Vera Lengsfeld / 03.06.2018 / 12:00 / Foto: L-BBE / 5 / Seite ausdrucken

Lichtblick in Sibirien

Es gibt noch Weltgegenden, die man mit Abenteuer verbindet. Dazu gehört Sibirien. Das ehemalige Land der Verbannten ist heute eine innovative, dynamische Gegend. Die Nachfahren der Verbannten haben den Freiheitsgeist ihrer Vorfahren geerbt – und der Zar ist immer noch weit weg.

Nachdem wir in Berlin bei fast 30°C abgeflogen waren, landeten wir in Novosibirsk mitten im Spätwinter. Nur 5°C und ein feiner, kalter Nieselregen. Außerhalb der Stadt waren die Bäume noch kahl, in der Stadt hatten sie gerade ein erstes feines Grün angelegt. Vor wenigen Tagen hatte es noch geschneit. Es sei ein ungewöhnlich kalter Mai, wurde uns versichert. Die Klimaerwärmung hat es noch nicht bis hierher geschafft.

Morgens um sechs kamen wir im Hotel an. Natürlich standen unsere Zimmer noch nicht zur Verfügung. Aber die Sessel in der Lobby waren bequem, so dass wir die Zeit bis zum Frühstück um sieben gut überstanden. Zu Hause war es zwei Uhr nachts, vor den Fenstern des Frühstücksraums heller Tag. Man übersteht die Zeitumstellung am besten, wenn man sich sofort anpasst. Also zogen wir los, Novosibirsk zu entdecken. Der einzige Reiseführer, der über Sibirien aufzutreiben gewesen war, erwies sich als hilfreich.

Novosibirsk, ursprünglich nach dem letzten Romanow Nowonikolajewsk genannt, entstand mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn an der Stelle, an der die Brücke über den Ob gebaut wurde. Ein Merkmal der Stadt ist der größte Bahnhof Sibiriens. Nicht weit davon gibt es ein Denkmal für eine Lokomotive, die in der Sowjetunion zur „Heldin der Arbeit“ gekürt wurde. Sie heißt „Feliks Dzierzynski. Bei dem Namen fragt man sich unwillkürlich, ob sie „Heldin“ wurde, weil sie so viele Gegner des Sowjetregimes in den Gulag transportiert hat.

Das ursprüngliche Dorf, von dem nur noch einige wenige Holzhäuser zeugen, wuchs rasant. Aus dieser Zeit stammen die schönen roten Backsteinbauten, von denen man noch ein paar im Zentrum sieht. Außerdem zeugt ein imposanter Handelsbau von der Pracht der Zarenzeit. Die Alexander-Newski-Kathedrale, ein Wahrzeichen der Stadt, war die erste Steinkirche in Sibirien. Die kleine Kapelle St. Nikolai, die an der Stelle gebaut wurde, die der Mittelpunkt des Zarenreiches war und die von den Bolschewiken abgerissen wurde, steht seit 2015 wieder in alter Pracht da, als wäre sie nie weg gewesen.

Verelendung unter der Sowjetherrschaft

Novosibirsk ist eine Pachtwork-Stadt. Neben den Bauten aus der Zarenzeit beansprucht die Sowjetarchitektur viel Raum. Dort, wo sich der große Bauernmarkt befand, steht heute das größte Opernhaus Russlands. Die Planungen stammen aus dem Jahr 1929, der Bau begann 1939 und geriet währen des Krieges ins Stocken. Das riesige Gebäude beherbergte 1941-1945 die gesamte Sammlung der Tretjakow-Galerie und Teile der Eremitage. Das prachtvolle Gebäude erinnert an das kommunistische Versprechen, für die Arbeiter und Bauern Paläste zu bauen.

Ein anderes palastartiges Gebäude wurde für die Sowjet-Verwaltung gebaut. Ursprünglich beherbergte es im Erdgeschoss auch ein Warenhaus. Eine Fotoausstellung am Rande des Kirow-Parks, eine der wenigen grünen Oasen im Zentrum, zeigt Bilder von den prachtvoll für die Eröffnung dekorierten Schaufenstern. Vor den Fenstern stehen aber abgerissene Gestalten. In der von Stalin verordneten Hungerzeit in der Ukraine 1932/33 ließen sich viele ukrainische Flüchtlinge am Stadtrand nieder. Sie lebten hauptsächlich von Bettelei. Sie waren so zahlreich, dass sie offensichtlich nicht aus den offiziellen Fotos herausgehalten werden konnten. Andere Bilder zeigen den ehemaligen Bauernmarkt zur Zarenzeit. Pferdewagen an Pferdewagen, auf denen die Produkte angeboten wurden, reihte sich aneinander. Nur ein Jahrzehnt später sitzen ein paar zerlumpte Männer vor ihren Häufchen mit Plunder – ein Zeichen der Verelendung unter der Sowjetherrschaft.

