Chaim Noll / 06.04.2015 / 09:22 / 5 / Seite ausdrucken

Kipa Tragen in Deutschland: Unerwartete Bekanntschaften

Von Chaim Noll

Keine dieser Begegnungen werde ich vergessen. Sie waren vollkommen überraschend. In Israel, in der Negev-Wüste lebe ich unter Muslimen, meine Nachbarn sind Beduinen (so heißen sie auf unserer Seite des „Zauns“) oder Palästinenser (so werden ihre Vettern auf der anderen Seite genannt), Begegnungen mit ihnen sind alltäglich. Doch erst hier, in einem anderen Land, gehen sie auf mich zu und sprechen aus, was sie zu Hause niemals sagen würden.

Ich reise seit zehn Jahren zweimal im Jahr nach Deutschland zu Lesungen und Vorträgen, und in all diesen Jahren trug ich die Kipa offen. Tue es immer noch. Obwohl jüdische Funktionäre die deutschen Juden vor einiger Zeit aufgefordert haben, ihre Kipot besser zu verbergen. Unter einer Baseball-Mütze oder anderen Kopfbedeckung. In Frankreich, so berichteten israelische Zeitungen, hätte ein findiger Kopf Kipot erfunden, die mit künstlichem Haar bedeckt sind, in Farbe und Struktur der natürlichen Haare des Trägers angepasst, weshalb sie sich übelwollender Wahrnehmung entziehen und trotzdem ihre traditionelle Funktion erfüllen.

Für mich keine Versuchung. Ich lebe nicht in Europa. Wenn die Kipa in Frankreich oder Deutschland kein geduldetes, allgemein respektiertes Accessoir mehr ist – nun, dann komme ich halt nicht mehr. Ich trage sie zu Hause in Israel, setze sie morgens auf wie meine Brille, jeden Tag, wie Hunderttausende Israelis, und wo ich sie nicht tragen darf, da ist nicht mehr mein Zuhause. Doch das ist nur ein Grund, warum ich der gut gemeinten Empfehlung der deutschen Gemeindefunktionäre nicht folge. Der andere Grund ist Neugier. Weil mir, wenn ich die Kipa versteckt tragen würde, unheimlich viel entginge. Was? Nur, wer die Kipa offen trägt, wird in dieses Geheimnis eingeweiht.

Das Geheimnis liegt in der Offenheit des Vorgangs. Sie schafft Vertrauen. Selbst bei Menschen, vor denen wir uns fürchten. Sie wird, obwohl sie zu tragen nur ein minhag ist, ein Brauch, ein Kleidungsstück, im heutigen Kontext wie ein Bekenntnis verstanden. Daher setzt sie auch bei anderen Bekenntnisse in Gang. Unverhoffte Bekenntnisse von Fremden. Sie können etwas Erschreckendes, Schockierendes bedeuten. Etwas, worauf man man nicht gefasst ist. Eigentlich geht man ihnen lieber aus dem Weg.

Die erste Annäherung überraschte mich in der Meinecke-Straße in Berlin, nahe Savignyplatz. Ein „arabisch aussehender Mann“ – so registrierten ihn meine mit Vorurteilen belasteten Sinne – näherte sich mir in eiligem Schritt, trat in meinen voraussehbaren Weg, worauf ich ohne nachzudenken, ebenso eilig, zur Seite auswich, fast sprang, und, meinen rollenden Koffer im Schlepptau, davon lief. Bis heute sehe ich sein enttäuschtes Gesicht. Es war nicht die Enttäuschung eines verhinderten Attentäters, sondern, wie mir schien, die eines Menschen, der mir etwas hatte sagen wollen.

Das nächste Mal näherte sich mir ein Mann in der S-Bahn zwischen Neukölln und Südkreuz. Hier waren die Fluchtmöglichkeiten von vornherein eingeschränkt. Auch dieser Mann sah aus, als käme er aus meiner Gegend, irgendwo aus dem Mittleren Osten. „Isch bin deine Nachbar!“, sagte er in erst kürzlich gelerntem Deutsch, breit lächelnd, mit einem Gesicht, strahlend vor Gesprächsbereitschaft.

