Thomas Petersen
„Ich bin nicht befragt worden“
„Ihre Methode kann nicht funktionieren!“ donnerte der langjährige Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld die Pionierin der deutschen Umfrageforschung Elisabeth Noelle-Neumann einst an. „Ich bin nicht befragt worden, und mit mir sind 99 Prozent der Bevölkerung nicht befragt worden! Sie können nicht wissen, was wir denken!“
Den meisten Menschen bleibt rätselhaft, wie es möglich sein soll, wenige hundert Menschen über ihre Meinung zu befragen und dann zu sagen, man wüsste, wie 80 Millionen Deutsche denken. Man kann die Logik, die dahinter steckt, vielleicht rational nachvolliehen, doch selbst die klügsten Menschen können sie kaum intuitiv erfassen. Das kann selbst Autoren der „Achse des Guten“ passieren: Silvia Meixner berichtete einmal von einer - zugegebenermaßen inhaltlich sinnlosen - Umfrage und wischte sie mit der Bemerkung zur Seite, dort seien nur 665 Personen am Telefon befragt worden. Das könne ja unmöglich für drei Millionen Berliner repräsentativ sein.
Doch für einen Sozialwissenschaftler klingt der Hinweis auf 665 am Telefon interviewte Personen viel vertrauenerweckender als der Vermerk, 40.000 User im Internet hätten zu einem bestimmten Thema abgestimmt. Es kommt nämlich nicht darauf an, wie viele Menschen man befragt, sondern dass man die richtigen Personen befragt.
Die größten Umfragen aller Zeiten waren die der amerikanischen Zeitschrift „Literary Digest“, die zur Präsidentschaftswahl 1936 zehn Millionen Fragebogen per Post verschickte - und aus den Antworten eine krachende Fehlprognose errechnete. Der „Digest“ hatte nämlich nach dem Prinzip „viel hilft viel“ die größten Adressenlisten benutzt, die er bekommen konnte, und das waren das Telefonbuch und die Register der Autozulassungsstellen. Telefone und Autos waren aber in den 30er Jahren Luxusgegenstände. Es war, als würde man heute aus den Antworten von Yachtbesitzern, Golfspielern und Mercedes-Fahrern eine Wahlprognose errechnen wollen. Es nützt nichts, riesige Zahlen von Menschen zu befragen, wenn es die falschen sind.
Man muss als Forscher ohnehin akzeptieren, dass man auch mit dem größten Aufwand immer nur einen verschwindend kleinen Teil derjenigen befragen kann, über die man etwas aussagen will. Also muss man sicherstellen, dass die wenigen, die man befragen kann, für die vielen sprechen können, die man nicht befragen kann (darum heißt es ja „Repräsentativumfrage“). Und wie stellt man dass sicher? Die Antwort lautet: Durch Zufall.
Allerdings bedeutet „Zufall“ hier nicht das, was man im Alltag damit verbindet. Es reicht nicht aus, einfach die erstbesten Leute in der Fußgängerzone zu befragen, denn dort kaufen andere Leute ein als im Großmarkt am Stadtrand. Man kann auch nicht wahllos massenhaft Emails verschicken, denn die wenigen, die begeistert darauf antworten, sind andere Typen als die vielen, die die Mail in den Spam-Ordner werfen. Stattdessen muss man seine Zielpersonen gleichsam „auswürfeln.“ Jeder, der der Gruppe angehört, über die man eine Aussage machen will, muss die gleiche Chance haben, ausgewählt zu werden. Und dann muss man dahinter her sein, dass möglichst viele der Ausgewählten auch wirklich antworten, auch wenn sie nur mäßig am Thema interessiert sind, nie ihr Haus verlassen oder umgekehrt ständig unterwegs und damit schlecht zu erreichen sind. Da reicht es nicht, Briefe oder Emails zu verschicken, sondern man muss geduldig immer wieder anrufen oder Interviewer an den Haustüren klingen lassen.
In der Praxis ist das ein ziemlich aufwendiger Prozess. Doch die Mühe lohnt sich, denn auf die Antworten der auf diese Weise ausgesuchten Personen kann man die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung anwenden: Man kann von ihnen mit sehr großer und berechenbarer Wahrscheinlichkeit auf die Bevölkerung als Ganzes schließen. Die absolute Zahl der Befragten sagt dann nur noch etwas über die Genauigkeit aus, nicht aber über die Repräsentativität an sich. Bei 1000 Befragten ist man auf drei Prozentpunkte genau, bei 2000 Befragten auf zwei Prozentpunkte. Oft reichen 400, 500 Befragte vollkommen aus, ganz egal übrigens, die groß die Gruppe ist, über die man etwas aussagt: In der zehnmal kleineren Schweiz braucht man keinen Befragten weniger als in Deutschland, im fünfzehn Mal größeren China keinen mehr. Das leuchtet zugegebenermaßen nicht ein, ist aber mathematisch leicht nachweisbar .
Übrigens: Die gleiche Logik, die dafür sorgt, dass man sich auf die Ergebnisse von sauber durchgeführten Repräsentativumfragen verlassen kann, ist auch der Grund dafür, dass man sich darauf verlassen kann, dass Sie, lieber Leser, nie den Jackpot im Lotto gewinnen werden. Sparen Sie sich das Geld für den Lottoschein.
Siehe auch: ?Prolog
und: Folge 1
Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allenbach