sie die Kanzlerin einer ersten Schwarzgrünen Bundesregierung. (Es sei denn, jemand glaubt ernsthaft, die SPD hätte eine Chance.)

Noch ist also nicht klar, ob Angela Merkel den Schröder macht oder das ganz große Pokerspiel wagt. Schaun wir mal.

Gibt es noch weitere Varianten? Na klar. Hier die bedrückendste: Vielleicht schwimmt sie einfach nur hilflos im Strom der Flüchtlinge und sucht verzweifelt nach einem rettenden Ast. Und Seehofer wirft ihn nicht.

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Leserpost

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Frank Mora / 11.10.2015

Fehler im System Das deutsche politische System krankt an einem entscheidenden Webfehler, den andere reife Demokratien (US, F) erkannt und längst behoben haben. Die fehlende Amtszeitbegrenzung für die höchsten Staatsämter. Bis jetzt sind die Parteien nicht gezwungen, immer wieder neue Talente auf den Schild zu heben und vorher präsidabel zu machen. Das war bei Kohl so, beim Trauerspiel um den Bundespräsidenten (Köhler, Wulff, auch Gauck) und scheint sich bei Frau Merkel zu wiederholen. Hier ist eine Verfassungsänderung geboten, um Machtvergessenheit oder schlicht ungeeignete Politiker mit vielleicht narzisstischen oder psychopathischen Begabungen in ihrem Einfluß auf die Geschicke des Landes zu begrenzen. Dazu gehört aber auch eine Verhinderung des Putin/Milosevic - Trickes mit dem Wechsel zwischen den hächsten Ämtern zur Chefzeitverlängerung.

Alexej Trakhtenbrot / 10.10.2015

Ich vermute einen ganz schnöden Grund für Merkels Verhalten: Trägheit.

Vaclav Endrst / 10.10.2015

Lieber Herr Bonhorst, der Satz, der Angela Merkel als kalkulierende Wissenschaftlerin bezeichnet, muss man als Satire betrachten. Ja Spaß muss sein, aber Naturwissenschaft verlang zu jede These auch Beweis, sonst ist die These bekannte weise falsch und die derzeitige Regierung blühtet nur durch Etikettenschwindel und physikalisch halbwahre Begründungen für sg. Umwelt Vorschriften. Anstatt dort durchgreifen und die Kräfte die so ein Unsinn fabrizieren eliminieren sucht sie dort die Verbündeten für kommende Wahlen. Tolle Aussichten in die Zukunft.

Elke Rottgardt / 10.10.2015

Wie wäre es denn mit der Erklärung, dass sie sich auf einem Höhenflug befindet? Größenwahnsinnig geworden ist? Ich habe nicht den Eindruck, dass Frau Merkel noch klar denkt, was die Voraussetzung für politisches Kalkül wäre.

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