Richard Wagner / 03.10.2011 / 07:10 / 0 / Seite ausdrucken

Kurze Geschichte des Deutschland-Denkens

Gegen jeden aus Stimmung, durch Stimmungsmache forcierten Trend, gegen die Kaufkraft der westdeutschen Wirtschaft - für harte DM ist sogar Einheit zu haben -, ja., auch gegen ein Selbstbestimmungsrecht, das anderen Völkern ungeteilt zusteht, gegen all das spricht Auschwitz, weil eine der Voraussetzungen für das Ungeheure, neben anderen älteren Triebkräften, ein starkes, das geeinte Deutschland gewesen ist. (...) Allen Grund haben wir, uns vor uns als handlungsfähige Einheit zu fürchten.

(Günter Grass, Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetikvorlesung, Frankfurt am Main 1990)

Was wird aus der Identität der Deutschen? Lenken die wirtschaftlichen Probleme den Einigungsprozess in nüchterne Bahnen? Oder wird die D-Mark libidinös besetzt und in der Weise aufgewertet, das eine Art wirtschaftsnationale Gesinnung das republikanische Bewusstsein überwältigt?

(Jürgen Habermas, „Nochmals: Zur Identität der Deutschen“, Frankfurt am Main 1990.)

Seiner Struktur nach ist das Deutschland-Problem ein Anachronismus, ein besonders komplexer, lange verschleppter, überständiger Streitfall aus der Zeit des Kalten Krieges. In den fünfziger Jahren konnte Deutschland als Paradigma für eine in zwei Blöcke geteilte Welt gelten, im Selbstverständnis seiner Bewohner, und vermutlich auch seiner herrschenden Klassen und Schichten, gilt es immer noch dafür. Diesem Selbstverständnis entspricht jedoch weltpolitisch keine Realität mehr, es ist provinziell und borniert geworden. Seitdem die beiden großen Systeme des Westens und des Ostens sich dissoziiert haben, seitdem China als selbstständig handelndes Subjekt ersten Ranges auftritt, seitdem das Epizentrum der internationalen Politik sich nach Südostasien, Lateinamerika und Afrika zu verlagern begonnen hat, ist Deutschland zur Anomalie, zum Sonderfall geworden.

( Aus dem umfangreichen Dossier: Katechismus zur deutschen Frage, veröffentlicht in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Zeitschrift Kursbuch Nr. 4/ 1966.)

Solange das Ausland sieht, dass die Deutschen selber sich kein bisschen einig sind, ob sie wieder ein ungeteiltes Deutschland wollen, können wir auch von dem Reformer aus Moskau nichts erwarten. Und die Schriftsteller, die Intellektuellen, die Philosophen, ein ungeteiltes Deutschland ist ihnen entweder das Unwichtigste oder das Unerwünschteste. Wer bei uns die Trennung nicht hinnehmen will, dem wird die intellektuelle und die moralische Zurechnungsfähigkeit bestritten.

(Martin Walser, anlässlich der FAZ Umfrage vom 8. Oktober 1989: Was erwarten Sie von Gorbatschows Besuch in der DDR?)

Die DDR muss einfach die Alternative werden, sonst wäre das europäische Haus ja eine todlangweilige Angelegenheit. Dann gäbe es als Alternative nur noch den Terrorismus und die Mafia, und das ist beides auf die Dauer schlecht für die Seele.

(Heiner Müller, Zur Lage der Nation, Berlin 1990, S. 17.)

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