Bei Temperaturen um Null Grad ist es sogar in Heidelberg ungemütlich. Martin hat drei Jacken übereinander angezogen, aber er friert trotzdem. Nur seine ständige Begleiterin, Saskia, ein Huskie mit einem grünen und einem braunen Auge, fühlt sich wohl. Martin und Saskia hocken vor dem „bellobene“, in dem lauter schöne Dinge verkauft werden, die Martin sich derzeit nicht leisten kann. Radios von Tivoli, Kaffeemaschinen von TRIO, Notizbücher von Moleskine. Der Luxus in seinem Rücken irritiert ihn nicht, Martin, 39, hat noch vor einem Jahr eine eigene Wohnung gehabt und als Modefotograf gearbeitet. Dann blieben die Aufträge aus. Als die Ersparnisse alle waren, landete er auf der Straße. Dabei hat er einen ordentlichen Beruf gelernt: Zimmermann. Warum er sich trotzdem das Leben auf der Straße antut, weiß er selber nicht so recht. Seine Eltern sind 1945 aus dem deutschen Osten „heim ins Reich“ vertrieben worden, und Martin vermutet, dass er jetzt nacherleben muss, „was sie unterwegs erlebt haben, die Kälte, den Hunger und die Obdachlosigkeit“. Eine Art Wiederholungszwang mit Spätzündung. Und wenn es ihm doch zu kalt wird, sammelt er das Geld ein, das die Passanten zu seinen Füßen gelassen haben, nimmt Saskia an die Leine und geht in die nächste Kneipe, um sich aufzuwärmen.
Plötzlich stehen drei junge Leute vor Martin. Sozialarbeiter, die ihn erlösen möchten? Nein, Studenten der Theaterwissenschaft, die an einem „Projekt“ arbeiten. „Was sagt Ihnen der Name ‚Des Knaben Wunderhorn’?“, will die junge Frau wissen, während ihre beiden Kollegen Mikrofon und Kamera auf Martin richten. Martin zieht sich in seine drei Jacken zurück, als wollte er „Kyrrill“ ausweichen. Er kennt weder den Knaben noch sein Wunderhorn. „Nun geben Sie dem Herrn erstmal einen Euro“, sage ich, und die junge Frau zückt tatsächlich ihre Geldbörse. Martin lächelt, weiß aber mit des Knaben Wunderhorn noch immer nix anzufangen. Die junge Frau wendet sich mir zu. „Wissen Sie, worum es sich handelt?“ – „Entweder ein dramatisches Gedicht oder den neuen Katalog von Beate Uhse“, sage ich. „Nicht ganz“, sagt die junge Frau, als wäre ich soeben durchs Examen gefallen, „es ist eine Sammlung deutscher Volkslieder vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert.“. Aber sie gibt mir noch eine Chance: „Kennen Sie etwas Vergleichbares in der Gegenwart?“ – „Die Schlager von Dieter Bohlen“, sage ich, und ihrem Kollegen fällt das Mikrofon aus der Hand. „Das ist doch etwas ganz anderes“, sagt die junge Frau schon etwas angespitzt, „fällt Ihnen sonst nichts ein?“ – „Gut, dann nehmen Sie das Horst-Wessel-Lied, es ist in den Hitparaden auch sehr weit nach oben gekommen, bevor es abgestürzt ist“. Und ich merke: Sie kann mit Horst Wessel so viel anfangen wie Martin mit des Knaben Wunderhorn.