Literaten auf den Barrikaden

Große Ereignisse werfen dunkle Schatten voraus. Am 17. November ist wieder „Vorlesetag“. Ins Leben gerufen wurde das jährlich wiederkehrende Event im Jahre 2004. Veranstaltet von der "Stiftung Lesen", der Deutschen Bahn und der ZEIT, soll es in Schulen, Kindergärten, Buchläden und Bibliotheken zur Leselust animieren, vor allem Kinder und Jugendliche ansprechen. Auch Eltern, Onkel und Tanten sind eingeladen.

Ein ebenso so löbliches wie notwendiges Unterfangen. Hat doch derweil nicht bloß der gern gescholtene Nachwuchs seine liebe Not, gedruckte Wörter zu buchstabieren, den Sinn ganzer Sätze zu begreifen. Längst geht die Zahl der erwachsenen ABC-Schützen hierzulande in die Millionen. Über sieben Millionen "funktionale Analphabeten" zählte die Statistik 2016. Analphabeten im "engeren Sinne" sind etwa 2,3 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren, etwa vier Prozent der deutschen Bevölkerung. 

Bei den Jüngeren mag das damit zusammenhängen, dass sie selbst bereits dazu angehalten wurden, nach dem Gehör, nicht nach den Regeln der Schriftsprache zu schreiben. Wenn sie so etwa zu Papier bringen, „die Lamas schbilen uno uno die Roben kinder sint im Wasr Di krokodile Lesen Dort keine Fögel“, dann kann das niemand außer dem Schreiber verstehen. Der reformpädagogisch befeuerte Analphabetismus feiert traurige Urständ.

Martin Schulz und das "Rumpelstilzchen"

Zusehends wächst die Zahl derer, denen Schriftkundige vortragen müssen, was sie selbst nicht nachlesen können. Bald schon könnte der „Vorlesetag“ zum nationalen Nachhilfetag avancieren.   

Im vergangenen Jahren sollen, so die Organisatoren, bei 135.000 Veranstaltungen „mehr als tausend Politikerinnen und Politiker“ mitgemacht haben. In diesem Jahr, am 17. November, dürften es kaum weniger werden. Die Bühne ist zu groß, als dass die Parteien sich den Auftritt entgehen ließen. Gut vorstellbar, mit welcher Verve zum Beispiel Martin Schulz das Märchen vom „Rumpelstilzchen“ vorlesen könnte. Würde sich dagegen Angela Merkel „Hänsel und Gretel“ vornehmen, könnte es am Ende den Erwachsenen kalt den Rücken herunter laufen. Dann schon lieber Frauke Petry als „Pechmarie“.

Doch soweit soll es nicht kommen. Weil die "Stiftung Lesen" auch Mandatsträger der AfD zum „Vorlesetag“ eingeladen hat, ist der P.E.N., die Glaubenskongregation der deutschen Literatur, bereits auf die Barrikaden gegangen. Deren Vorsitzende Regula Venske, die ihren literarischen Rang 1991 mit dem Krimi „Schief gewickelt“ begründete, befand dieser Tage, dass „die Grundsätze der AfD, die sich gegen die bestehende kulturelle Vielfalt und Toleranz richten, nicht vereinbar mit den an Schulen und Kitas vertretenen und unsere Gesellschaft bereichernden Leitbildern“ sind. 

Welche Farbe darf es sein?

Nun will ich mich nicht mit Frau Venskes Deutsch aufhalten; da bewegt sie sich immerhin auf Kanzlerinnen-Niveau. Schwamm drüber. Fragen muss ich mich aber, ob hier womöglich ein grundsätzliches Missverständnis vorliegt, bei mir oder bei der P.E.N.-Chefin. Erstens war die 1921 in London gegründete Vereinigung einmal „gegen jede Art der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung“ angetreten. „Jeglicher willkürlichen Zensur in Friedenszeiten“ sollten sich die Mitglieder „widersetzen“. 

Und zweitens: Woher weiß Regula Venske, dass die AfD Grundsätze vertritt, die unvereinbar sind mit den „unsere Gesellschaft bereichernden Leitbildern“? War sie womöglich Mäuschen bei Parteiveranstaltungen, die sogar dem Verfassungsschutz entgangen sind, da er bis heute keinen Anlass sieht, gegen die AfD vorzugehen oder sie auch nur zu beobachten?

Vor allem aber: Sollten bei dem „Vorlesetag“ nicht literarische Texte vorgetragen werden? Oder geht es am Ende doch um mehr, um einen bundesweiten Staatsbürgerkundetag? Dann freilich sollte auch Regula Venske Farbe bekennen: rot, grün, schwarz oder gelb, während die Schriftsteller überlegen könnten, ob sie nicht den Bock zur Gärtnerin machten, indem sie die Krimi-Autorin zu ihrer Vorsitzenden wählten.

Schließlich war es John Galsworthy, der erster P.E.N.-Präsident, der den Mitgliedern als literarischen Anwälten des Humanismus empfahl, sich aus allem Parteienstreit herauszuhalten. „No politics, under no circumstances“, sagte der Literatur-Nobelpreisträger seinerzeit. Heute könnte er damit keinen Blumentopf mehr gewinnen, nicht bei Regula Venske.

