Thomas Rietzschel / 17.04.2015 / 14:01 / 4 / Seite ausdrucken

Marktforschung statt Demokratie

Wenn es sie denn hierzulande noch gäbe, hätte die kritische Öffentlichkeit, hätten die Kommentatoren in der Presse, im Radio und im Fernsehen in dieser Woche Sturm laufen müssen. Doch nicht einmal ein Sturm im Wasserglas wollte aufkommen, statt dessen nur ein müdes Achselzucken, als die Kanzlerin und ihr Stellvertreter am Montag die neue Marketingkampagne der Bundesregierung vorstellten. Unter dem Motto „Gut leben in Deutschland - Was uns wichtig ist“ will die Große Koalition dabei herausfinden, wofür sie die Bürger gewählt haben. Kurzum, was das Volk, als dessen Vertreter die Christ- und Sozialdemokraten nun schon im zweiten Jahr an der Macht sind, denkt, wünscht oder befürchtet, wo ihm der Schuh drückt und wie es sich die Zukunft vorstellt. Zu diesem Zweck sind 150 öffentliche Veranstaltungen geplant, diverse Internet-Foren werden eingerichtet, ein eigene Behörde soll für die Organisation und die Auswertung sorgen.

Eine Schnapsidee ist das Ganze nicht; bürokratisch steht die Aktion auf festen Füßen. Beschlossen wurde sie schon nach der Konstituierung der neuen Regierung auf deren erster Klausurtagung im schönen Barockschloss Meseberg. Und niemandem scheint unterdessen aufgefallen zu sein, dass da etwas nicht stimmt. Keiner der politischen Mandatsträger und keiner ihrer kooptierten Journalisten fragt sich, wie es um die repräsentative Demokratie bestellt sein muss, wenn die Repräsentanten gezielte Marktforschung betreiben müssen, um sich ein Bild von den Vorstellungen des Volkes zu machen, das sie zu vertreten vorgeben.

Statt dass es ihr peinlich wäre, gefällt sich die politische Klasse in der bombastischen Inszenierung des Spektakels. Die Kanzlerin präsentierte es freundlich lächelnd. Sichtlich erheitert gestand sie, „neugierig“ auf die Ergebnisse der Befragung zu sein. Denn: „Wir kennen die Antwort nicht. Und wir geben uns sogar Mühe, nicht zu glauben, dass wir sie kennen.“ Wann hätte man ähnliches von einem deutschen Regierungschef gehört? Wer hätte es bisher gewagt, als gewähltes Oberhaupt einer demokratisch verfassten Gesellschaft so unumwunden einzugestehen, dass er keinen blassen Schimmer von den Vorstellungen des Souveränes, der „Menschen“ unter ihm hat?

Unwillkürlich fühlt man sich an Marie Antoinette erinnert, die dem Volk einst geraten haben soll, Kuchen zu essen, wenn es kein Brot habe. Zweifellos eine anekdotische Zuspitzung, die sich der Phantasie der Nachwelt verdanken mag, aber nichtsdestoweniger ein Gleichnis, das den Realitätsverlust einer politischen Klasse erhellt, die nur mehr um ihrer selbst willen existiert. Eingemauert im Elfenbeinturm ihrer Selbstüberschätzung, merkt sie gar nicht mehr, wie sich mit ihren Inszenierungen selbst desavouiert.

Was die Bundesregierung in den den nächsten Monaten veranstalten will - Sigmar Gabriel nennt es ein großes „Experiment“ - ist nichts weiter als eine Marktstudie. Ein weiterer Schritt hin zur postdemokratischen Gesellschaft. Die Politiker, die dahinter stehen, handeln nicht mehr als Interessenvertreter dieser oder jener Milieus oder gar als Vertreter politischer Grundüberzeugungen, sondern als Manager ihrer Unternehmen, der Parteien, die sich am Markt behaupten müssen.

Dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden, vielleicht ist das sogar die politische Kultur, auf die wir uns zukünftig einstellen müssen. Mindestens entspräche das der durch und durch kommerzialisierten Konsumgesellschaft. Nur fehlen uns dafür noch die organisatorischen Voraussetzungen. Denn ersten gibt es anders als in der Wirtschaft keine Behörde, die den marktbeherrschenden Zusammenschluss verschiedener Unternehmen untersagt. Schon heute werden ja nicht nur in den Zeiten großer Koalitionen Preisabsprachen zwischen den Parteien getroffen, die dem Bürger die Möglichkeit nehmen, sich für dieses oder jenes Angebot zu entscheiden. Wo alle Parteien wie bei der letzten Bundestagswahl etwa das Gleiche anbieten, entsteht ein politisches Kartell -  alternativlos.

Und zweitens müssten wir, wenn es nur mehr um das Angebot politischer Dienstleistung geht, auch die Möglichkeit und den Mut haben, die Parteien und ihre Manager für begangene Fehler, für Betrug und die Veruntreuung des ihnen anvertrauten Volksvermögens juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Wolfgang Schäuble dürfte dann für die Milliarden, die er für den „hoch spannenden Versuch“ (Zitat Schäuble) der Währungsunion aufs Spiel gesetzt hat, keine andere Behandlung erwarten, als sie der Bankrotteur Thomas Middelhoff eben erfährt.

Man kann sich nicht im Ernstfall auf die Vorrechte, die Immunität eines Volksvertreters berufen, der in unserem Namen handelt, und das Volk zugleich wie einen Kunden behandeln. Als solcher hat er eben auch Regressansprüche. Die Kalkulationen müssen offengelegt werden. Im konkreten Fall heißt das, dass die Kosten einer Marktforschung, wie sie die Große Koalition jetzt durchführen will, vorher bekannt sein sollten, bevor die Steuerzahler als Finanzier den Auftrag dazu erteilen.

