Wolfram Weimer / 04.02.2017 / 06:00 / Foto: Fabian Köster / 8 / Seite ausdrucken

Martin Schulz: Für den Wackelpudding wird es hart

Die derzeitige Gefühlslage von Sozialdemokraten ähnelt der beim Zahnarztbesuch, wenn der Schmerz endlich nachlässt: Sie könnten schreien vor Glück. Nach der politischen Dauerwurzelbehandlung mit dem dicken Bohrer Gabriel kommt Martin Schulz der SPD vor wie der grinsende Assistenzarzt mit der Betäubungsspritze. Endlich ein freundlicher Mann! Die Kandidatur war nicht geplant, sie wurde miserabel kommuniziert, und sie wirkte eher wie eine plötzliche Selbst-Extraktion Gabriels – aber die Wirkung für die schmerzleidende SPD ist beachtlich. Schulz hebt die Umfragewerte, Schulz tröstet die geschundene Seele der Partei, Schulz macht rote Hoffnung, dass der Untergang der Sozialdemokratie doch noch verhindert werden kann.

Der Kandidat kann dabei auf drei persönliche Stärken vertrauen:

Erstens ist Schulz ein freundlicher Rheinländer, ein Gefühlsmensch und Erzähler. Wo Merkel doziert, gibt er einen Witz zum besten, wo Merkel analysiert, erzählt er eine Geschichte, wo Merkel abstrakt wird, sucht er das Konkrete. Er ist geländegängig und kontaktfreudig, albert gerne, lacht und sprachwitzelt viel. In seiner Mimik ist ständig Karneval, in seiner Rhetorik immer ein Schuss Büttenrede. Da aber die deutsche Politik in der Merkel-Ära ein eklatantes Humordefizit angestaut hat, kann das Frohnaturelle zwischen de Maizière und Schwesig, zwischen Steinmeier und Schäuble, Gabriel und Kauder zum politischen Trumpf werden.

Schulz kann den unabhängigen Querdenker geben

Zweitens ist Schulz nicht Teil des Berliner Klüngels. Er ist weder Minister noch Staatssekretär noch Ministerialdirigent noch Bundestags-Abgeordneter noch eines davon je gewesen. Er hat keinerlei Regierungserfahrung. Eigentlich ein Handicap – doch in Zeiten von Trump & Co. und den gefühlten Polit-Kartellen wird das ein Vorteil. Schulz kann den unabhängigen Querdenker geben. Er kann – anders als die SPD-Minister – die Kanzlerin und ihre Politik frontal attackieren, er ist nicht in die koalitionäre Loyalität und Kabinettsdisziplin eingebunden. Man kann ihm nicht einmal vorhalten, dass er doch alles mit entschieden habe, was er jetzt kritisiere. Es ist, als sei die SPD jetzt ohne Mundschutz sprechfähig geworden.

Drittens wirkt Schulz authentischer als manch andere Berufspolitiker. In Zeitungsartikeln wird er gerne als “bodenständig” gepriesen, als würde ihm der Lehm des Niederrhein noch an den Stiefeln kleben. Seine gefühlte Bodenständigkeit ist in Wahrheit eine Sichtbarkeit seiner Narben. Das Leben hat ihn verwundet – und er verbirgt das bewusst nicht. Schulz war ein peinlich Gescheiterter, der weder Abitur noch Lehre abgeschlossen hat, dem alles misslang, der sich vollends in den Alkoholismus stürzte.

“Ich war ein Sausack”, sagt er heute dazu. In einer lackierten Karrieristenwelt, in der selbst SPD-Abgeordnete ihre Lebensläufe schick erfinden, schafft das Raum für das wahre Leben und dessen Wunden. Aus diesem Bekenntnis zur eigenen Verletzlichkeit wächst Glaubwürdigkeit. Die habituellen Schulz-Stärken (Humor, Glaubwürdigkeit und Gefühligkeit) aber unterscheiden ihn maximal von der Kopfpolitikern und Sachlichkeitsmeisterin Angela Merkel. Im Willy-Brandt-Haus raunen sie daher: Wer langsam zu viel hat von der kühlen, geschlossenen Raute in der deutschen Politik, “der bekommt plötzlich eine warme Hand gereicht”.

Er verkörpert die unpopuläre Bürokraten-EU

Doch wie weit tragen die drei Stärken Martin Schulz im beginnenden Wahlkampf? Kann er die SPD nach der Schmerzbefreiung dauerhaft aufrichten oder droht ihm nicht wie weiland Peer Steinbrück ein Absturz nach dem fulminanten Start in den Wahlkampf?