Foto: Bundesarchiv/Georg Pahl CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Markus Knust / 08.08.2017

Mir tut es in der Seele weh, wie mit unserer Sprache umgegangen wird. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt, es ist furchtbar. Die Menschen verblöden immer mehr. Wenn ich in Foren unterwegs bin, ist mir oft aufgefallen, dass man angegangen wird, wenn man mehr als 3 zusammenhängende Sätze schreibt. Dann schreibt man, für viele dieser Foristen bereits einen “Roman”. Ich mache schon immer Witze darüber, wenn ich sage, ein Buch ist wie ganz viele Twitter Nachrichten nacheinander. Ich selbst lese viel und für mein Leben gern. Mein Opa hat mir das mitgegeben und dafür werde ich ihm auf ewig dankbar sein. Derzeit versuche ich meiner kleinen Tochter ebenfalls dieses Geschenk zu machen, merke aber das man zunehmend der digitalen Konkurrenz ausgesetzt ist. Da bin ich dann persönlich immer im Zwiespalt. Ich bin niemand, der die digitalen Medien verteufelt/verbietet und finde es wichtig das Kinder maßvollen und begleiteten Zugang haben. Trotzdem möchte ich sicherstellen, dass auch mein Kind die Faszination der Bücherwelten erforschen kann. Aufstieg, Fall und Schicksale von Menschen, Gruppen und Königreichen, die es nie gegeben hat. Das solche Leute, wie oben im Artikel beschrieben, diese wertvolle Aufgabe nutzen um ihre Erziehungsagenda durchzuboxen, ist eine Schande. Diese Leute faseln ständig von Toleranz, meinen aber damit nur die Leute, die ihrer Meinung sind.

Stephan Müller / 08.08.2017

Wenn es die AfD nicht geben würde, so sollte man sie schleunigst erfinden. Es ist kaum eine effektivere Methode denkbar, die Scheinheiligkeit und Verbohrtheit gewisser Leute zu demonstrieren. Peinlich dumm, so borniert, dass es weh tut- viele kleine Augstein- Jakobiner tummeln sich in den Nischen des deutschen Kultur-Establishments.

Martin Schau / 08.08.2017

Welche Organisationen sind noch wirklich frei in ihren Entscheidungen und Handlungen? Wer macht sich eigentlich nicht vorm Links-Establishment in die Hose und kuscht? Scheinen nicht mehr viele übrig zu sein. Das bedeutet viel Aufklärungs- und Veränderungsarbeit für achgut.

Dr. Andreas Dumm / 08.08.2017

Ein absolut notwendiger Hinweis, danke dafür! Nützen wird er allerdings nichts oder nicht viel. Denn eingleisiges Denken führt auch dann in die Sackgasse, wenn es sich der vielbeschworenen Buntheit verpflichtet fühlt. Im Übrigen ist es dazu geeingnet, die “bestehende kulturelle Vielfalt und Toleranz” - insofern sie eine europäische ist (oder doch sein soll) - in ein gleichförmiges Grau zu verwandeln. Denn Europa lebt(e) von der “kulturellen Vielfalt” der es konstituierenden Völker und Nationen, nicht hingegen von deren Abschaffung.

Immo Sennewald / 08.08.2017

Die Dame sieht im PEN offenbar so etwas wie den Schriftstellerverband der DDR. Wer dort nicht linientreu war, flog raus - meist auf Kosten der im Verband verbleibenden literarischen Qualifikation. So ist Sozialismus. Und es scheint wieder zum Erfolg in der Aufmerksamkeitsökonomie zu werden, wenn linke Gesinnung über Meinungsfreiheit und Qualität triumphiert. Von Venezuela lernen, heißt siegen lernen.

Dieter Kief / 08.08.2017

Frau Venske ist nun mal da, also muss man mit ihr streiten. Es kommt mir manchmal so vor, als ob ich betrunken Auto fahren würde, und plötzlich tauchte ein Laternenpfahl vor mir auf: Ich würde zumindest versuchen, ihm auszuweichen. - Was ich Ihnen zugebe, Herr Rietzschel: Solche Manöver sind in jedem Fall unangenehem. Und ich frage mich auch im Geheimen (also ganz so, als ob ich jetzt im betrunkenen Zustand kommentieren würde), wo diese Regula Vensekes alle herkommen. Aber grundsätzlich und sozusagen nüchtern betrachtet bleibt es dabei: Frau Venske ist nun einmal da, also muss man mit ihr streiten. (Ihr Hinweis auf John Galsworthy ist übrigens toll! - Haargenau so stelle ich mir einen Streit mit Frau Venseke vor.)

Wolf-Dietrich Staebe / 08.08.2017

Wäre ja noch schöner, wenn Herr Gauland oder Frau Weidel Schulkindern Geschichten vorlesen dürften! Die armen Kleinen könnten sich mit Rechtspopulismus infizieren! Das dürfen die Gutmenschen auf keinen Fall zulassen.

Werner Geiselhart / 08.08.2017

Man könnte ja statt der AfD Herrn Abbas eintragen, der dann das Märchen von der Brunnenvergiftung durch die Juden erzählen darf.

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