Von Alain Pichard.
Biel ist eine Arbeiterstadt in der Westschweiz mit 54.000 Einwohnern, für deutsche Verhältnisse ein Provinzstädtchen. Das sahen auch die deutschen Medien so, als herauskam, dass die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel dort eine Aufenthaltsgenehmigung hat, weil ihre Lebenspartnerin in dieser Stadt lebt. Der „Spiegel“ nannte Biel ein Städtchen, die „Süddeutsche“ ein Dorf. Weltweit berühmt sind hingegen die beiden Uhrenmarken Rolex und Swatch, die in Biel ihren Sitz haben. Biel hat die höchste Sozialquote in der Schweiz (über 11Prozent) und jeder fünfte Jugendliche bezieht staatliche Unterstützung. Selbstredend ist Biel auch eine linke Stadt mit einer linken Regierung und hat auch ein Stadtparlament, das in der föderalen Schweiz relativ viele Kompetenzen besitzt.
Wenn im eher beschaulichen Bieler Stadtrat Weltpolitik gemacht wird, getreu nach dem Motto "Global denken, lokal handeln", ist aber jeweils für Stimmung gesorgt. Das war schon in der letzten Legislatur so, als die grüne Stadträtin Lena Frank den Gemeinderat dazu verpflichten wollte, sich gegen das Freihandelsabkommen TTIP einzusetzen. Der leicht genervte Stadtpräsident, ein Sozialdemokrat, versuchte damals vergeblich, seine Genossinnen zu überzeugen, dass hier Kompetenzen überschätzt werden.
Aber eben, was ist schon eine Diskussion über die Sanierung der Abwasserleitung im einem Stadtquartier gegen eine Debatte über die Globalisierung und den Raubtierkapitalismus? Es gehe darum, so die grüne Stadträtin, ein Zeichen zu setzen. Nun, seit sich US-Präsident Donald Trump zu den Globalisierungsgegnern gesellte, haben die weltweiten Demonstrationen aufgehört und auch unsere Exekutive wird in nächster Zukunft kaum mehr aufgefordert werden, sich gegen den Freihandel zu wehren. Denn wer will schon neben so einem Verbündeten marschieren?
Wer Signale aussendet, sollte die Folgen bedenken
Dafür versuchte letzte Woche die PdA-Stadträtin Judith Schmid (PdA heisst Partei der Arbeit und ist die kommunistische Partei der Schweiz), den Gemeinderat mit einer anderen Weltmission zu beauftragen. Biel solle 300 Flüchtlinge mehr aufnehmen als zugewiesen und sich gegen alle Rückführungsweisungen der Bundesbehörden wehren. Selbstredend verwies auch Postulantin Schmid darauf, dass Biel damit ein starkes Zeichen senden würde.
Der Philosoph Max Weber sprach in solchen Fällen von Gesinnungsethik. Kurz, wenn man eine Forderung mit der richtigen Moral vertritt, dann ist die Handlung in jedem Fall positiv. Weber setzte dem den Begriff der Verantwortungsethik entgegen. Gesinnungsethiker sehen das Elend und wollen sofort helfen. Der Verantwortungsethiker bedenkt die Folgen von Handlungen. Im konkreten Fall zum Beispiel kennt er die Zahl der migrationsbereiten Menschen allein aus Nordafrika, welche in die Millionen geht. Er denkt an die Signale, die da ausgesendet werden und er sieht die Folgen für seine Stadt.
Was Gesinnungs- und Verantwortungsethik bedeuten können, hat der Schreiber dieses Artikels vor 12 Jahren hautnah miterleben dürfen. Er war in Gomera, einer der kanarischen Inseln, im Herbsturlaub und wurde Zeuge des Flüchtlingsansturms aus Afrika. Tausende von Booten mit ausgemergelten jungen afrikanischen Männern strandeten auf der Urlaubsinsel. Zwischendurch wurden Leichen angespült, es waren schreckliche Bilder.
