Michael Miersch / 04.04.2007 / 15:35 / 0 / Seite ausdrucken

Krisztina Koenen: Die Macht der Straße

Im Streit zwischen Ex-Kommunisten und Nationalpopulisten geht in Ungarn das Vertrauen in die Demokratie verloren

Eine Analyse von Krisztina Koenen, erschienen in „Die Welt“, Dienstag am 3. April 2007:

Im heutigen Ungarn, scheint es gleich zwei Welten zu geben. Die eine gedeiht prächtig: Die Zeichen wachsenden Wohlstands sind nicht zu übersehen. Im krassen Gegensatz zum wirtschaftlichen Fortschritt verläuft das politische Geschehen. Seit geraumer Zeit befindet sich die politische Klasse des Landes in einem fiebrigen Aufregungszustand, das auch die Institutionen der parlamentarischen Demokratie infiziert hat. Die gewalttätigen Ausschreitungen am Jahrestag der antihabsburgischen Revolution von 1848 am 15. März waren nur eines der Symptome.
Dabei sah es 1989 so aus, dass Ungarn von allen sozialistischen Ländern den Systemwechsel am leichtesten würde bewerkstelligen können. Denn dort gab es schon unter den Kommunisten marktwirtschaftliche Reformen, und das kulturelle Leben war so frei, wie es unter russischer Vorherrschaft überhaupt nur möglich war. Dementsprechend verlief der Übergang friedlich, die Reformkommunisten der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, der ehemaligen Staatspartei, saßen am „Runden Tisch“ zusammen mit den neuen demokratischen Parteien und wurden – als Teil des Kompromisses – als vollwertige Akteure des neuen demokratischen Systems akzeptiert.
Rückblickend muss man feststellen, dass eben dieser fast konfliktlose, mit vielen Kompromissen behaftete Übergang am Anfang der Probleme stand, die Ungarn seither plagen. Denn er ermöglichte der USAP, diesem Machtinstrument der Diktatur, sich ohne weiteres in eine neue, nunmehr demokratisch legitimierte Partei, die Ungarische Sozialistische Partei umzuwandeln. Niemand anderer symbolisierte die Kontinuität besser, als der erste Parteivorsitzende und ehemalige USAP-Außenminister Gyula Horn.
Auch wenn die Sozialisten die ersten demokratischen Wahlen 1990 an das konservative Demokratische Forum verloren hatten, nutzten viele ihrer früheren Funktionäre die ihnen aus kommunistischen Zeiten zur Verfügung stehenden Insiderinformationen, um große Vermögen an sich zu reißen und aufzubauen. Viele der heutigen Branchenriesen sind so in die Hände von ehemaligen Parteifunktionären übergegangen und auch Ministerpräsident Gyurcsány verdankt zumindest die Anfänge seines Aufstiegs als Geschäftsmann eben diesen parteiinternen Wirtschaftsinformationen. Die Seilschaften der ehemaligen Kommunisten existieren in Unternehmen, den Medien, Ämtern und Institutionen fort, die Mitgliedschaft der Partei hat sich nur teilweise erneuert. Deshalb ist die Glaubwürdigkeit der Sozialisten erheblich eingeschränkt, und da hilft es auch nicht, dass sie, einmal an die Macht gelangt, sich als die Partei der Modernisierung und der konsequenten Westbindung erwiesen haben – das heißt, überwiegend zum Vorteil des Landes regiert haben und zur Zeit auch regieren. Sie sind für ihre Opponenten extrem angreifbar und schaffen es deshalb nicht, selbst wenn sie das Richtige tun, ein glaubwürdiges Programm und eine starke Regierung zu stellen. Deshalb mussten sie bei allen Wahlen bei verantwortungslosen Versprechungen Zuflucht nehmen – die freilich von den immer noch staatsgläubigen Ungarn gern gehört wurden. Deshalb hat im September 2006 die parteiinterne „Lügen-Rede“ von Ministerpräsident Gyurcsány einen solchen Aufruhr hervorrufen können, ungeachtet dessen, dass er damit das Richtige bezweckte.