Drei Probleme seiner Kandidatur sprechen eher dafür:

Erstens verkörpert Schulz wie kein zweiter Deutscher die unpopuläre Bürokraten-EU. Volle 23 Jahre saß er im EU-Parlament, er war sieben Jahre Fraktionsvorsitzender, fünf Jahre Parlamentspräsident. Er ist das fleischgewordene EU-Establishment – und wenn die EU von der Migrationskrise über den Schuldenkrach bis zum Brexit nun tief gespalten in einer Existenzkrise steckt, dann wird er sich das mit ankreiden lassen müssen. Schulz hat dabei reihenweise Positionen eingenommen, die in Deutschland denkbar unpopulär sind – für die gescheiterte Wirtschaftspolitik des französischen Sozialisten Hollandes, für die tricksenden Schuldenstapler Griechenlands, für Eurobonds und für die europaweite Einlagensicherung, die deutsche Sparguthaben kollektivieren würde.

Schulz wird fortan von der politischen Konkurrenz als der Mann dargestellt, der den Sparstrumpf der Deutschen nach Südeuropa verschenken will. Seine enge Liaison mit Jean-Claude Juncker könnte ihm ebenfalls zum Problem werden. Die FAZ kommentiert: “Schulz ließ erst die aggressive Steuergestaltung durch Luxemburg laufen und stellte sich hinterher vor seinen Freund, den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Kein Wunder, dass er von vielen als Teil des Problems und nicht der Lösung wahrgenommen wird.”

Zweitens setzt er aufs falsche Thema. Die Mehrheit der Deutschen will derzeit weniger den Ausbau des Sozialstaats als vielmehr vor allem Schutz und Sicherheit. In der besonders strittigen Migrationsfrage aber kann Schulz kein Sicherheitskonzept bieten. Er kann nicht einmal die Fehler der Kanzlerin anprangern, weil er sie in der Grenzöffnung und der “Wir schaffen das”-Euphorie selber am lautesten bestärkt hat. Nichts emotionalisiert die Bevölkerung aber mehr als die Frage nach Integration, Kriminalität und Islamismus. Darauf mit den Gerechtigkeits-Plattitüden der 1970er- Jahre zu antworten, dürfte der Mehrheit nicht reichen – zumal Merkel sozialpolitisch ähnlich denkt.

Ein Wackelpudding, der sich auf nichts festlegt

Drittens neigt Schulz zum politischen Wackelpudding. Der Eindruck, dass mit ihm etwas Schwankendes aus Brüssel in Berlin gelandet sei, wird durch die Tatsache verstärkt, dass Schulz in der Partei keine Hausmacht hat und keine Funktion erfüllt. Ganz in EU-Diplomatenmanier weiß man bei ihm nicht einmal, wofür er wirklich und dauerhaft steht – vor allem in den harten innenpolitischen Fragen wie Steuern, Rente, Wirtschaft, Umwelt, innere Sicherheit. Die “Bild”-Zeitung zitiert dazu ein Mitglied der SPD-Spitze so: “Außenpolitisch und in Sachen Europa ist er eine sichere Bank, in vielen anderen Fragen eine Blackbox.”

Der wankelmütige Eindruck könnte bei der Koalitionsfrage für Schulz zum Problem werden. Er will sich auf nichts festlegen, vor allem nicht auf Rot-Rot-Grün, um die politische Mitte nicht zu verschrecken. Andererseits müsste er sich aber just darauf leidenschaftlich einlassen, um das linke Lager tatsächlich zu mobilisieren und eine echte Regierungsalternative zu skizzieren. Einen politischen Traum müsste er entfalten können, doch in Wahrheit bewegt er sich in einem einstürzenden Neubau, denn die katastrophale Startbilanz der neuen rot-rot-grünen Landesregierung in Berlin macht jede positive R2G-Fantasie zunichte. Und die zu erwartenden Wahlniederlagen von Rot-Grün in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen dürften seine Position auch nicht einfacher werden lassen.

Fazit: Der neue SPD-Zahnarzt ist definitiv besser als der alte. Die strategische Karies der Sozialdemokratie im Superwahljahr 2017 aber wird er nur schwer heilen können.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European hier.

