Donald Trump ist Präsident der USA geworden. In dem gigantischen politisch-medialem Entsetzen darüber gerät so ein banaler Jahrestag, wie der des Falls der Berliner Mauer leicht aus dem Blickfeld. Dabei ist es eben gerade mal 27 Jahre her und für uns Deutsche womöglich viel bedeutsamer, als wer gerade in den USA im Oval Office Dienst tut. Dort sitzt in ein paar Jahren wieder ein Anderer, aber die Mauer ist für immer verschwunden und mit ihr die brutale Unterjochung von 16 Millionen Deutschen.
Ich erinnere mich noch gut an meinen Tag des Mauerfalls. Zu gut. Kein Wunder, war ich doch am 9.11.1989 gerade mal seit drei Tagen in der Bundesrepublik angekommen. Zwei Tage später, am Abend des 11.11.1989 saß ich vor meinem geschenkten kleinen Farbfernsehgerät und starrte ungläubig auf die Bilder der Menschen, die jubelnd auf der Berliner Mauer saßen. Sie kletterten darauf herum, schwenkten deutsche Fahnen und niemand schoss auf sie. Atemlos sog ich die Bilder auf. Meine Frau kam ins Zimmer, sah mir entsetzt ins Gesicht und schaltete das Fernsehgerät aus: „Warum weinst du denn? Du hast ja völlig blutige Augen“. Ich hatte davon gar nichts gespürt.
Die Mauer war gefallen. Einfach so, die Gefühlswallung war ungeheuerlich. Jeder DDR-Bürger konnte plötzlich ohne Gefahr für Leib und Leben die Mauer überwinden. Jeder DDR-Bürger konnte sich jetzt eine Weltanschauung bilden, indem er sich die Welt anschauen konnte. Auch diejenigen konnten jetzt in den Westen, die andere DDR-Bürger unterdrückt und ihre Träume zertrampelt hatten. Parteibonzen und Stasioffiziere gingen jetzt fröhlich in den verhassten Westen, um sich ihre 100 Mark der „Schwindelwährung“ abzuholen und „imperialistisch-dekadente“ Dinge zu kaufen, die es nicht mal für sie in der DDR gab. Die Mauer war weg, es gab nichts mehr zu überwinden. Ich freute mich darüber wie ein Kind und doch schmerzte mich gleichzeitig ein tiefes Gefühl über die Ungerechtigkeit der Welt. Warum hatte ich so viel ertragen müssen, wenn es das jetzt umsonst gab? Warum hatte ich für jede Stunde, die ich vor dem Fall der Mauer im Westen war, eine Woche im Gefängnis gesessen?
„Nummer 3 soll sich einen runterholen, dann wird’s besser“
Um die Mauer zu überwinden, verbrachte ich viele Monate im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, danach warteten noch ein paar Jahre Bautzen auf mich. Mir wurde „hetzerische Verleumdung sowie Verächtlichmachung von staatlichen Repräsentanten“ und „Republikflucht in schwerem Fall“ – ich war gemeinsam mit meiner Frau geflohen und sie hatte es geschafft - zur Last gelegt. Ich hatte auszuhalten, dass mich die Stasi-Schergen wochenlang alle 15 Minuten weckten, bis ich kaum noch meinen Namen wusste. Ich hatte erleben müssen, wie mein 19jähriger Zellengenosse, dem sie an der Grenze aus zwei Meter Entfernung mit einer Kalaschnikow von hinten die Kniescheibe weggeschossen hatten, in der Zelle fast an seinem Wundfieber und einem Schockzustand starb. Der Kommentar eines Wachmanns auf meine Bitte, einen Arzt zu rufen: „Nummer 3 soll sich einen runterholen, dann wird’s besser“. Für meine darauffolgende Revolte musste ich mich von den Wachen zusammenschlagen lassen. Aber es kam ein Arzt.
Kurz gesagt, der Aufenthalt im staatssicherheitlichen Erholungsheim Hohenschönhausen war kein Spaziergang. Auch die Entlassung aus dieser Hölle nicht. Ich wurde von der Stasi regelrecht entsorgt, sozusagen weggeworfen. Für diejenigen, die es interessiert, hier ein kleiner Auszug aus meinem autobiografischen Roman „Wohn-Haft“:
Sie sperren mich in eine andere Zelle und nehmen mir alle Kleidung weg. Sie ist völlig kahl. Nackt sitze ich in der Mitte des leeren Raums auf dem Fußboden. Nach ein paar Stunden öffnet sich die Klappe in der Tür und meine Zivilsachen fliegen auf den Boden. Meine Sachen, was soll denn das? Ich ziehe mich an. Meine Hose ist viel zu weit. Was haben sie jetzt mit mir vor? Ich habe Angst.
Meine Verhaftung war im Frühling. Jetzt ist Winter, ich habe nur ein T-Shirt an. Trotzdem tut es gut, die eigenen Sachen zu tragen. Ich setze mich wieder auf den Boden und starre die Wände an. Nachdem ich eine Ewigkeit dagesessen habe, werde ich abgeholt. Sie kommen wieder zu fünft, schwer bewaffnet. Hauptmann Winter steht im Hintergrund und sieht wütend aus. Im Gang verbinden sie mir die Augen. Das kann doch nicht wahr sein, ich protestiere. Ich bin aber offensichtlich an Stasi-Leute fürs Grobe geraten, die mir unmissverständlich klarmachen, dass ich meine Fresse zu halten habe, sonst setzt es was. Sie drehen mir die Arme auf den Rücken und zwei Mann halten mich fest. Ich stolpere durch die Gänge, die Schritte hallen laut wieder. Ein großes Metalltor öffnet sich geräuschvoll und sie führen mich auf einen Hof. Auf jeder Seite hält mich immer noch einer am Arm gepackt. Soll ich jetzt und hier erschossen werden?