„Von welcher Seite?“, fragte ich höflich und schob meinen Koffer zwischen uns, ein schweres Stück.
„Libanon.“
„Wunderbar. Wo?“
„Süden.“
Ich nickte betrübt.
„Christ“, fügte er hinzu, als sei damit alles erklärt.

Er war der erste seiner Fraktion. Der erste, von dem ich erfuhr, wie beliebt israelische Soldaten im Ausland sein können, zum Beispiel bei libanesischen Christen. „Eure Armee“, sagt er und nickte begeistert, hob sogar den Daumen, das weltweit bekannte Signal der Zustimmung, jedem Facebook-Nutzer vertraut. Zu weiterem Austausch kam es nicht, wir erreichten den Bahnhof Südkreuz, wo ich aussteigen musste. Auf der folgenden langen Bahnfahrt nach Süd- oder Westdeutschland dachte ich über das Erlebnis nach. Die Kipa, dachte ich. Ohne sie hätte ich nie aus erster Hand erfahren, dass es im Südlibanon Fans unserer Streitkräfte gibt.

Auch eine libanesische Sunnitin, angestellt in der Rezeption eines Hotels in Krefeld, behandelte ich wie ihren lange vermissten Bruder. Wieder verstand ich nicht, wie mir geschah: die betonte Freundlichkeit, spürbar trotz des langen Kopftuchs und der teilweisen Verhängung ihres Gesichts, der neugierige Blick, der mich traf, als sie auf dem Meldezettel las, woher ich kam. Ich erzählte dem Veranstalter davon. Er kannte die junge Frau vom Sehen, wusste, woher sie kam. „Sunniten“, sagte er. „Ihr schlimmster Feind ist die shiitische Hisbollah. Die hat den Iran hinter sich, gewinnt an Einfluss. Nun, und wer gibt der Hisbollah ab und zu eins drauf? Eure Armee.“

Vielleicht haben mich solche Erlebnisse in meinem Entschluss bestärkt, die Kipa in Deutschland offen zu tragen. Die Reaktionen von Muslimen auf diese Kopfbedeckung haben mein Bild von der Situation im Nahen Osten verändert. Ich erfahre von Rissen und Brüchen, von inner-islamischem Hass. Von verstohlener Solidarität mit Israel, die nach außen verborgen werden muss, weil gute Muslime Juden verachten sollen. So steht es in ihrem Heiligen Buch, so lernen sie in der Koran-Schule. Doch das Leben ist anders. Im realen Leben     kann ein anderer Muslim Tod und Verderben sein und ein Jude die Rettung.

Es gibt unbehagliche Augenblicke, manchmal trifft mich ein Blick voller Hass und Verachtung. Doch die interessanten Momente überwiegen. Die unerwartet, aus dem Nichts heraus entstehenden Gespräche. Ich will hier nicht von der Wirkung meiner Kipa auf Deutsche berichten. Wie oft mir geholfen wird, an Automaten, deren Funktion ich nicht verstehe, auf undurchschaubaren Bahnhöfen, im Gewirr fremder Städte. Dafür nur ein Beispiel, wieder aus der Berliner S-Bahn. Ich ging mit Koffer und Tüten hinauf zum Bahnsteig und vergaß,      meinen Fahrschein in den Automaten zu stecken, der ihn abstempelt. Das „Entwerten“ auf dem Bahnsteig ist eine Idee deutscher Verkehrsbetriebe (überall sonst genügt der Fahrschein als solcher), man vergisst es, wenn man lange nicht hier war. Kaum fuhr die Bahn, erhoben sich zwei Männer in Zivil, riefen „Fahrkartenkontrolle“, gingen durch den Wagen und entdeckten, als sie mich kontrollierten, dass mein Fahrschein nicht gestempelt war. Was als Betrugsversuch gilt, weil man den Fahrschein dann nochmals benutzen kann. Sofort setzten sich mehrere Fahrgäste für mich ein. Eine junge Frau sagte entschieden: „Das kann er doch nicht wissen.“ Der Kontrolleur gab mir wortlos den Schein zurück und ging weiter. „Erstaunlich, dass er keinen Ärger gemacht hat“, sagte ein Mann neben mir. „Habe ich noch nie erlebt. Sonst gibt es Riesentrubel wegen so was.“