Novosibirsk leistete den Bolschewiken lange Widerstand. Erst 1919 gelang der Roten Armee die endgültige Eroberung. Danach begann eines der ersten kommunistischen Massaker gegen die Bevölkerung. Die Massenerschießungen wurden zur Blaupause für die folgenden Repressionen überall in der Sowjetunion.

Der eigentliche Aufschwung begann im Großen Vaterländischen Krieg. Die Evakuierten aus Leningrad wurden nach Novosibirsk gebracht, wo die technische Intelligenz in den nach hier verlegten Rüstungsbetrieben eingesetzt wurde. Nach dem Krieg kehrten nicht alle Evakuierten nach Hause zurück. Etliche blieben und prägen die Stadt bis heute. Die Novosibirsker gelten als die weltoffensten, höflichsten Sibirier. Bis heute sind die Verbindungen nach St. Petersburg sehr eng. Die Kultur, die von den Leningradern mitgebracht wurde, bereichert Novosibirsk noch heute. Das riesige Opernhaus bietet ausgezeichnete Inszenierungen. Den zauberhaftesten „Nussknacker“ mit den schönsten Kostümen und der vollendetsten Ballettkunst habe ich hier gesehen.
Heute ist Novosibirsk die drittgrößte Stadt Russlands. Und eine der jüngsten und dynamischsten, was im Straßenbild unschwer zu erkennen ist. Man begegnet vielen jungen, elegant gekleideten Menschen, die sehr aufrecht gehen und zielbewusst wirken. Sie kommen aus allen Teilen Russlands hierher, um zu studieren.

Das Patchwork-Stadtbild, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch viele, nicht immer schöne Bauten westlichen Stils ergänzt wurde, ist auch durch die vielen Baustellen geprägt. Das noch vorherrschende sowjetische Grau wird immer mehr aufgelockert. Die Wunden der Sowjetzeit sind noch nicht alle geschlossen, was besonders an den Gehsteigen und den Schlaglöchern in den breiten Straßen sichtbar ist. Aber die Stadt wirkt sehr gepflegt. Keine Wohlstandverwahrlosung, kein Müll im öffentlichen Raum. Im Kirow-Park wirkt der gläserne Kasten, der eine westliche Pizza-Kette beherbergt, wie ein UFO zwischen den hell ergrünten Birken.

Michail Gorbatschow war schon da

Den aufrührerischen Geist bekommen wir bei unseren Vorträgen zu spüren. Eingeladen hat ein „Unabhängiger Diskussionsclub“, den Arkadi Jankovskij, ehemaliger Politiker von „Jabloko“ der Wirtschaftsliberalen Partei Russlands, vor achtzehn Monaten gegründet hat. Die Redner kommen sogar aus Moskau, das über 3.000 Kilometer entfernt ist, hierher. Michail Gorbatschow war schon da, der deutsche Konsul.

Thema ist der Umgang mit der diktatorischen Vergangenheit. Der Raum ist sehr speziell. Wir passieren einen Eingang, der aussieht, als führte er zu einer U-Bahn. Tatsächlich geht es in ein unterirdisches alternatives Shopping- und Kneipenareal. Ein Mädchen auf einem Roller fährt uns voran zum Vortragssaal. Der erinnert an die Kellerräume, in denen wir uns zu DDR-Zeiten oft getroffen haben, nur größer und mit moderner Technik ausgestattet. Es sind alternative Medien anwesend, Blogger, Bürgerrechtler, unabhängige TV-Sender, aber auch Studenten und Doktoren freier und staatlicher Universitäten. Ab und zu hört man eine U-Bahn an- und abfahren. Dafür kann in der Taiga life mitgesehen werden.

Das Publikum ist überdurchschnittlich informiert, interessiert und diskussionsfreudig. Es ist eine der seltenen Veranstaltungen, bei der man auch als Vortragender etwas lernt. In der Pause kann ich mir die schrägen Kreationen eines sibirischer Designers anschauen und bedauere, nicht mehr jung genug für diese kühne Mode zu sein. Nebenan ist ein Friseur, bei dem man sich die passenden Haarschnitte machen lassen kann. Das Essen, das serviert wird, ist multikulti. Leider fehlen die sibirischen Pelmeni, dabei hätten die gut zum Ambiente gepasst.

