Thomas Rietzschel / 10.02.2015 / 14:39 / 12 / Seite ausdrucken

Merkel gibt den Chamberlain

Es hat einige Zeit gedauert, Jahrzehnte, die zu der Vermutung Anlass gaben, dass die Nachgeborenen nicht wiederholen würden, womit schon die Väter Unheil angerichtet haben; dass sie nicht abermals den Kopf einzögen, wenn die Diktatoren mit der Faust auf den Tisch hauen.

Unterdessen jedoch ist Europa wieder da, wo es niemals mehr hinwollte. Wieder macht ein Despot aus dem Osten dem Westen Beine. Und wieder fühlen sich deutsche Politiker gedrängt, bei der Aufteilung fremder Territorien in Europa mitzumischen - diesmal nicht als unmittelbare Nutznießer, wohl aber als Kombattanten des Aggressors.

Wer sich bei den Verhandlungen, die Angela Merkel in wechselnder Herrenbegleitung mit Vladimir Putin über die Zerschlagung der Ukraine führt, nicht an die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert fühlt, hat entweder den Geschichtsunterricht verschlafen oder er pfeift auf das Völkerrecht, weil er ohnehin an das Recht des Stärkeren glaubt.

Natürlich geht es bei alledem um die Bewahrung des Friedens, so wie 1938, als die Westmächte (Großbritannien, Frankreich und Italien) im Münchner Abkommen Hitler einen Teil der Tschechoslowakei, das Sudetenland, zuschanzten.

Auch damals haben sich die Anführer der Freien Welt, allen voran Arthur Neville Chamberlain, über das Recht eines souveränes Landes hinweggesetzt. Die Tschechoslowakei wurde den Großmachtinteressen geopfert, einem faulen Frieden, der den deutschen Diktator hernach nur zu weiterer Expansion ermuntern sollte. Doch anders als seinerzeit dürfen die Ukrainer heute, da Angela Merkel den Chamberlain gibt, wenigstens gelegentlich den Verhandlungen als Zuhörer beiwohnen. Zu sagen haben sie gleichwohl nichts.

Ihre Wünsche werden, zumal auf deutscher Seite, geradezu geflissentlich überhört, von Frank-Walter Steinmeier ebenso wie von Ursula von der Leyen. Auf die Bitte der Ukraine um Waffenlieferungen, die es dem Land erlauben würden, sich gegen die von Russland aufgerüsteten Separatisten zu verteidigen, reagierte die Bundesministerin der Verteidigung dieser Tage mit der Feststellung, dass das gar nicht nötig sei, da es bereits mehr als genug Waffen in der Region gäbe.

Wohl wahr! Nur sind die Panzer und anderes schweres Gerät in den Händen derer, die das Land im Auftrag Putins annektieren wollen, während die reguläre Armee „grauenhaft“ schlecht bewaffnet ist und bereits siebzig Prozent ihrer Ausrüstung verloren hat, so die Auskunft des unabhängigen russischen Militärexperten Alexander Golts.

Angesichts dieser Tatsachen kann man Einschätzungen wie die von der Leyens nur mehr als blanken Zynismus ansehen.

Wenn die Bundeskanzlerin dann noch erklärt, man sei es „den betroffenen Menschen in der Ukraine“ schuldig, sich zuerst mit Putin über die Aufteilung ihres Landes ins Benehmen zu setzen, dann fragt man sich, ob die Deutschen nicht drauf und dran sind, wieder einmal den Herrenmenschen von der Leine zu lassen. Jedenfalls maßen sie sich eine Rolle an, in die sie sich von niemandem drängen lassen sollten, nicht nach all dem, was sie in der Vergangenheit angestellt haben. Die gern zelebrierte Nähe Angela Merkels zu Vladimir Putin - angeblich soll sie einen direkten Draht zu ihm haben - wirft mittlerweile Fragen auf, die man der deutschen Bundeskanzlerin lieber nicht stellen möchte.

Von Anfang an, seit Beginn der Ukraine-Krise, seit die Bürger in Kiew für eine Freiheit auf die Straße gingen, die ihnen der Statthalter Putins, Viktor Janukowytsch, nicht zugestehen wollte, seit die ersten Schüsse fielen, ist die deutsche Regierung durch das Bemühen aufgefallen, alles abzuwenden, was den Herrn in Kreml aufbringen könnte. Ihn vor allem wollte sie „einbinden“.