Dieses Entgegenkommen gilt mir als „Fremdem“, ein allgemeines Willkommen, besser gesagt: dessen öffentliches Demonstrieren. Das heutige Deutschland bemüht sich um eine Art offizielle Fremdenfreundlichkeit. „Willkommenskultur“ ist der Terminus für diese manchmal etwas künstlich wirkende Aufgeschlossenheit, die inzwischen zum guten Ton gehört. Die Kipa als Zeichen meines Fremdseins, meines Status als ausländischer Reisender, der mit einem verzwickten Detail deutscher Ordnung nicht zurechtkommt – ein Auslöser für Hilfe, guten Rat und demonstratives Willkommen, Verhaltensweisen, die zum Selbstgefühl der Mehrheit der heutigen Deutschen gehören.

Das heutige deutsche Selbstgefühl eines aufgeschlossenen Landes teilen auch viele in Deutschland lebende Muslime. Sie betrachten sich selbst als positive Größe in der entstehenden deutschen Multi-Ethnie. Es ist kein Geheimnis, dass der Anteil von „Fremden“ in Deutschland zunehmen wird, zunehmen muss – anders ist die laufende Wirtschaftsmaschinerie nicht in Gang zu halten. Manche muslimische Familie lebt seit Jahrzehnten hier, betrachtet sich inzwischen als zu Deutschland gehörig, als mitverantwortlich für eine positive Außenwahrnehmung. Ein türkischer Taxifahrer in Aachen hielt mir einen Kurzvortrag über die wachsende jüdische Gemeinde der Stadt, über die guten Bedingungen für Juden und Einwanderer allgemein. „Man lebt hier gut zusammen“, behauptete er. „Ganz gleich, ob Jude, Christ oder Muslim.“ Ich war nur kurz in Aachen, einen Abend, eine Nacht, einen Vormittag, zu kurz, um die Wahrheit seiner Aussage auf die Probe zu stellen. Doch allein, dass sie getroffen wurde, von einem Muslim in Deutschland, schien mir ein ermutigendes Zeichen.

Ein anderer türkischer Taxi-Fahrer rühmte sich vor mir der türkischen Verdienste um das Überleben des jüdischen Volkes. Als er mich durch Wiesbaden fuhr, erinnerte er mich daran, dass Sultan Bajezid der Zweite gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden in seinem Reich aufgenommen hatte und dass es seither große und einflussreiche jüdische Gemeinden in den türkischen Städten gibt. „Die Juden bei uns sind reiche Familien“, erklärte er mit einem Unterton von Respekt. Ihre gehobene soziale Stellung – noch ein Detail, das ich nicht nachprüfen kann – rechnete er seiner türkischen Heimat zugute. Sein Bild von deren traditioneller Judenfreundlichkeit war etwas geschönt, seine Geschichte von der Toleranz der Sultane und der Gastlichkeit der türkischen Muslime etwas zu harmonisch, es gab durchaus dunkle Zeiten in den Jahrhunderten jüdischer Anwesenheit in diesem Land, Verfolgungen, Enteignungen, antisemitische Dekrete, doch ich ersparte uns an diesem Morgen eine Diskussion darüber – mich interessierte mehr, was er zu sagen hatte. Und der Umstand, dass er das Positive in den türkisch-jüdischen Beziehungen betonte, sprach für sich. Er war bereits so weit von der neudeutschen Idee einer „Willkommenskultur“ erfasst, dass er sie für einen Bonus hielt und auch seiner alten Heimat zuschreiben wollte.

