Thomas Petersen
Der Mythos vom rationalen Wähler
Eine der wichtigsten Aufgaben für die Sozialwissenschaft besteht darin, Wunsch und Wirklichkeit auseinander zu halten. Man sollte meinen, das sei eine Kleinigkeit, doch tatsächlich ist es eine der schwersten Aufgaben überhaupt, denn das Bedürfnis, Wunsch und Wirklichkeit miteinander zu vermischen, ist bei den meisten Menschen geradezu unüberwindlich, Sozialforscher übrigens eingeschlossen.
Wann immer man mit seiner Forschung eine unangenehme Facette der Gesellschaft erkennbar werden lässt, sieht man sich mit Vorwürfen konfrontiert, man propagiere, was man tatsächlich nur dokumentiert. Präsentiert man etwa Hinweise auf egoistisches Verhalten, muss man sich anhören, man vertrete ja ein ganz zweifelhaftes Menschenbild. Elisabeth Noelle-Neumann, die Gründerin des Allensbacher Instituts, entwickelte in den 70er Jahren die Theorie der „Schweigespirale“, die beschreibt, wie sich Menschen, wenn sie sich gesellschaftlich unter Druck fühlen, diesem Druck anpassen. Neben diversen Mutmaßungen über ihre angeblich niederen Beweggründe musste sie sich daraufhin auch des Vorwurfs erwehren, sie befürworte das Mitläufertum. Mit vor Empörung zitternder Stimme wird dann gefragt: „Wollen wir in einer solchen Gesellschaft leben?“ Die Antwort lautet: Eigentlich lieber nicht, aber leider haben wir keine Wahl (bemerkenswerterweise zeigt sich dieses Muster nur dann nicht, wenn man Tendenzen zum Rechtsextremismus nachweist. Hier lösen schlechte Zahlen regelrecht Begeisterung aus. Die Spekulation darüber, welches seltsame Bedürfnis hier offenbar befriedigt wird, würde an dieser Stelle aber vom Thema wegführen).
Im Bundestagswahljahr wird voraussichtlich wieder ein Klassiker der Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit in der öffentlichen Diskussion auftauchen: Der Mythos vom rationalen Wähler. Er ist vor allem in den Vereinigten Staaten weit verbreitet, prägt dort ganze Forschungstraditionen, doch von dort aus schwappt er auch regelmäßig in die deutsche Politikwissenschaft über.
Der Kern der Vorstellung vom rationalen Wähler liegt in der Idee von einer idealen Demokratie begründet: Ein demokratisches Staatswesen, so der Grundgedanke, ist auf vernünftige, aufgeklärte und verantwortungsbewusste Bürger angewiesen. Und weil viele Politikwissenschaftler die Demokratie aus gutem Grund als das beste aller politischen Systeme verteidigen möchten, muss aus ihrer Sicht auch der Nachweis geführt werden, dass die Bürger dem demokratischen Ideal entsprechen. So haben sich Generationen von Theoretikern mit „Rational Choice“-Ansätzen befasst: Das sind teilweise intellektuell äußerst anspruchsvolle Denkmodelle, die sich mit der Frage beschäftigen, mit welchen Strategien die Bürger die Vor- und Nachteile verschiedener politischer Angebote abwägen und dann auf dieser Grundlage die für sie vernünftigste Entscheidung fällen.
Das Problem der „Rational Choice“-Ansätze ist nur, dass sie im Kopf eines Forschers die erste eigene Wahluntersuchung nicht überleben. Jede auch nur halbwegs aufmerksame Studie des tatsächlichen Wahlverhaltens zeigt nämlich, dass in den allermeisten Fällen alle möglichen Kriterien die Wahl bestimmen, aber nicht rationale, logisch durchdachte Entscheidungsprozesse. Man findet impulsive Wechselwähler und Menschen, die aus Gewohnheit immer dasselbe wählen, Wähler die sich für den sympathischsten Kandidaten entscheiden und solche, die wie besessen einem einzigen Sachthema alles andere unterordnen. Nur einen Wählertypus muss man mit der Lupe suchen: Den kühl abwägenden, rational entscheidenden, verantwortungsbewussten Idealbürger der Demokratietheorie.
Dass heißt nicht, dass es diese rationalen Wähler überhaupt nicht gibt. Sie machen nur eine kleine Minderheit der gesamten Wählerschaft aus. Aufschlussreich ist, was passiert, wenn sie doch einmal unerwartet in Erscheinung treten, wie kürzlich bei der Niedersachsen-Wahl. Offensichtlich hatten nicht wenige Bürger, die politisch der CDU nahestanden, den aus ihrer Sicht taktisch vernünftigen Beschluss gefasst, die FDP zu wählen und so die Chance auf eine Fortsetzung der bürgerlichen Koalition zu verbessern.
Wie reagiert die Öffentlichkeit darauf? Freut man sich, dass sich immerhin ungefähr fünf Prozent der Bürger dem theoretischen Ideal entsprechend verhalten haben? Nein. Stattdessen reagiert man regelrecht empört und versucht, die Wahlentscheidungen dieser Bürger als „Leihstimmen“ abzuqualifizieren, als seien sie dadurch weniger wert. Der „rationale Wähler“ wird nur solange befürwortet, wie er nicht tatsächlich in Erscheinung tritt. Dieses Muster ist typisch für viele Debatten in Deutschland: Im Prinzip bekennen sich alle zur Rationalität - aber der Irrationalität wird die bessere Moral zugesprochen.
Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach