„Die Ära Adenauer war eine trübe Zeit“. Mit diesem Verdikt beendete Ulrike Marie Meinhof einen fulminanten Essay für den Reader „Die Ära Adenauer – Einsichten und Ausblicke“, erschienen im Januar 1964. Ich war damals 16 Jahre alt und hatte mir das Paperback vor allem deshalb besorgt, weil Ulrike meine Schwägerin und ich sehr stolz auf sie war. Es gab nicht viele Journalistinnen, die in einem seinerzeit illustren Umfeld – unter anderen Golo Mann, Matthias Walden, Rudolf Augstein, Thilo Koch, Gösta von Üexküll – ihre politische Meinung äußern durften. Ohnehin gab es damals kaum politische Star-Schreiberinnen, wenn man von Carola Stern, der Gräfin Dönhoff und ein paar anderen absieht. In besagtem Buch aus der angesehenen Fischer Bücherei war UMM der einzige weibliche Autor.
Trotz meines familiären Fanschals kam mir der Satz aber doch ein bisschen krass vor, das erinnere ich genau. Trübe Zeit? Waren das nicht eher jene Jahre gewesen, die vor der Ära Adenauer lagen? Bilder von Schaufelbaggern, die Leichenberge in den befreiten KZ auftürmten, sie hatten sich unauslöschlich in das Gedächtnis meiner Generation eingebrannt.
Gut, es hatte ein paar Jahre zuvor die „Spiegel“-Affäre gegeben, welche sogar in meiner verschnarchten Heimatstadt Stade ein paar wackere Menschen auf die Straße trieb. Aber die Sache war dann ja mit einem, wie man später sagte, Sieg der Demokratie geendet. Der Hauptbösewicht Strauß hatte schwer was auf die Mütze bekommen. Augsteins Mannen genossen fortan Heldenstatus. The times they were a-changin’!
Ja, der Wirtschaftswundermotor lief noch, als Adenauer zurückgetreten wurde, wenn auch vielleicht nicht mehr im Overdrive. Alle hatten Arbeit, Musiktruhen und machten Urlaub an sonnigen Gestaden. Neckermann machte es möglich. Alles lief und lief und lief, wie der Käfer. Und ich, später Spross unbetuchter Vertriebener, war seit einem Monat stolzer Besitzer eines (gebrauchten) Vicky-Mopeds! Nee. So richtig konnte mich das Urteil meiner Schwägerin nicht überzeugen.
Die Melodie aus Ostberlin ist unschwer erkennbar
Erst viel später erfuhr ich, welche persönliche Erfahrung hinter dem Satz steckte. Eine trübe Zeit, das war die Ära Adenauer vor allem für westdeutsche Kommunisten gewesen. 1956 war die KPD verboten worden. Im selben Jahr trat UMM in die Partei ein; sie war fortan praktisch eine Illegale. Das Verbot der immer chancenlosen KPD war möglicherweise falsch und nützte ohnehin wenig (1968 wurde die KPD einfach zur DKP umgerubbelt), doch war das Projekt nicht vollends von Paranoia getrieben.
Wie nach dem Mauerfall ans Licht gekommene Dokumente beweisen, war der westdeutsche SED-Ableger nicht nur mit Propaganda befasst. Manche Mitglieder wurden von der SED für den Fall eines heißen Krieges in Sabotage- und Mordaufträgen geschult – eine klassische „Fünfte Kolonne“ wie aus den Drehbüchern der gleichnamigen, dezidiert antikommunistischen Krimiserie, die von 1963 bis 1968 im ZDF (!) ausgestrahlt wurde.
Für eine Kommunistin wie Ulrike Meinhof muss die Ära Adenauer selbstredend ein trübes Kapitel gewesen sein. Sie hatte sich zu ihrer besten Zeit als Publizistin - eine gern in bürgerlichen Medien gedruckte, zu Diskussionen ins Staatsfernsehen geladene Linksintellektuelle - nie als illegales KPD-Mitglied geoutet. Hätte sie in diesem Punkt Flagge gezeigt, so wären ihr wichtige Kanäle verschlossen geblieben.
Wer Meinhofs Text aus dem Fischer-Buch nachliest, erkennt aber unschwer die Melodie aus Ostberlin. Neben luzidem Mief & Muff-Spott über das „Altmodische“, „Kleinkarierte“ und „Provinzielle“ des Adenauer-Bonns, neben Klageliedern über zu hohe Mieten und zu geringe soziale Wohltaten läuft alles auf einen Hauptvorwurf raus: Adenauer hatte die Westbindung robust durchgesetzt und unumkehrbar gemacht. Die zu knacken von jeher das vornehmste Ziel aller kommunistischen und kryptokommunistischen Anstrengungen auf westdeutschem Boden war. Zitat Meinhof: „In diesem Land wird gelebt, als gäbe es keine anderen Bündnispartner als die der NATO.“ Klar, wer die alternativen Bündnispartner gewesen wären.
Der Spiegel möchte noch einmal nachtreten
Da gerade ein runder Adenauer-Todestag war, wollte auch der Spiegel dem Rosenfreund aus Rhöndorf, 53 Jahre nach Ulrike Meinhof, noch mal posthum in den Allerwertesten treten. Das Magazin, am Kiosk von einem Verkaufstiefpunkt zum nächsten eilend, meldete aufgeregt was von Bespitzelungen der SPD, die Adenauer im Jahre des Herrn 1960 beim Herrn Gehlen in Auftrag gegeben habe, was „Geheimakten“ nunmehr beweisen würden und so weiter und so fort. 50 Jahre nach seinem Tod müsse „das Bild des Gründungskanzlers korrigiert werden.“ Die Geschichte Nachkriegsdeutschlands, muss sie nun umgeschrieben werden?
Die Fakten waren für eine Titelstory leider so kleinkalibrig, das Echo darauf so dürftig, dass man es kaum für möglich hält, was aus Augsteins dicker Bertha geworden ist. Aber vielleicht enthält die Sache wenigstens einen volkserzieherischen Sinn. Je länger nämlich die Ära Adenauer her ist, desto leuchtender erscheint sie selbst jenen Alten, die Nazi-Skandale, Prüderiewahn und gesellschaftliche Verkrustung der Adenauerzeit in ihrer Jugend heftig kritisierten.
Bloß hängt das weniger mit der Tatsache zusammen, dass wir die Vergangenheit bekanntlich immer gern aufhübschen. Mehr mit einer tatsächlich unschönen Gegenwart. Jener trüben Zeit, die man einst die Ära Merkel nennen wird.
PS: In dem o.g. Text von Ulrike Meinhof findet sich eine Passage, welche man, geringfügig aktualisiert, eins zu eins als Analyse der aktuellen Zustände lesen kann.
Vierzehn Jahre Adenauer haben aus 55 Millionen Deutschen, Schreibern und Lesern; Politikern und Kommentatoren, Zuschauern und Produzenten ein Volk von Halbinformierten gemacht, von denen die einen nur die Hälfte dessen sagen, was sie wissen, von denen die anderen nur die Hälfte dessen erfahren, was sie brauchen, belastet mit Vorurteilen, umgeben von Tabus, eingeschnürt in Illusionen, so tief, daß sie ihre eigenen Vorteile nicht mehr zu erkennen vermögen, ihre eigenen Interessen nicht mehr wahrnehmen.