Gibt es denn noch etwas in einer G20-Nachlese zu sagen oder zu zitieren, was nicht schon laufend berichtet wurde? Die Bilder eines Mobs, der in einer Großstadt zeitweise ungestört Bürgerkrieg spielen darf, sind bekannt. Die der Kanzlerin, die beim Konzert in der Elbphilharmonie zeitgleich ganz entspannt ihre Augen schließt, ebenso. Wir haben gesehen, wie die Präsidenten Trump und Putin die Höflichkeiten vor den Kameras wie zwei Lausbuben austauschten und der türkische Machthaber Erdogan plötzlich auch nicht mehr uneingeschränkt beim Pariser Klimaabkommen mitspielen wollte.
Wir werden traktiert mit Politiker-Erklärungen, warum der G20-Gipfel nötig und auch erfolgreich gewesen sei, doch die Stimme der militanten G20-Gegner schafft es kaum bis an unser Ohr. Sicher, in Form von nonverbaler Gewaltkommunikation waren sie unüberhörbar. Aber den Genossen gelingt auch eine verbale Bilanz und die wollen wir nicht ignorieren, denn der Kampf auf den Hamburger Straßen war schließlich ein Erfolg:
Ziel des Protestes gegen den G20 war es, seine planmäßige Durchführung zu be- oder sogar zu verhindern, ihn empfindlich in seinem Ablauf zu stören oder wenigstens die Glitzershow mit ihren scheinheiligen „Familienfotos“ zu beschmutzen und den Teilnehmer*innen die ideologische Soße eines politisch substanziellen Kaffeeklatschs zu versalzen. Dieses Ziel haben wir erreicht.
So steht es in der Presseerklärung des Bündnisses „Welcome to Hell“, deshalb sind Zweifel an diesem Sieg über das Kapital auch unangebracht.
Eine Schneise der Verwüstung
Der Kapitalismus ist ein gesellschaftliches Herrschafts- und Gewaltverhältnis, das eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzieht: ökologisch, ökonomisch, gesellschaftlich. Eine Schneise der Verwüstung, die Menschen, besonders, aber nicht nur jenseits der Metropolen, allerorten die Lebensgrundlage entzieht. Der ausgerufene Siegeszug des Kapitalismus ist für viele Menschen nicht weniger als die Hölle auf Erden. Wenn wir unser Bündnis „Welcome to Hell“ genannt haben, dann meinten wir genau das: Den Herrschenden ihr G20-Treffen in Hamburg ansatzweise zu der Hölle zu machen, die sie zu verantworten haben und für die sie stehen.
Diejenigen, die die Hölle der zeitweiligen Lufthoheit randalierender, plündernder und brandschatzender Banden in ihrem Viertel erleiden mussten, sind zwar nicht „die Herrschenden“, aber so kleinkrämerisch darf man das im Kampf um die große Sache nicht sehen:
Aus unserer Sicht haben wir das von allen Spektren und Organisationen gemeinsam formulierte Ziel erreicht: Der Gipfel konnte am Freitag nicht ungestört und reibungslos ablaufen. Schon gar nicht, ohne dass die massive und vielschichtige Kritik daran und ihr praktischer Ausdruck in Aktionen auf der Straße die Berichterstattung über das Gipfelgeschehen nicht zeitweise sogar überlagert hätte. Die politische und polizeiliche Strategie, den Protest auf ein zahnloses, harmloses, als Demonstration der Meinungsvielfalt und -freiheit zu vereinnahmendes Maß zurück zu stutzen, ist ins Leere gelaufen.
Wir verstehen uns und unseren Protest als Teil eines vielfältigen Spektrums von linken Gruppen, Positionen, Organisationsansätzen und politischen Ausdrucksformen. Innerhalb dieses Spektrums stehen wir dafür, dass wir uns nicht auf den viel zitierten „friedlichen“ Protest reduzieren lassen wollen. Zielgerichtete Militanz ist für uns eine Option und ein Mittel, um über eine rein symbolische Protestform hinauszukommen und direkt und wirksam in Ereignisse, Prozesse und Entwicklungen verändernd einzugreifen. Zielgerichtet heißt zum einen, dass sie einen Zweck verfolgt, der mit den gewählten militanten Mitteln auch erreichbar ist. Zum anderen, dass Folgen und Risiken einschätz- und verantwortbar sind. Ein kleiner gemeinsamer Nenner ist in unserer Szene in der Regel auch immer wieder dort gefunden worden, wo es darum ging, die körperliche Unversehrtheit Dritter zu achten.
Wie beruhigend, dass es diesen „kleinen gemeinsamen Nenner“ gibt. Leider kann man sich nicht sicher sein, ob man im Ernstfall nun als „Dritter“ oder vielleicht doch als vogelfreier „Rechter“ behandelt wird.
Rückendeckung friedlicher Linker?
Aber es gibt auch in der linken Bilanz Momente der Einsicht:
Es lässt uns – bei allen Unterschieden in Nuancen der Wahrnehmung und Bewertung – natürlich nicht unberührt, wenn am gestrigen Abend in der Schanze eine Dynamik entstand, die von dort anwesenden oder wohnenden Menschen als Bedrohung wahrgenommen wurde und offenbar auch bedrohliche Situationen produziert hat.
Mit der Selbstkritik wollen es die Genossen allerdings nicht übertreiben. Es gilt schließlich, vor allem die Schuld des Klassenfeindes und seine Vorgehensweise zu entlarven:
Am Freitagabend war die Polizei offenbar tatsächlich von der Vehemenz der Auseinandersetzung überrascht und damit überfordert. Es drängte sich aber auch der Gedanke auf, dass die Gelegenheit für taktisches Agieren mehr als dankbar aufgegriffen wurde. Im martialischen Ausdruck des mit Maschinenpistolen bewaffneten SEK im Wohnviertel und inmitten teils angetrunkener Schaulustiger und in den verwendeten Bürgerkriegsmetaphern sehen wir auch Kalkül. Es könnte darum gehen, rückwirkend alle gelaufene Härte und Brutalität zu rechtfertigen und sich öffentlichkeitswirksam Rückendeckung zu holen für das, was von Politik und Sicherheitsapparat gegebenenfalls als repressive Antwort noch kommen wird.
Es könnte auch darum gehen, einen letzten präventiven Versuch der Spaltung der Bündnisse zu unternehmen und die spektrenübergreifenden Solidarität zu untergraben. Nach der großen und ausdrucksstarken Demonstration am heutigen Samstag, wagen wir jedoch weiterhin zu bezweifeln, dass das funktionieren wird.
"Rostock ist bullenfrei"
Die Militanten hoffen offenbar berechtigterweise, die Rückendeckung vieler friedlicher Linker und Revolutionsträumer auch nach den Hamburger Gewaltexzessen nicht zu verlieren. Es gibt also keinen Grund den zeitweisen Sieg über Polizei und Staat nicht zu feiern. Und die Hamburger G20-Revolution war nicht nur am eigentlich Ort erfolgreich. So konnten beispielsweise die Genossen im „bullenfreien“ Rostock dem Kapitalismus ebenfalls einen entscheidenden Schlag versetzen:
Während der sehr widerständischen Tage in Hamburg, forderten die Bullen händeringend Verstärkung aus anderen Bundesländern. Die bekamen sie auch. Aus Schleswig Holstein und Mecklenburg Vorpommern wurde alles abgezogen, was noch dienstfähig war. Kleinere und mittlere Reviere wurden teilweise geschlossen und große Reviere nur mit einer Notbesatzung sich selbst überlassen. Rostock war und ist quasi bullenfrei.
Wie man der Presse (http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/108746/3679630) entnehmen kann, wurde dies anscheinend von einigen Personen ausgenutzt. "Schwarz bekleidete und vermummt" wurden zahlreiche Schaufensterscheiben "namhafter Bekleidungsgeschäfte" mit Brecheisen eingeschlagen. Während in Hamburg mittels Quasi-Häuserkampf der SEK-Einheiten im Schanzenviertel moderne Aufstandsbekämpfung trainiert und ausgeübt wurde, präsentierte man in der Rostocker Shoppingmeile ein adäqutes Gegenkonzept.
Wir finden die Aktion stark! Gerade im Hinblick auf die massive Repression vor und während (und nach) des G20-Gipfels in Hamburg, ist eine widerständige Praxis die passende Antwort. Es sind auch klirrende Grüße an die Genoss_innen in den Knast- oder Gewahrsamszellen in Hamburg und anderswo. Ihr seid nicht allein!
"Verrate Deine Kollegen"
Siege über das Kapital allerorten. Nur die Genossen aus Dresden, also der gefühlten Hauptstadt Dunkeldeutschlands, haben wieder nicht mitbekommen, dass die Kämpfer im Norden siegreich gegen die Polizei gewesen sind und verfielen auf die gewohnte Opfer-Rhetorik:
deutsche polizist*innen haben zum g20-gipfel einmal mehr ihren blinden gehorsam und korpsgeist gezeigt. knüppel, faustschläge, tritte, reizstoffe, widerliche beleidigungen in die gesichter von jugendlichen, alten, umherstehenden, touristen, gipfelkritiker*innen und menschen jeglicher couleur. ihr habt uns blutig geschlagen, uns verletzt - nicht nur körperlich - obwohl wir friedlich waren, nicht im sogenannten "schwarzen block". ihr habt wie wilde unsere knochen traktiert und auf unserem vertrauen herumgetrampelt. eure schutzpanzer und unsere nackte haut. ihr habt uns eingesperrt, uns misshandelt. und all das für 20 einflussreiche menschen die ihr machtschauspiel abhielten. folgt ihr so blind euren vorgesetzten das ihr vergesst das wir auch menschen sind oder seid ihr einfach menschenfeinde?
für all das und viel mehr haben wir vor dem polizeirevier pieschen rote farbe im eingang hinterlassen. rot für das blut der opfer von staatlicher gewalt und für die flamme der revolution.
Vielleicht ist die Dresdener Stimmung nicht ganz dieselbe wie die der Genossen im Norden, aber dafür bieten die Sachsen den Polizisten, die sich von der „Flamme der Revolution“ entzündet fühlen, revolutionäre Hilfe in Lebensfragen an:
du bist im dienst und liest dies? dein vorgesetzter, deine prügelkollegen, deine überstunden, dein job kotzt dich an? zeig deine gesellschaftliche verantwortung und veröffentliche interna, reiche beschwerden ein, verrate deine kollegen, kündige deinen job und komm auf die straße!
Eines aber ist von all den zitierten Genossen wirklich ungerecht. Sie sind unglaublich undankbar. Gehört es sich nicht, wenigstens einmal all die Politikerinnen und Politiker zu würdigen, die den revolutionären Kämpfern seit Jahren den Zugang zu staatlichen Fördergeldern ermöglichen und erleichtern? Außerdem haben sie viel dafür getan, dass so mancher Landstrich inzwischen „bullenfrei“ ist. Also bedankt euch doch bitte einmal angemessen.
Der Beitrag erschien auch auf Peter Grimms Blog sichtplatz