Ich halte ihn für den größten lebenden deutschen Lyriker. Das könnte ich jetzt wortreich begründen—er hat das, was einen Dichter vor allem ausmacht: seinen eigenen, ganz unverwechselbaren Ton; er beherrscht strenge Formen wie das Sonett so mühelos wie das lässig gereimte Strophenlied; ihm fallen immer wieder großartige Metaphern ein, die nicht gesucht wirken.
Vielleicht genügt hier der Hinweis, dass mir viele Gedichte von ihm gefallen, die gar nicht eingängig sind. Also gerade nicht die „Ermutigung“ (die ich eine Zeitlang nicht mehr hören konnte, verschont mich mit linken Kirchenliedern!). Nicht mal sein wirklich wunderschönes „Und als wir ans Ufer kamen“. Eher mochte ich etwa sein Gedicht „Abschied vom Freund“, das mit der tollen Zeile endet: „Weil ich so wildverzweifelt glücklich bin“.
Oder seine Verse über die Muse Errato, die ihn mit „so Gratisgeschenken der Musen“ bedacht habe: „Bloß: jedes Geschenk hat seinen Preis / Im Spiegel äfft mich ein munterer Greis / Im Winter, der kommen wird, macht mir heiß /—nur Schnee vom vergangenen Jahr“.
Sein erschütterndes Gedicht „Confessio“ kann ich, glaube ich, immer noch auswendig, jeden Vers. Es entstand in der Zeit einer Ehekrise, als Wolf Biermann sich endgültig vom Kommunismus lossagte: „Ich hab die Schnauze voll mit großen Worten / Und lass sie raus, wie and´re Schreier auch / Und so wie du leb ich vom Wortefleddern…“
Er kann so schön den Ton wechseln: von grobianisch zu zärtlich, von ernsthaft zu verspielt, von hoch zu niedrig—manchmal in derselben Zeile. „Dann heul ich mit den Nachtigalln“, heißt es irgendwo in der „Confessio“, aber „mit den Wölfen zwitschern mag ich nicht mehr“. Das gefällt mir nicht nur als Lyrik.
Und wie ist er so „als Mensch“? Ach Gott. Als ich ihn das erste Mal besuchte—ich war ein grauenhaft junger schüchterner Student der Anglistik in Hamburg—da fürchtete ich aus irgendeinem Grund, ich würde einen aufbrausenden Poltergeist antreffen. An seiner Stelle fand ich einen freundlichen, aufgeräumten Herrn vor, der mit Hamburger Akzent sprach (mir gefiel auch, dass er klein ist: gerade mal 1,69).
Wir unterhielten uns über Büchner. Ich hatte im Sommer davor eine einschneidende Lektüre-Erfahrung gemacht, ich hatte Büchners „Dantons Tod“ verschlungen – und dieses Stück mich – und dabei gemerkt: Es gibt einen deutschen Shakespeare. Das heißt: Es hätte ihn geben können. „Wolf“, sagte ich (oder waren wir damals noch per Sie?), „für diesen Büchner gebe ich ja Brechts gesammelte Dramen her.“ Ich erwartete, nun würde mich der marxistisch-leninistische Blitzstrahl treffen, stattdessen erwiderte Biermann nur: „Hast recht.“ Ich fand es nur vernünftig, dass er wenig später den Büchnerpreis bekam.
Heute wird Wolf Biermann 70 Jahre alt, das ist—wie Richard Schröder in der WELT schreibt – ein wenig unglaublich. Aber eigentlich ist es auch egal.
Schon am Samstag stand in der „Literarischen Welt“ ein Gespräch mit Yours Truly; aber das Interview in zwei Teilen, das die Kollegen vom „Spiegel“ mit Wolf Biermann geführt haben, ist auch nicht schlecht.
Am besten darin: das kleine Video, wo Wolf sein neues Lied „Heimweh“ singt.