Der Sündenfall der Sozialisten war in gewisser Weise der Auslöser für die fatale Entgleisung der gegnerischen großen Volkspartei, der nationalkonservativen Fidesz. Um aus diesem Sündenfall jedoch eine nationale Konfrontation des Ausmaßes zu erzeugen, wie wir sie zur Zeit erleben, bedurfte es darüber hinaus der Persönlichkeitsstruktur und des brennenden Ehrgeizes eines Demagogen wie Viktor Orbán, dem Vorsitzenden der Partei.
Mit dem Wahlsieg der Sozialisten 2002 und noch mal 2006 hat sich Fidesz unter der Führung von Orbán, der Silvio Berlusconi und die Forza Italia als seine großen Vorbilder bezeichnet, niemals abgefunden. Sofort nach der ersten Wahlniederlage war der Plan entstanden, den Machtkampf mit den Sozialisten auf die Straße zu tragen und Fidesz als die revolutionäre Kraft, die mit dem verhassten Sozialismus endgültig Schluss macht, zu positionieren. Dafür bot das vorherrschende ungarische Selbstbildnis, das im Wesentlichen dem romantischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts entstammt, willkommene Anknüpfungspunkte. Einer Bevölkerung, die nach dem Zusammenbruch aller herkömmlichen Vorbilder nach identitätsstiftenden Visionen verlangte, waren die Bilder einstiger Heldentaten und Größe leicht zu verkaufen. Demnach sind die Ungarn ein tapferes kleines Volk, das bis zum heutigen Tag im Kampf um seine nationale Unabhängigkeit gegen übermächtige Feinde steht. Die Kämpfe gegen Tataren, Türken, Österreicher und Russen wurden noch stärker als früher zum Teil der nationalen Mythologie, die antirussische Revolution von 1956 erhielt gar den Status eines heiligen Ereignisses.
Fidesz stellte ihr Programm als neues Kettenglied in die Reihe dieser Kämpfe, betrachtete sich als einzigen legitimen Erben von 1956 und knüpfte an die Tradition des Aufstandes der Straße gegen die Herrschaft ausländischer Mächte an. Die Partei bedient sich dabei, um die Fremdheit der Sozialisten zu untermauern, der im Lande virulenten Gefühle von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus, zu deren Verstärkung sie selbst nicht unwesentlich beigetragen hat. Sie findet nichts dabei, im Bezirk Innenstadt von Budapest mit der offen antisemitischen Partei „Jobbik“ zusammen zu regieren und für Orbán ist das öffentliche zeigen einer Flagge, die die Pfeilkreuzler, die ungarischen Nazis im Zweiten Weltkrieg, zitiert, vollkommen in Ordnung. In seinen Reden spricht der Fidesz-Parteichef nicht etwa zu den Bürgern des Landes, sondern wie zuletzt im Februar zu den „ungarischen Menschen“, in einer archaischeren Form zum „ungarischen Mann“. Er und seine Partei propagieren eine Fiktion: den uniform denkenden und handelnden Ungarn, der keine Interessenkonflikte und Widersprüche kennt, ein mythisches Subjekt des einheitlichen Volkswillens. Dieses Subjekt, das mit der Nation identisch ist, befindet sich allerdings in einem Zustand der extremen Unterdrückung durch die „neue Aristokratie“ der Sozialisten, die zusammen mit ihren Wählern nicht Teil der Nation, sondern viel mehr „Vaterlandsverräter“ sind. Und weil das Land durch diese Art Fremdherrschaft am Rande des Abgrunds steht, ist kein Platz mehr für langwierige parlamentarisch-demokratische Prozeduren: Die Nation braucht den Regierungs- und Systemwechsel um jeden Preis. Jetzt.
Nun sind Rassismus und Antisemitismus in Ungarn nichts Neues. Aus der letzten zur Verfügung stehenden Umfrage aus den Jahren 1993 bis 2003 geht hervor, dass zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung „militant antisemitisch“ ist, 25 Prozent teilen antijüdische Vorurteile. Aber es ist eine neuere Entwicklung, dass das augenzwinkernde Einverständnis von Politikern mit dem volkstümlichen Antisemitismus diesen aus den Niederungen der Gesellschaft hervorgeholt und in der Alltagskommunikation salonfähig gemacht hat. Was zunächst anlässlich von Fußballspielen ungeahndet blieb (das Zeigen antisemitischer Spruchbänder, das Rufen von Parolen wie „Der Zug nach Auschwitz fährt gleich los!