Ich will doch noch Paris sehen. Ich zittere am ganzen Körper
Ich fange an, zu zittern. Ich höre die Schritte von mindestens sechs Leuten und bekomme Panik. Ich höre ein metallisches Klacken, wie eine Pistole, die durchgeladen wird. Das können die doch nicht machen! Draußen bricht das Regime zusammen und hier drin soll ich vorher noch abgeknallt werden wie ein Stück Vieh? Gott im Himmel, bitte nicht das! Ich will doch noch Paris sehen. Ich zittere am ganzen Körper und habe furchtbare Angst, mir in die Hose zu pissen.
Ich kann nichts sehen. Sie halten mich an beiden Armen. Ich fange an, mich zu wehren und versuche mich loszureißen. Jemand verpasst mir einen Leberhaken, dass mir die Luft wegbleibt. Sie schieben mich in ein Auto und fahren mit kreischenden Reifen los. Wollen sie mich woanders beseitigen? Ich kann nach wie vor nichts sehen, spüre aber, dass jemand neben mir sitzt. Es ist ein großer Wagen, wohl ein „Wolga“. Ich versuche, die Augenbinde zu entfernen. Ein weiterer Schlag in die Rippen belehrt mich, dass dies nicht erlaubt ist. Die Situation ist grotesk. Sie fahren mich im Wolga zur Hinrichtung? Ich fürchte jetzt am meisten, dass sie meine Angst sehen und riechen können. Diesen Triumpf kann ich ihnen nicht gönnen. In meiner Hilflosigkeit fange ich an, unmotiviert zu lachen. Der Mann fürs Grobe haut mir nochmal in die Rippen und droht mir weitere Prügel an. Es ist mir schon egal. Kläglich sitze ich mit verbundenen Augen auf dieser beschissenen Rückbank des beschissenen Stasiautos und lache meine beschissenen Peiniger aus. Es ist das erbärmliche Hohnlachen eines armen beschissenen Feiglings auf seinem letzten Gang. Mehr schaffe ich nicht.
Plötzlich kreischen die Reifen. Der Wagen bremst scharf, ich fliege nach vorn, mit dem Gesicht an die Lehne des Vordersitzes. Der Wagen hält aber nicht an. Jemand verpasst mir einen Schwinger, dass ich gegen die linke Wagentür fliege. Die gibt nach. Ich kann nichts sehen, will mich irgendwo festhalten und greife ins Leere. Dann fliege ich aus dem fahrenden Wagen und schlage hart auf die Pflastersteine auf. Ich rolle ein Stück. Mit quietschenden Reifen höre ich den Wagen davonbrausen.
Das Pflaster ist nass. Ich habe mir beim Fall den Ellenbogen aufgeschlagen. Es ist kalt. Ich nestele mir die Augenbinde vom Gesicht, ein dunkelbrauner Putzlappen. Es nieselt. Ich sitze mitten auf einer menschenleeren Straße mit grauem Kopfsteinpflaster inmitten von grauen, unansehnlichen Häusern aus den 50er Jahren. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
Ich lebe noch! Wo, um Gottes Willen bin ich? Ich bin von dem Rollen auf der Straße ziemlich dreckig. Ich rappele mich hoch und sammle hastig meine kleine Reisetasche ein, die ein paar Meter weiter in der Gosse liegt. Ich bin ziemlich ratlos. Kommen sie wieder? Ist das hier der Westen? Haben sie mich in den Westen entsorgt?
Ich laufe aufs Geratewohl los, bis ich eine Straßenbahnhaltestelle sehe. Dort ist eine ältere Frau, die mich mit unverhohlenem Misstrauen mustert. Als ich sie frage, wo ich hier wäre, nennt sie einen Straßennamen. Ich frage sie, in welchem Stadtteil, in welcher Stadt? Sie erschrickt und hält mich wohl für irre. Dann erklärt sie mir verängstigt: „Das ist hier Berlin Köpenick“. Sie wartet nicht mehr auf ihre Bahn, sondern geht schnell weg. Ich bin völlig fertig. Ich bin in Ostberlin. In der Bahn muss ich schwarzfahren, weil ich kein Geld habe.
Ich überquerte die Mauer ein paar Tage vor ihrem Fall mit einem winzigen Wisch: „Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR“. Mit diesem Papier hat mich DDR an einem Sonntag rausgeworfen, um zu verhindern, dass ich am Montag bei der Montagsdemonstration den Menschen vom Mikrofon aus erzähle, was sie in ihren Gefängnissen mit ihren eigenen Bürgern machten.
Wenn ich heute über den Fall der Mauer nachdenke, dann glaube ich, dass es sich gelohnt hat, den schweren Weg zu gehen. Ohne den hoffnungslos und aussichtslos erscheinenden Widerstand von tausenden DDR-Bürgern wäre die Prognose von Honecker womöglich noch wahr geworden: „Die Mauer wird auch in 50 und in 100 Jahren noch stehen“.