Den Autor dieser Zeilen haben in den letzten Tagen Zweifel geplagt. Sollte man zu den Wahlkampf-Fernsehspielen „TV-Duell“ und „Fünfkampf“ wirklich noch etwas schreiben? Die Medien werden doch ohnehin geflutet von verschiedenen Nachbereitungen dieser Nicht-Ereignisse, von zahllosen Interpretationen der lauen Wahlkampfdarstellungen, von denen eine nur deshalb gute Noten bekam, weil die andere eher der Rückschau alter Eheleute zur Goldenen Hochzeit glich. Wüsste man es nicht besser, so hätte man annehmen müssen, Angela Merkel habe ihre gesamten Amtsjahre in einer Bundesregierung mit Martin Schulz verbracht.
Dass die Kollegen überhaupt so viel darüber schreiben und senden sollten, ließ mich kurzzeitig um meinen gesunden Menschenverstand fürchten, denn ich konnte beileibe weder die inhaltliche Substanz noch die Spannung entdecken, die viele Medienarbeiter in Zeilen und Sätze zu gießen vermochten. Konnte es wirklich sein, dass sie alle dem nackten König beziehungsweise der nackten Königin nur die neuen Kleider andichteten, die sie zu sehen hofften, obwohl sie eigentlich die Armseligkeit der Debatte erkannten?
Institutionen und Medien haben für die Kommunikation mit Menschen, die komplexe Sachverhalte nur schwer oder gar nicht sprachlich erfassen können, in jüngster Zeit den Gebrauch der „leichten Sprache“ entdeckt. Dieser sogenannte Wahlkampf liefert dazu passgenau die leichten Inhalte. Fakten, die das Publikum zur Mühsal eigenen Denkens ermuntern könnten, werden zuverlässig umschifft.
Gemeinsam beten im stillen Kämmerlein
Für die Zuschauer, die das mit dem Denken partout nicht lassen können, gab es im sogenannten TV-Duell immerhin ein paar lichte Momente mit etwas Unterhaltungswert. Alles ist ja schon besprochen und gewürdigt worden. Selbst die schöne Duell-Szene, in der Merkel und Schulz nebenbei gefragt werden, ob sie eigentlich am Sonntag beim Gottesdienst waren. Beide reagierten sofort wie die ertappten Schulkinder, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Sie hatten offenbar beide das unbestimmte Gefühl, dass sie eigentlich jetzt sagen müssten, dass sie bei einem Gottesdienst waren. Nur stimmte das nicht. Also redeten sich Angela und Martin damit heraus, letztens aber in einer Kirche respektive Friedhofskapelle gewesen zu sein. Martin beendete die Szene dann genial mit der Feststellung, sie beide hätten aber im stillen Kämmerlein gebetet.
Wem das Kanzlerin- und Kandidaten-Gebet zur Anregung noch nicht gereicht hat, für den hatte – wiederum Martin Schulz – noch ein weitgehend übersehenes Geständnis im Angebot. Als er auf seinen Vorwurf, die Kanzlerin schade der Demokratie, angesprochen wurde, da relativierte er, was das Zeug hielt. Das Zitat stamme ja aus einer Parteitagsrede und in dieser Schärfe würde er das nicht wiederholen, aber er hätte das Gefühl gehabt, dass der politische Diskurs untergegangen sei. Und mit der etwas scharfen Formulierung war es sein Ziel, eine Kontroverse zu erreichen. Dass eine Kontroverse nicht allein kraftvolle Worte, sondern zunächst inhaltlichen Widerspruch braucht, dürfte auch Martin Schulz wissen. Doch woher soll man den nehmen, wenn es keinen gibt?
Wie kann auch ein Wahlkampf für ein Parlament noch spannend sein, in dem es die Abgeordneten nicht für nötig hielten, darauf zu bestehen, dass eine existenzielle Frage wie die Freigabe des Landes zu unkontrollierter Millionenzuwanderung, nur von ihnen als gewählte Vertreter des Souveräns entschieden werden kann? Willig versteckten sie sich vor der Verantwortung, ließen die Kanzlerin machen und nicht wenige von ihnen jubelten ihr dafür erst zu, um später ihren Wählern zu erzählen, wie kritisch sie den Merkel-Kurs sähen. Letztlich haben hier – unabhängig davon, zu welcher Entscheidung der Bundestag gekommen wäre – die Abgeordneten aller im Hause vertretenen Parteien vollkommen versagt. Sie haben die Erfüllung ihrer Pflicht verweigert, indem sie auf das Recht der Entscheidung verzichteten und die Regierung durch Stillschweigen zum Handeln ermächtigten.
So hat eine Entscheidung, die die deutsche Zukunft nachhaltig und irreversibel prägt, keine hinreichende demokratische Legitimation, aller schönen Worte und Sprechblasen zum Trotz.
Symptome einer schweren Krankheit
Eigentlich haben sich viele Menschen an die sinnentleerten Textbausteine aus dem Politikbetrieb inzwischen so sehr gewöhnt, dass sie sie routiniert überhören. Diktaturerfahrene Mitbürger kennen das noch von früher, als man die omnipräsenten Parolen und Losungen der Staats- und Parteiführung auch nicht mehr bewusst wahrnahm. Aber irgendwann ist es eine zu viel.
Wie beschrieben, zweifelte ich ja eher entweder an meinem Geisteszustand oder dem etlicher Journalisten-Kollegen, weil die so viel Inhalt und Diskurs in diesen schlechten Inszenierungen der Wahlkampf-Fernsehspiele entdecken konnten und ich nicht. Doch dann beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass die anderen einfach einen Arbeitsauftrag erfüllen mussten, während ich sagen konnte, dass dieses schlechte Stück Schein-Demokratie eigentlich kein Wort der Aufmerksamkeit verdient hat und mir deshalb nichts Originelles einfalle.
Etwas Originelles ist mir bis jetzt auch nicht eingefallen, wie Sie sehen. Doch Dr. Norbert Lammert hat mir die Augen geöffnet, dass diese Sprechblasen-Flut und die dazugehörige Textbaustein-Lawine keine Ärgernisse sind, die sich durch großmütiges Ignorieren erledigen, sondern Symptome einer schweren Krankheit.
Lammert hat am Dienstag seine Abschiedsrede als Bundestagspräsident gehalten. Dort fiel der denkwürdige Satz: „Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie.“ Er sagte das an dem Ort, an dem diejenigen, die dafür bezahlt werden, nicht einmal versucht haben, ihre Mitwirkung an der demokratischen Entscheidung über Grundsätzliches einzufordern. Wenn das das Herz der Demokratie ist, dann haben wir es aber mit einem schweren Demokratie-Infarkt zu tun.
Bei seiner Antrittsrede als Bundestagspräsident im Jahr 2005 – Angela Merkel war gerade Bundeskanzlerin geworden – hatte er schon einmal eine Variation dieses Satzes gebraucht: „Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht.“ Jetzt schlägt es dort aber nicht, wenn es um entscheidende Fragen geht. Was heißt das nun? Sollten wir den Notarzt rufen oder weiter auf Frau Dr. Merkel vertrauen?
Der Beitrag erschien auch auf Peter Grimms Blog sichtplatz