Die modische Alternative sahen wir dann später in der Oper. Hier zieht man sich noch schön an für den Kunstgenuss. Die jungen Frauen tragen Pumps mit waffenscheinpflichtig hohen Absätzen und haben die passende Haltung dazu. Jede ein Model. Die älteren Jahrgänge gleichen Matronen. Es ist ein Phänomen, wie diese Verwandlung vor sich gehen kann. Das ändere sich allmählich, versichern uns unsere russischen Begleiter. In der Vorstellung sind viele Kinder. Keins davon quengelt oder stört anderweitig. Hier wird noch erzogen. Die Kleinen wirken aber keineswegs eingeschüchtert, oder verbogen. Sie bewegen sich mit natürlicher Grazie, und jedes Mädchen ist eine Prinzessin, was sie bei uns höchstens noch bei einem Kostümfest sein dürfen.

Das Innere der Oper ist frisch renoviert. Das Erdgeschoss prangt in einem royalen Rot-Weiß, im ersten Stock dominiert ein lichtes Blau. Hammer und Sichel über der Bühne sind nicht entfernt worden. Die Straßen von Novosibirsk heißen noch „Krasni Prospekt, Sowjetskaja, Komsomolskaja, sogar Dzerdzinskaja. Auf dem ehemaligen Stalin- , heutigen Leninplatz steht noch sein Denkmal, begleitet von Matrosen und Soldaten und einem jubelnden Paar. Letzteres sieht heute aus, als wollte es den Verkehr regeln, steht im Reiseführer. Stimmt, denn die Gruppe steht noch da, wie früher, ist aber von einem gänzlichen anderen Geist umweht. Der hat so gar nichts mehr sowjetisches – und darauf kommt es an.

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Leserpost

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Werner Arning / 03.06.2018

Sehr gut beobachtet. Besonders auch das Verhalten der Kinder während der Veranstaltung. Daran erkennt man, ob einer Gesellschaft die Zukunft gehört. Auch am Verhalten der Kinder. Und wenn keine Eltern dabei zu beobachten sind, wie sie krampfhaft und erziehend versuchen, ihre quengelnden Kinder in Zaum zu bekommen, dann spricht das für die Gesellschaft. Erzählen Sie bitte mehr. Hört sich gut an.

Emanuel Hohlfeld / 03.06.2018

Vielen Dank für die sehr gute Beschreibung; Insbesondrer der Teilbericht zur Oper und Kulturbeflissenheit der Russen und den kleinen Prinzessinnen spiegelt wieder, was ich auch sah.  Novosibirsk hatte im Übrigen vor der russ. Präsidentschaftswahl eine der größten Navalny Versammlungen. Die Beschreibungen des Artikels kann ich bestätigen, denn ich war auch schon dort und in der Stadt Barnaul, der nächsten Stadt mit 600.00 Einwohnern, auch kulturell aufgeschlossen und mit im zweiten Weltkrieg aus andren Ecken der UdSSR vertriebenen Deutschen auch aus diesem Grund interessant. Die Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit der Menschen, gerade auch uns Deutschen gegenüber, obwohl Deutschland viel Leid über die Menschen dort brachte, in jeder Familie ist mindestens ein Gefallener zu beklagen, erwärmt mein Herz immer wieder. Bitte eine Fortsetzung schreiben, wie es weiterging.

Helmut Driesel / 03.06.2018

Ihre Reiseberichte, sehr geehrte Frau Lengsfeld, sind wie immer ein Genuss. Bis auf den Ausrutscher mit den “Prinzessinnen”. Ich weiß auch, Sie gehören zu den wenigen ganz harten, die in jungen Jahren den “Mut” gelesen hatten.  Nun haben Sie Ihre Begleiter hoffentlich nicht vergessen zu fragen, was die sich vom Klimawandel erhoffen? Ich platze vor Neugier auf Ihren nächsten Beitrag.

Patricia Steinkirchner / 03.06.2018

Ich war letzte Woche in Irkutsk und Ulan Ude - die Beobachtungen des Artikels kann ich vollauf teilen. Sibirien ist ganz sicher ein Land mit Zukunft, auch schon mit Gegenwart!

Ivan de Grisogono / 03.06.2018

Sehr lesenswert! Nowosibirsk ist rund 300 km SO von Tomsk in Sibirien, halbwegs zwisch Ural und Baikal See. Ich erinnerte mich sofort auf ein Buch, die authentische Geschichte Olga Yunters geb. 1900 in Sibirien, erzählt von Olga’s Enkelin, Stephanie Williams :“Olga‘s Story“, Penguin Books 2006. Frau Lengsfeld lenkt sanft unsere Aufmerksamkeit auf die mutige und leidgeprüfte Zivilgesellschaft in Russland, weit von Moskau und St. Petersburg. Diese Menschen sind die einzige Hoffnung Russlands und Europas, dass Russland nach vielen Katastrophen eine freie und ehrliche Gesellschaft noch werden kann. Eine Gesellschaft die sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten darf und von Nachbarn respektiert wird. Wir dürfen die russische, unterdrückte Zivilgesellschaft nicht verraten!

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