Der Grund für diese Katastrophe war ein gesinnungsethischer Akt. Ein Jahr zuvor war nämlich der Sozialist José Zapatero zum Ministerpräsidenten von Spanien gewählt geworden. Und er setzte ein Wahlversprechen um. Er legalisierte die vielen illegalen Feldarbeiter, die unter erbärmlichen Bedingungen in den Plantagen von Andalusien und anderswo arbeiteten. Der moralisch handelnde Politiker übersah bei diesem Akt aber mehrere schwerwiegende Konsequenzen:
Die Illegalen strömten sofort aus der Schwarzarbeit und registrierten sich. Sie landeten in offiziellen Jobs oder in der Sozialhilfe. Die illegalen Arbeitsstellen aber blieben. Und sie wurden wieder aufgefüllt. Und das Signal nach Afrika war verheerend: „Ihr müsst einfach mal nach Spanien gelangen, nach einer gewissen Zeit werdet ihr legalisiert.“
Spanien hat seine Lektion gelernt. Spanien machte seine Grenzen dicht.
Dies war denn auch der Auslöser dieser beispiellosen Völkerwanderung im Atlantik. Zapatero telefonierte mit seinen Parteifreunden Blair und Schröder und bat um Soforthilfe. Diese sagten ihm aber in aller Deutlichkeit: „Das hätten wir dir vorher sagen können. Das musst du jetzt alleine auslöffeln.“
Spanien hat seine Lektion gelernt. Spanien machte seine Grenzen dicht. Seine Marine patrouilliert konsequent vor den Küsten, greift die Boote auf und bringt die Flüchtlinge wieder zurück. Mit Marokko hat Spanien ein Abkommen geschlossen, das es der spanischen Polizei erlaubt, in fremdem Land Schlepperbanden zu jagen. Heute ist der Flüchtlingsstrom fast versiegt. Flüchtlinge bezahlen keine Schlepper, wenn sie wieder zurückgebracht werden. Im Jahr 2016 sind vor den spanischen Küsten 106 Menschen ertrunken. Vor der italienischen Küste waren es über 3000.
Doch kommen wir wieder zurück in die Provinz, in das Schweizer „Arbeiterstädtchen“, in welchem die Gesinnungsethiker Weltpolitik machen und Zeichen setzen wollen.
Diesem Ansinnen verweigert sich der Verantwortungsethiker. Er setzt sich für ein Gemeinwesen ein, das die bereits hier verweilenden Flüchtlinge versorgt, integriert, ihnen eine Schulbildung und damit auch die Tools vermittelt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und er weiss, wie schwierig das jetzt schon ist angesichts einer rekordhohen Sozialquote, miserablen PISA-Resultaten und ghettoisierten Quartieren, deren Realklassen zu 100 Prozent aus Migrantenkindern bestehen. Der Verantwortungsethiker weiss über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit, trägt Sorge zu unserem Rechtsstaat, respektiert die föderalen Gesetze, die in der Schweiz durch Volksabstimmungen legitimiert wurden.
Er weiss, dass genau dies unsere Stabilität garantiert und letztendlich die Sicherheit bietet, die vielen Flüchtlingen so unendlich viel bedeutet. Natürlich setzt er sich auch für gesunde Finanzen ein, damit dies auch alles bezahlt werden kann. Und für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, welche die Finanzen aufbringt, damit die Flüchtlinge hier eine echte Chance erhalten, die Moraldebatten im Stadtrat weitergehen können und der Lohn von Frau Schmid bezahlt wird.
Der Verantwortungsethiker erscheint oft langweilig. Kein Vergleich zu den feurigen Reden der Gesinnungsethiker im Stadtrat. Diese tönen nicht selten wie Kirchenpredigten und sind stets mit einem heiligen Furor umgeben, immer mit einem Schuss Apokalypse und jeder Menge Schuldzuweisungen. Dem haben die Verantwortungsethiker nicht mehr entgegen zu setzen als ihre zuweilen kühl wirkende Rhetorik. Nach einer emotionalen Debatte unterlagen die Verantwortungsethiker. Das Postulat wurde angenommen.
Alain Pichard war Grünliberaler Stadtrat in Biel /Schweiz und ist seit 40 Jahren Lehrer in sozialen Brennpunktschulen.