Meine früheste Erinnerung ist eigentlich keine, sondern etwas was man mir über mich erzählt hat, es nun in mir als charakterbeschreibendes Element vorhanden ist, obwohl ich nicht wirklich weiß, was davon stimmt und was nicht. Im Alter von knapp über einem Jahr wurde ich in eine Kinderkrippe gesteckt, das war 1961. Dort aber, muss ich nur Theater veranstaltet haben, immer geschrienen oder phlegmatisch in der Ecke gehockt sein. Ansprechbar wäre ich kaum gewesen, und später deutete ich dieses Verhalten als Protest gegen etwas was mit mir geschah, ich aber natürlich noch nicht wissen konnte, was es ist. Diese Kinderkrippe war keine Kita, Kindertagesstätte, sondern die Kinder wurden dort für eine ganze Woche abgegeben.
Diese Wochenkinderkrippen wurden in der DDR speziell für Eltern eingerichtet die eine hohe zeitliche Belastung hatten, wie Schichtarbeiter beispielsweise, aber nicht nur für diese. Mein Vater war Schmied, die Mutter Weberin, beide mussten gelegentlich schichten, doch das war wohl nicht der Hauptgrund dafür, dass ich diese Einrichtung abgeschoben wurde, sondern die beengte Wohnsituation und die Absicht, vor allem meines Vaters, diese zu verbessern. Die Mutter hatte ja schon ihren Job wegen mir aufgegeben.
Groß wurde ich in einem dieser in den 1930er Jahren errichteten Siedlungshäuschen. Doppelhaushälften mit minimaler Ausstattung, allerdings mit großzügigem Grundstück. An diesem Häuschen, das selbst als neu erbaut war, schon damals kaum die Standards des Sozialwohnungsbaus der 1920er Jahre erreichte, musste modernisiert, aufgestockt und angebaut werden um ein einigermaßen zeitgemäßes Wohnen möglich zu machen. Mein Großvater väterlicherseits war in Stalingrad geblieben, so wohnten nun dort noch die Großmutter, sowie meine Eltern und ich. Und dieser Umbau war auch der Grund, warum ich in die Kinderkrippe gegeben wurde. Über diesen Grund wurde aber nur ungern geredet, und es wurden mir auch verschiedene Erklärungen angeboten, warum es denn notwendig war, mich wegzugeben, wie es manchmal genannt wurde.
Meine Mutter war als Heimatvertriebene nach Glauchau, einer südwestlichen sächsischen Kreisstadt gekommen, ihre Eltern lebten beide noch, der Vater hatte den Krieg unversehrt überstanden, und obwohl meine Mutter manchmal über die Kämpfe in und um der Festung Breslau sprach, die sie nur vom hörensagen her kannte, so erwähnte sie nie, dass auch ihr Vater Soldat gewesen sei. Nur ihre Heimat, Schlesien, war allgegenwärtig, bis heute ist es ihre Heimat geblieben, die sie im Alter von acht Jahren verlassen musste. Mit ihr ihr ganzes soziales Umfeld. Onkels, Tanten, Cousins und Cousinen, die nun verstreut über Deutschland, Ost und West, lebten, und die noch ein große Rolle in meiner Entwicklung spielen sollten. Die Briefe, Weihnachts- und Geburtstagsglückwunschkarten, nicht zuletzt die Westpakete und gelegentliche Besuche machten mir schon in ganz frühen Kindertagen klar, dass es eine andere Welt als die von mir erlebte gibt.
Doch dies konnte natürlich noch keine Rolle gespielt haben, als ich, wie gesagt, in dieser Kinderkrippe im Alter von einem Jahr ersten Protest übte. Aufbegehren gegen empfundene Ungerechtigkeit müsse zu meiner Natur gehören, jedenfalls stellte es sich für mich später so dar, und diente mir als Erklärung, warum ich protestierte über etwas, was ich nicht verstand, das Gefühl mir aber zu verstehen gab, dass es widernatürlich ist. Was kann ein Einjähriger tun, wenn derartiges mit ihm geschieht? Er schreit!
Und so schrie ich innerlich auch später vor allem dann, wenn ich Dinge tun oder glauben sollte, von denen mir meine Intuition sagte, dass das nicht normal sein kann, und wenn es alle tun oder glauben, dann sind eben alle nicht normal. Entweder wurde der Grundstein für ein Außenseitertum in dieser Kinderkrippe gelegt, oder eine ganz normale Reaktion, dass nämlich ein Einjähriger lieber bei seiner Mutter ist, als die ganze Woche bei irgendwelchen Fremden, diente als Erklärung, warum ein Angepasst-Sein nicht meinem Naturell entspricht.
Auch wenn diese früheste Erinnerung, die eigentlich keine bewusste ist, und nur entstanden ist, weil man mir darüber erzählt hatte, so ist dennoch ein lebendiges Bild der Dunkelheit davon geblieben, und immer wenn ich später an diesem Gebäude, in dem diese Kinderkrippe war, vorüberging, so meinte ich, dass dieses Haus keine Fenster hat. Da drinnen muss es dunkel sein, nicht erkennbar wer sich dort noch aufhält, was dort passiert, wer da was von mir will. Ein stickiger Geruch drang in die Nase, wie in Kellerräumen die zwar warm sind, aber nie gelüftet werden, und Spinnweben, die ich nicht sehen konnte, strichen über den Rücken.
Ausschnitt aus dem Manuskript für Quentins neues Buch mit dem Arbeitstitel »Ein kalter Wind, mein Weg in den Westen«