Hannes Stein / 27.05.2007 / 14:51 / 0 / Seite ausdrucken

Kulturlinke

Es gibt im Deutschen den Begriff des “Kulturchristen” oder “Kulturmuslim”. Gemeint ist damit: ein Mensch, der christlich oder islamisch sozialisiert wurde, sich vom Glauben seines Elternhauses abgewandt hat—und dennoch weiterhin an ein paar Traditionen festhält, sei es, weil er sie schön findet oder aus Bequemlichkeit: Weihnachtsplätzchen backen, kein Schweinefleisch essen etc.
Ich schlage vor, dieser Liste den Begriff des Kulturlinken hinzuzufügen, also des Menschen, der zwar nicht mehr—wie noch seine Eltern—an den Sozialismus glaubt, aber trotzdem weiterhin eine Handvoll linke Gewohnheiten pflegt, weil er gar nicht anders kann. Zum Beispiel finden es Kulturlinke schwierig, mit Anzug und Krawatte (für Damen: im Abendkleid) herumzulaufen. Gewiss, man wirft sich in Schale, wenn es notwendig ist—dann sogar jedesmal ganz gern—, aber es fühlt sich trotzdem fremd an.
... ...

Ein wesentliches Merkmal des Kulturlinken hat Michael Miersch in einem Essay für “Die literarische Welt” (“Ja, bin ich denn rechts?”) festgehalten. Es ist jener berühmte Moment in “Casablanca”, wo die Nazis in Rick´s Café “Die Wacht am Rhein” anstimmen, der aus dem KZ entkommene Viktor Lazlo die Kapelle auffordert, die"Marseillaise” anzustimmen, Rick diesen Befehl mit einem kaum merklichen Kopfnicken bestätigt—und das ganze Café aufsteht und mit der “Marseillaise” die Nazis niedersingt. Kulturlinke bekommen dann immer feuchte Augen.
Hier noch ein paar Punkte, die vielleicht nur mich betreffen undsonst niemanden. Ich kann die meisten Kampflieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg schmettern (darunter viele, die ich grauenhaft schlecht und militaristisch finde—es hilft nichts, ich habe sie trotzdem im Ohr: “Doch dann, einesTags, wenn die Stunde kommt / Da wir alle Gespenster verjagen / Wird die ganze Welt zur Jaramafront / Wie in den Februartagen!”).
Ich kann etliche Gedichte von Brecht auswendig und den Anfang von “Deutschland. Ein Wintermärchen” von Heine—aber nicht einen einzigen Vers von Gottfried Benn. Oder Stefan George.
Ich muss nur “Bob Dylan” denken und die Augen schließen, schon höre ich seine hässlich-schöne Stimme.
Ich nehme zur Kenntnis, dass es Männer gibt, die altmodisch den Ritus des Handkusses pflegen, aber ich könnte das nie und nimmer—bei allem Enthuisiasmus für Ritterlichkeit, Höflichkeit und das ganze Zeugs nicht. Sorry. Ich käme mir so affig vor, ich würde auf der Stelle vor Peinlichkeit tot umfallen.
Muss ich mich schämen, weil ich ein Kulturlinker bin? Nein, denn seine familiären Prägungen kann man sich ja nicht aussuchen. Außerdem würde ich über die Linke das sagen, was ein redlicher Atheist auch dem Christentum oder dem Islam einräumen müsste—also: Die Religion war falsch, es gibt da nichts zu retten oder rechtfertigen, aber sie hat immerhin großartige Kulturleistungen hervorgebracht. (Michelangelos Statuen, Bachs Chaconne, prächtige Moscheen etc. pp.)
Will sagen, “Casablanca” finde ich immer noch gut.

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