Noch als Janukowytsch zur Flucht aufbrach, hat Frank-Walter Steinmeier die Demonstranten auf dem Majdan zu einem Kuhhandel mit dem verhassten Politiker überreden wollen. Geradezu flehentlich musste die Ukraine nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim um die Verhängung von Sanktionen gegen Russland bitten. Beschlossen wurden sie dann so zögerlich, dass sie Putin zwar wirtschaftlich treffen, aber bestimmt nicht abschrecken konnten. Die Aufrüstung der Separatisten hat er nachher forciert betrieben.

Wie Hitler seinerzeit, im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges, weiß er heute, dass er vom Westen nichts zu befürchten hat. Und es sind deutsche Politiker, die wesentlich zu diesem Erkenntnisgewinn beigetragen haben. Sicher lässt sich der Konflikt nicht mit militärischen Mitteln lösen. Wer sich aber vornherein weigert, dem Aggressor die eigene Verteidigungsbereitschaft zu demonstrieren, auch durch militärische Stärke, ermuntert ihn, eben diese militärische Lösung zu versuchen. Ganz abgesehen davon, dass es eine Frage des politischen Anstands sein sollte, denen beizustehen, die für sich jene Demokratie beanspruchen, auf die wir uns im Westen so viel zugute halten.

Früher hieß es einmal, dass unsere Freiheit auch am Hindukusch verteidigt werde. Deutsche Soldaten wurden weit hinter die Berge abkommandiert und haben dafür ihr Leben gelassen. Nun, da die Bedrohung sehr viel näher gerückt ist, soll von einer derartigen Verteidigungsbereitschaft nicht mehr gesprochen werden. Lieber möchte man den Angreifer mit Gebietsgewinnen, die uns selbst nichts kosten, abfinden.

Das mag kurzsichtig brachtet vernünftig sein, es ist aber auch schamlos. Wer sich dazu versteht, wer dazu die Hand reicht, sollte sich nicht länger auf die europäischen Werte berufen. Heuchelei löst keine Probleme. So wird der Konflikt nicht beigelegt. Er schwelt weiter. Merkel und ihre Truppe tanzen auf ein Pulverfass, dessen Lunte Putin in der Hand hält.

„Der ukrainische Frage“, sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko auf der Münchner Sicherheitskonferenz, „ist so lange offen, wie die Herzen der Europäer verschlossen bleiben gegenüber einer soliden Unterstützung der Ukraine, und zwar politisch, ökonomisch und militärisch.“ Die Amerikaner haben das verstanden. Ihnen gilt die Waffenlieferung an Kiew als eine mögliche Option.

„Dort sind Menschen für ihr freies und unabhängiges Land gestorben. Niemand wünscht sich einen Krieg, aber wenn jemand von außen angegriffen wird, hat er das Recht, sich zu verteidigen“, erklärte die ehemalige Außenministerin Madeleine Albright.

Möglicherweise überblickt sie Weltpolitik etwas weiter als ihr deutscher Kollege und seine Chefin, die vor allen anderen Putin „mitnehmen“ wollen, koste es, was es wolle, am Ende sogar die Unabhängigkeit der Ukraine.

Der Konflikt droht den Westen zu erfassen. Er könnte ihn spalten und die transatlantische Verbindung gefährden. Aber vielleicht ist die ja manchem unserer Politiker ohnehin so viel nicht mehr wert, nicht mehr als ein Lippenbekenntnis.

