Ingo Langner
Wir leben in einer Erlebnisgesellschaft; die gleichzeitig auch eine Anspruchsgesellschaft ist. Welche Formen diese Mesallianz inzwischen angenommen hat, mußten wir leider am vergangenen Samstag in Duisburg erfahren. Zum Stichwort Erlebnis gehört die sogenannte „Love Parade“. Daß es sich dabei nicht um eine harmlose Zusammenkunft von tanzfreudigen jungen Leuten handelt, müßte eigentlich jedem, der nicht naiv ist und in Politik und Kultur Verantwortung trägt, wohlbekannt sein.
Wer Augen hat zu sehen und Ohren hat zu hören, dem dürfte mehr als klar sein, daß sich hinter dem irreführenden Namen (zu deutsch: „Liebesparade“) eine öffentliche Massenorgie verbirgt, bei der Menschen beiderlei Geschlechts sich zum stundenlang pausenlos wummernden Beat einer „Techno“ genannten „Musik“ in Extase versetzen. Sex spielt dabei unübersehbar eine wichtige Rolle, Drogen auch.
Zum Stichwort Anspruch gehört, daß die Besucher eines solchen Events, bei der leicht eine Million Menschen an einem einzigen Tag an einem einzigen Ort zusammenströmen, wie selbstverständlich davon ausgehen, daß Veranstalter und diverse gesellschaftliche Instanzen (wie Polizei, Feuerwehr, Sanitäter, und Verkehr) für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen haben. Geschieht das objektiv oder auch bloß subjektiv nicht, werden sofort auch schwerste Vorwürfe erhoben.
Eines muß klar sein: hier soll nicht die zweifellos notwendige Aufklärung der Ursachen und Hintergründe des Duisburger Unglücks in Frage gestellt werden. Aber es muß möglich sein, darauf hinzuweisen, daß es immer noch so etwas wie eine Selbstverantwortung gibt. Wer sich sehenden Auges in eine schier unübersichtliche Menschenmenge begibt, in der Hunderttausende eng an eng auf einen Punkt zusteuern, sollte nicht nur, er muß wissen, daß er sich damit in eine unkalkulierbare Gefahr begibt.
Doch offenbar liegt genau hier die psychische Schwachstelle. Einerseits geht man zur „Love Parade“ um einen Tag lang vom wilden Leben zu kosten, andererseits geschieht das jedoch mit der Mentalität eines Vollkaskoversicherten. Man will ins Feuer springen, aber verbrennen möchte man nicht.
Die „Love Parade“ war von ihren Berliner Anfängen her eine rein kommerzielle Veranstaltung, der fadenscheiniges Kulturmäntelchen umgehängt worden ist. In Berlin hieß das 1989 „Friede, Freude, Eierkuchen“. Gleichwohl (oder deswegen?) erfreute sie sich bei den Massenmedien - und leider auch bei den politisch Verantwortlichen – außerordentlicher Beliebtheit. Bald gab es niemanden mehr, der diese öffentlich geförderte Massenorgie in Frage gestellt hat. Nach dem Unglück von Duisburg soll es nun zukünftig keine „Love Parade“ mehr geben. Das ist unter den vielen schlechten Nachrichten aus dieser Stadt noch die beste.