Foto: Fabian Köster CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Michael Jansen / 04.02.2017

Es war schon bei Anne Will zu bewundern, dass der ach so lockere, volksnahe Martin Schulz sehr schnell in eine arrogante Verkniffenheit verfiel, wenn er denn mal neben seinem Gerechtigkeits-Geschwafel aus der sozialdemokratischen Mottenkiste eine konkrete Aussage von sich geben sollte. Da kam leider gar nichts inhaltlich Ergiebiges sondern immer wieder nur die Feststellung, er könne selbstverständlich alles besser und man solle ihn gefälligst zum Kanzler wählen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir noch diverse Auftritte des Kandidaten im Wahlkampf erleben werden, bei denen die Maske der Volksnähe sich sehr schnell verabschiedet, wenn er in die Enge getrieben wird, und dass sich der momentane Bonus bei den Wählern (wenn der nicht sowieso nur von interessierten Kreisen herbeigeschrieben wird) ganz fix wieder verflüchtigt.

Wieland Schmied / 04.02.2017

Zitat Weimer: “Das Leben hat ihn verwundet – und er verbirgt das bewusst nicht. Schulz war ein peinlich Gescheiterter, der weder Abitur noch Lehre abgeschlossen hat, dem alles misslang, der sich vollends in den Alkoholismus stürzte.” Und so etwas soll den Karren aus dem Dreck ziehen? Wer’s glaubt wird selig, wer nicht, kommt auch in den Himmel.

Helmut Pirkl / 04.02.2017

Wer Schulz wählt, wählt Merkel. Dem Martin ist das recht. Der bleibt am Ball. Das hat er bewiesen, als ihn die Genossen nach Brüssel abgeschoben haben.

H.Baumann / 67 / Rentner / 04.02.2017

Von einer Abgeordneten der EMP:  Schulz hielt sich 2 Dienstwagen (gewiss keine Twingo)  natürlich 2 Fahrer sowie 33 Assistenten und 2 Tagebuchschreiber.  Ich meine, das kommt beim Malocher im Ruhrpott säuerlich an.  Ist Schulz in NRW erledigt, ist er für den Herbst erledigt.  Auch meine ich, dass die SPD-Kamarilla den Mann vorschickt,  um auf seine Knochen im November die alten Posten in einer GroKo neu zu besetzen.  Anders ausgedrückt, wir kriegen wiederum Merkel,  mit einer SPD hintendran, die angeblich der Staatsräson folgt.  Ist den hier schreibenden Herrschaften klar, dass ab 24.9.17 im Hohen Hause Bundestag zwischen 90 und 120 Leute der AfD sitzen, gegen die alle anderen anregieren werden ?  Welch übles Bild für den wütenden Bürger, der den Sommer einer Masseneinwanderung nochmal erlebt hat.

Wahl, Joachim / 04.02.2017

Interessant geschrieben, Herrn Weimer gelingt hier der “U-turn”, eine 180-Grad-Wende. Beginnend mit einer Laudatio, steht am Ende Schulz da, wie er wirklich ist.

Bernhard K. Kopp / 04.02.2017

Ein erfolgreicher Wahlkampf ist nicht nur das Gesicht und die Persönlichkeit des Spitzenkandidaten. Dahinter muss ein Drehbuch, eine Regie und ein Produktionsmanagement stehen, das eine Vorstellung auf die politische Bühne bringt, die die Wähler begeistert und mobilisiert für den Kandidaten und die Produktionsfirma - die Partei - zu stimmen. Auch ein guter Schauspieler kann das nicht alleine. Bei Martin Schulz ist noch nicht einmal gewiss, ob er mit konzeptionellem Denken substantiell-inhaltlich dazu beitragen kann. Es gibt derzeit noch keine Anzeichen dafür, dass irgend jemand in der SPD das Drehbuch, die Regie und das Produktionsmanagement wirklich könnte.

JF Lupus / 04.02.2017

Schulz ist vor allem eins: ein Betrüger und Lügner, der Sitzungsgelder kassiert ohne anwesend gewesen zu sein. Einer, dem das Wohl des deutschen (!) Volkes sche***egal ist, ein Nichtskönner, für den nur einer zählt: Schulz. Er ist wie einer jener Scharlatane, die in früheren Zeiten durchs Land zogen, Wundermittel gegen alles feil hielten und den Armen dafür die letzte Barschaft aus der Tasche zogen, skrupellos und verbrecherisch.

Hartmut Laun / 04.02.2017

Merkel doziert? Merkel analysiert? Merkel wird abstrakt?  Wann? Wo? Wie? Merkel ist wie Schulz oder Schulz ist wie Merkel. Jedoch Merkel erzählt Witze die nicht witzig sind. Merkel erzählt nur von wollen, könnten, sollten, ist immer, ist geländegängig. Nur das Merkel als Norddeutsche das Witzige nur versucht,  es aber nicht kann so wie es ein Rheinländer kann. Merkel redet wie Mussolini bei ihren Auftritten: WIR wollen, WIR müssen, WIR werden.

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