“ und das Verprügeln von gegnerischen Fans oder auch unbeteiligter Passanten), sickerte allmählich aus den einschlägigen Milieus heraus, und inzwischen kann keine öffentliche Kundgebung mehr stattfinden, und soll es auch nur eine harmlose Nikolaus-Feier in der Budapester Innenstadt sein, ohne dass die rot-weiß gestreiften Arpad-Fahnen der Nationalsozialisten und Großungarn (mit annektierten Teilen fast aller Nachbarstaaten) darstellende Embleme auftauchten. Es existiert in dieser Hinsicht kein Unrechtsbewusstsein mehr, es ist nicht anrüchig, als Teil von Polemiken auf die jüdische Abstammung von Politikern und anderen Akteuren des öffentlichen Lebens hinzuweisen. Am 15. März durfte der Holocaust-Leugner David Irving als Festredner einer öffentlichen Veranstaltung auftreten.
Wieso konnte es so weit kommen? Warum haben die Sozialisten Nationalismus und Antisemitismus nicht von Anfang an bekämpft, die Polizei entschieden gegen die ersten Zeichen der Eroberung der Straße durch den Mob eingesetzt? Warum taten das die dafür zuständigen Institutionen nicht? Sie haben sich tatsächlich nicht getraut. Sie haben sich nicht getraut, den Revisionismus gegenüber Ungarns Nachbarn zurückzuweisen, um nicht als kommunistische Vaterlandsverräter da zu stehen. Aus dem gleichen Grund haben sie sich nicht getraut, dem Kult der Straße und der Gewalt entgegenzutreten. Insbesondere die Sozialisten wollten in diesem Zusammenhang auf keinen Fall daran erinnert werden, dass sie die Nachfolger jener Kräfte sind, die die Revolution von 1956 niedergeschlagen haben. Schritt für Schritt haben auch öffentliche Intellektuelle eine demokratische Position nach der anderen preisgegeben oder sind verstummt.
So ist es in der gegenwärtigen Atmosphäre des offen zur Schau getragenen Hasses nicht mehr möglich, wichtige Fragen zum Gegenstand intellektueller Debatten zu machen. Niemand wagt es, die Verherrlichung des bewaffneten Kampfes als Mittel der Politik zu kritisieren oder die Frage aufzuwerfen, welche Folgen die von den Aufständischen 1956 begangenen Gräueltaten für den Ausgang der Revolution hatten. Der Zwischenfall vom Köztársaság-Platz, wo die kapitulierenden Verteidiger der Parteizentrale niedergemäht wurden, die Lynchjustiz gegenüber Parteimitgliedern und russischen Soldaten oder auch der Sturm auf ein jüdisches Altersheim sind mehr als kleine Schönheitsfehler der Revolution. Mit der Lehre, die daraus gezogen werden müsste, nämlich, dass es nie gut geht, wenn die Macht der Straße gehört, wie großartig die Ziele auch sind, will sich heute niemand beschäftigen.
Inzwischen gerät jeder nationale Feiertag zu einer Machtprobe. Daran ist nicht nur die kleine Minderheit beteiligt, die Waffen hortet und Molotowcocktails bastelt. Auch beachtliche Teile des konservativen, durchaus vermögenden Bürgertums haben sich – mit verschiedenen Motiven – hinter der Flagge von Fidesz versammelt. Zwischen den Feiertagen wird der ohnehin wenig verankerte Parlamentarismus durch eine Inflation der Plebiszite weiter geschwächt, ein Zustand der permanenten Aufregung erzeugt. Die Energien der Regierung werden aufgezehrt und ihre Arbeit extrem erschwert, obwohl sich immer größere Wirtschaftsprobleme auftürmen. Der größte Teil der Bevölkerung wendet sich von diesem Schauspiel angeekelt ab und hegt seine eigenen Zweifel an der Brauchbarkeit der parlamentarischen Demokratie. Diejenigen, die inzwischen das ganze Geschäft der Politik verachten, sind die dritte und größte Partei in der zerrissenen Gesellschaft. Sollte eines Tages die parlamentarische Demokratie in ernsthafte Bedrängnis geraten – mit ihnen als Verteidigern sollte niemand rechnen.

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