Thomas Petersen
Das Unverständige am „gesunden Menschenverstand“
Das Thema war so verlockend wie der Ort: „Was ist deutsch?“ lautete die Frage, die in der Evangelischen Akademie in Tutzing am Starnberger See zwei Tage lang diskutiert werden sollte. Für einen Sozialwissenschaftler ist es eine reizvolle Aufgabe, dieser Frage nachzugehen. Gibt es etwas, was die Deutschen von anderen Völkern unterscheidet, etwas, was für sie wirklich charakteristisch ist und was sich mit den Methoden der Sozialforschung nachweisen lässt? So sagte ich sofort zu, als ich gebeten wurde, auf der Tagung einen Vortrag zu diesem Thema zu halten.
Mein Vortrag fand am zweiten Tag statt, am ersten Tag sprach Wolfgang Schäuble, damals noch CDU-Vorsitzender. Er hielt eine beeindruckende und, wie ich fand, über weite Strecken sehr kluge Rede. Doch ganz am Anfang sagte er etwas Seltsames: „Da kommt dann morgen so ein Demoschkop - und die können da auch einiges definieren - doch man muss das Thema mal mit gesundem Menschenverstand betrachten.“
Sofort beschloss ich, mein Vortragsthema für den nächsten Tag zu ändern und den größten Teil meiner Redezeit der Frage zu widmen, warum ich als Sozialwissenschaftler kaum etwas mehr fürchte als den sogenannten gesunden Menschenverstand.
Nicht, dass gesunder Menschenverstand grundsätzlich etwas Falsches wäre. Im Gegenteil. Zwar wäre es im Bedarfsfall ziemlich schwierig, eindeutig zu definieren, was genau „gesunder Menschenverstand“ denn nun eigentlich ist, aber es wird wohl kaum jemand bestreiten, dass ein klarer und bodenständiger Verstand in vielen, wenn nicht den meisten Lebenslagen ein guter Ratgeber sein kann. Doch zur Erforschung gesellschaftlicher Zusammenhänge taugt er wenig.
Warum? Die Tagung in Tutzing bot ein lebendiges Beispiel dafür. Es stellte sich nämlich heraus, dass mein Beitrag aus Sicht der Teilnehmenden eigentlich überflüssig war, denn sie wussten alle schon vorher ganz genau, was typisch Deutsch sei. Die einen wussten ganz genau, dass typisch deutsch die Identifizierung mit der Region sei. Andere waren sich ebenso sicher, dass die nationale Identifikation wichtiger sei. Ein etwas vergeistigt wirkender Teilnehmer meldete sich leise zu Wort und verkündete, dass er sich als Weltbürger fühle, und nahm selbstverständlich an, dass es allen anderen Deutschen auch so gehen müsse. Seltsamerweise schienen alle zu glauben, dass am Ende derjenige Recht habe, der die eindrucksvollsten Argumente ins Feld führen kann. Der Gedanke, dass sich bei der Frage nach möglichen typisch deutschen Merkmalen nicht um eine Meinungsfrage sondern um eine Sachfrage handelt, die der Prüfung bedarf, kam nicht auf. Die Wortbeiträge wurden meist eingeleitet mit: „Ich denke mir mal…“ oder einem entsprechenden Satz, und alle schienen damit zufrieden zu sein.
Doch der Ansatz „Ich denke mir mal…“ reicht bei solchen Themen nicht aus. Ja, er ist überhaupt eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Erkenntnis. Der vielleicht entscheidende Durchbruch in der Geschichte der modernen Wissenschaften bestand darin, das es ab dem 15. Jahrhundert nach und nach gelang, eben diese Haltung zu überwinden und der Beobachtung mehr zu vertrauen als den eigenen Vorstellungen. Der Mensch, hat Konrad Lorenz einmal geschrieben, habe zuerst das Nachdenken und erst sehr viel später das Nachschauen gelernt. Und wenn man einmal begonnen hat nachzuschauen, stellt man verblüfft fest, dass vieles, was man für selbstverständlich hielt, tatsächlich gar nicht stimmt. Paul Valéry soll einmal gesagt haben: „Wenn wir überrascht sind, stehen wir der Wirklichkeit gegenüber.“
Das ist der eigentliche Zweck der Sozialforschung: Überraschungen zutage zu fördern, die einem die Wirklichkeit vor Augen führen. Wer aber glaubt, seine Annahmen nicht prüfen zu müssen, weil er allein schon deswegen davon überzeugt ist, dass sie wahr sind, weil „einem das schon der gesunde Menschenverstand sagt,“ der erlebt keine solchen Überraschungen, und also lernt er auch nichts. Und weil diese Haltung weit verbreitet ist, sind die öffentlichen Diskussionen voll von Behauptungen über die Gesellschaft - einige Beispiele werden in späteren Kapiteln vorgestellt werden -, die allseits als gesichertes Wissen gelten, obwohl ein „Demoschkop“ mit Leichtigkeit nachweisen kann, dass sie falsch sind.
Siehe auch:
Klopfzeichen aus der Welt der Sozialwissenschaften (Prolog)
Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allenbach