Dazu aber ist die Bundesregierung nicht bereit, vielmehr versucht sie uns das Vorhaben als einen Ausdruck demokratischer Läuterung zu verkaufen. Dass das so unwidersprochen möglich ist, bestätig, wovon laut einer Umfrage der FU Berlin bereits sechzig Prozent der Bürger ausgehen: Deutschland ist keine Demokratie mehr, nicht im Sinne des Grundgesetzes, an das wir gern weiter glauben würden.

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Wilfried Paffendorf / 18.04.2015

Diese Kampagne ist mehr als nur ein schlechter Scherz. Die Regierungsparteien und die Regierung wollen also herausfinden, was das Vok denkt und will? Das kann doch nur heißen, dass sich Politik und Regierung bisher einen feuchten Kehrricht darum gekümmert haben, was der Wille des Volkes ist. Offenkundiger kann man seine Unkenntnis und sein politisches Versagen doch gar nicht zum Ausfruck bringen. Diese Kampagne steht im krassen Widerspruch zu allen bisherigen Behauptungen, Politker und Regierung wüssten was das Volk denkt und wünscht und man arbeite stets nur zum Wohle der Bürger. Vielleicht sollten sich die Berufspolitiker einmal fragen, warum das Volk ihre dummen und heuchlerischen Reden nicht mehr hören will, nicht mehr erträgt. Denn die Bürger sind nicht politikverdrossen, sondern sie haben die Politiker satt, die sich über Volkes Willen dreist und arrogant-besserwisserisch hinwegsetzen. Nicht nur Merkel hat bisher noch jedes ihrer vollmundigen (Wahl)Versprechen gebrochen und das Gegenteil von diesen umgesetzt. Wählerbetrug müssen sich alle im Bundestag - und fast allen in den Landtagen -  vertretenen Parteien vorhalten lassen; zu recht! Diese Kampagne ist ein weiterer Mosaikstein im Genbäude der Bürgertäuschung und Volksverdummung. Nicht mehr und auch nicht weniger.

Stephan Reisfeld / 17.04.2015

Ach, das finde ich nicht wirklich schlimm, es gibt bei weitem weniger verzeihliche Fehler. Wenn die Elitemenschen denn unbedingt Geld ausgeben wollen, um eine Angelegenheit zu klären, die sie auch ohne Griff aufs Konto bekommen könnten, dann sollen sie es machen. Das macht den Braten auch nicht mehr fett. Vielleicht haben sie auch ganz einfach nur Angst, in die Partei- und Wahlprogramme zu schauen, denn es könnte ja was unangenehmes drin stehen. Ähnlich sinnlos&teuer; machen es übrigens Konzerne. In meiner Studentenzeit etwa habe ich für Mercedes Autos herumgefahren. Das ist ein Konzern mit mehreren Hunderttausend Mitarbeitern, die alle eine gewisse Affinität für Autos der Marke haben und von denenalle an das interne I&K-System angeschlossen sind. Wäre ich dort Konzernlenker, ich würde die Designabteilung Modellentwürfe anfertigen lassen, sie direkt an die Mitarbeiter verschicken und abstimmen lassen, welche davon am besten ankommen. Von den beliebtesten Entwürfen entstünden dann direkt Prototypen, die von den Fahrern (mindestens einer hohen 4-stelligen Zahl) für 30 Minuten probegefahren werden dürften, gefolgt von einer kurzen Manöverkritik. Der Verkaufserfolg wäre so gut wie garantiert. Ich jedenfalls habe zigfach erlebt, dass die Einschätzungen der Leute bzgl des Verkaufserfolges neuer Modelle ziemlich gut hinkamen mit dem was am Ende rauskam. Auch weiss ich jetzt, worauf zu achten ist, wenn ich mir ein Auto ansehe. Die Chefs dagegen setzen lieber auf Millionenverträge für Marketingfirmen und am Ende gibts mehrere teure Überarbeitungen an unausgereiften Details. Völlig absurd - aber weit verbreitete und eingeübte Praxis.

Vaclav Endrst / 17.04.2015

Die Marketingkampagne der derzeitigen Bundesregierung ist doch ziemlich durchsichtiger Versuch die Politik der Groko die Machtstellung der Kanzlerin weiter zu festigen und die klägliche Reste der Demokratie in der BRD endgültig zu beseitigen. Die Schachzüge werden klar gesteuert durch ehemalige Funktionarin der FDJ. In dem System der DDR wurden auch alle politischen Parteien unter der ‘‘klugen’’ Führung der kommunistischen Partei vereint und in der Presse und DDR-Fernsehen konnte man die tägliche politische Erfolge verfolgen - bis zu dem Endgültigen Zusammenbruch.

Manfred Haferburg / 17.04.2015

Danke, liebe Achse, für die gute Anregung. Ich habe es gleich versucht, der Regierung bei ihrer gutgemeinten Annäherung ans Wahlvolk zu helfen. Aber gut gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von gut. Nach dem mühevollen Anmelden und Ausfüllen der Fragebögen kommt beim Absenden die Meldung: Fehler im Formular… Erst dacht ich, ich wäre zu blöd und habe die ganze Prozedur wiederholt. Mit dem selben Ergebnis. Offensichtlich ist der vom billigen Steuerzahlergeld bezahlte teure Berater und Servicedienstleister der Selbe, der den Bau des BER so erfolgreich vorantreibt. Oder der, welcher der Energiewende zum endgültigen Durchbruch verhift. Avanti dilletanti!

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