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Herbert Schmidt-Leiberg / 11.02.2015

“...aber wenn jemand von außen angegriffen wird, hat er das Recht, sich zu verteidigen“, erklärte die ehemalige Außenministerin Madeleine Albright. Dies Zitat, Herr Rietzschel, führt in die Irre und doch auch in die richtige Richtung. Mit dieser Auffassung wären Anfang der 60er bundesdeutsche Waffenlieferungen an die Kubaner, die sich der (verdeckt US-ferngesteuerten) Schweinebucht-Invasion erwehrten, recht und zwingend gewesen. Ich mag mir nicht vorstellen, wie die USA auf einen Militärpakt etwa Mexikos mit China reagieren würden, machte das lateinamerikanische Land denn Gebrauch von seinem “Recht auf Selbstbestimmung”. Gegenüber dem unbotmäßigen Kuba schreckten die Amerikaner seinerzeit 1962 nicht vor der Konsequenz eines Weltkrieges zurück. Das angebliche Selbstbestimmungsrecht der Ukraine findet seine Grenze in der geostrategischen Lage, in der sich das Land befindet. Und nicht zu vergessen: In seiner Geschichte. Das haben, lange Zeit, Finnland und, bis heute, Österreich erkannt und damit nicht gar so schlechte Erfahrungen gemacht.

Bärbel Schmidt / 11.02.2015

Was spricht eigentlich gegen eine Volksabstimmung?

Jürgen Althoff / 11.02.2015

Was, lieber Herr Rietzschel, ist den in Poroschenkos Ukraine demokratisch und deshalb auf unsere Kosten verteidigenswert? Vielleicht die auf Ukrainisch umfirmierten Minister aus der US-Hochfinanz? Mir scheint, Ihr Vergleich mit München 1938 hinkt ziemlich stark.

Dieter Sulzbach / 10.02.2015

Wenn man “auf Sicht fährt”, kommt man nirgends vorbei, wo “Chamberlain” dran steht. Für mich war es eine durchaus schmerzhafte Prozedur mir vorzustellen bzw. mir einzugestehen, dass unser politisches Führungspersonal möglicherweise lediglich über eine Teil-Intelligenz verfügt, wie sie im täglichen Machtgerangel von Vorteil sein mag, darüber hinaus aber wohl wenig vorzuweisen hat. Von Klugheit oder gar Weisheit wollen wir lieber gar nicht erst reden. Und den Geschichtsunterricht in der Uckermark kann man sich auch lebhaft vorstellen. Insgesamt: furchterregend! Ich will das nicht schicksalsergeben hinnehmen. Ich gehe in die Offensive. Unser Souverän ist nicht irgendwo “da oben”, das sind wir selbst. “Allons enfants”, würden unsere Nachbarn im Westen dann wohl sagen!

Christian Speicher / 10.02.2015

Wenn es hart auf hart kommt, scheint das ganze Geschwätz von Demokratie, Freiheit und “Europa” nicht mehr viel wert zu sein. Die Äußerungen unserer “Verteidigungsministerin” sind einfach nur noch eine Dummdreistigkeit obendrauf auf die unterlassene Hilfeleistung. Ganz im Geiste wohlsituierter “pazifistischer” schwarzrotgrüner Gemütlichkeit. Der deutsche “Gigant” ist eine weibische Trantüte.

Martin Wehlan / 10.02.2015

Wer aus der Geschichte nicht lernt, der muss sie noch einmal erleben. Nun kann man zwar viel aus 1938 lernen, nämlich dass Diktatoren Verträge immer brechen, aber vorher müsste festgestellt werden, dass Putin ein Diktator ist. Außerdem wird im Artikel so getan als ob Putin den Ukrainern ihr Land wegnehmen würde. Richtig ist, dass der Donbass (wie die Krim) immer russisch waren und die Menschen sich dort mehrheitlich zu Russland zugehörig fühlen. Selbst zur Zeit der größten Ausdehnung des polnisch-litauischen Großreiches reichte dies nicht bis in die heute umkämpften ostukrainischen Gebiete. Die Kiewer Regierung hat dort keinen Rückhalt. Von einer einheitlichen Ukraine auszugehen und darauf zu bestehen ist genau so realitätsfremd wie das Kosovo als “ewig serbisch” zu bezeichnen. Wenn die Ukraine sich zum Westen wendet, dass geht das wohl nur ohne die heute umkämpften Ostgebiete.

Waldemar Undig / 10.02.2015

Frau Merkel macht jetzt den Schröder. Fehlt nur noch ein gemeinsamer Saunagang mit diesem lupenreinen Demokraten.

Paul MIttelsdorf / 10.02.2015

Meine herzliche Zustimmung zu diesem Artikel, und zwar zu jedem einzelnen Gedanken.

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