Die Türken fühlen sich unter den Millionen Migranten, die heute in Deutschland leben, als die Alteingesessenen. Als Gastgeber. Auf einer Reise notiere ich in mein Tagebuch: „Freundlicher türkischer Taxifahrer. Alltägliches Gespräch, dabei Gefühl der Solidarität – als Fremder in Deutschland. Rein emotional, nichts Politisches. Es ist, als grüße ihn durch mich das Mittelmeer. Und umgekehrt. Er will sich kaum von mir trennen, dreimal Auf Wiedersehen, gute Wünsche…“

Doch es gibt auch andere Augenblicke: „S-Bahn nach Grünau. Unterwegs Zeichen Erschöpfung, fühle mich Schöneweide beunruhigt von den Blicken eines jungen Arabers oder Türken, mir scheint, dass er mich aggressiv anstarrt, wechsle den Wagen.“ Kritisch waren die Tage Ende Mai 2010 nach dem Zwischenfall mit dem türkischen Gaza-Hilfsschiff. „Im Zug zum Flughafen, wie schon mehrmals heute, Türken beim Lesen türkischer Zeitungen mit Schlagzeilen wie Israil korsan! (was ich, obwohl ich nicht türkisch kann, ungefähr verstehe), ab und zu trifft mich ein Blick über den Zeitungsrand.“ Ein älterer Türke forderte mich in einem Regionalzug im Ruhrgebiet ungewohnt grob auf, meinen Koffer beiseite zu schieben, damit er sich hinsetzen könne, dann setzte er sich mir gegenüber und starrte mir zwanzig Minuten lang mit unverhohlener Wut ins Gesicht.

Im Herbst des Jahres hatte sich die Wut etwas gelegt. Beim zweiten Besuch eines türkischen Obststandes auf dem Bahnhof Alexanderplatz begrüßt mich der junge Verkäufer mit einem schallenden Shalom. Wozu er grinst. Er will wissen, wo ich so gut Deutsch gelernt hätte. Ich erkläre ihm, dass ich in Berlin geboren, aber nach Israel ausgewandert sei. „Israel ist ein gutes Land“, sagt er entschieden. Er sei gar kein Türke, fügt er hinzu, sondern Kurde. Seine ganze Familie lebe hier. Schon lange.

„Gefällt es dir in Berlin?“ frage ich.
„Ja, gefällt mir. Nur Heimweh manchmal.“
„Verstehe ich gut.“
„Aber nun bin ich hier. Familie, Frau, Kinder…“

Ein paar Worte über die Veränderungen in seiner kurdischen Heimat, er strahlt, als ich meine Hoffnung ausspreche, mit seinem Land ginge es aufwärts: von Sadam befreit, unabhängig, viel Erdöl. Er freut sich darüber, hat aber auch Befürchtungen: „Wo Öl ist“, sagt er, „ist selten Frieden.“

Im Intercity-Express, mir gegenüber, an einem Tisch im Großraumwagen, ein Fremder, der kaum Deutsch spricht, nur schwer verständliches Englisch; als der Schaffner kommt, helfe ich mit ein paar Worten. Der Mann spricht mich an: Woher ich käme. Ich sagte es ihm. Ob ich Jude sei, will er wissen, oder Araber? Die Art, wie er fragt, lässt ahnen, dass er von Arabern nicht viel hält. Nun will auch ich wissen, woher er kommt. Er ist Ingenieur, aus Aserbaidschan. Geschäftlich hier. Zwischen Aserbaidschan und Israel, erfahre ich, herrschen beste Beziehungen, Israel ist Weltspitze im Hightech, ein intelligentes Volk. Ob ich wirklich Jude sei? Manchmal tragen auch Araber solche Mützen… Ich biete an, ein hebräisches Gebet aufzusagen, damit er mir glaubt. Er lacht. Sagt: „No, it’s okay.“ Gewiss, er ist Muslim, wahrscheinlich shiitischer Richtung wie die meisten Aserbaidschaner. Doch seit Jahrhunderten gibt es innerhalb der „islamischen Gemeinschaft“ eine Verachtung gegenüber Arabern durch jene, die von ihnen unterworfen und zum Islam bekehrt wurden, Rezidiv des Jahrhunderte alten Schmerzes einst freier Völker, eingewurzelte Ablehnung, auf Arabisch genannt Shuubija. Der Sprachwissenschaftler Ignaz Goldziher belegt die nie beruhigten ethnischen Spannungen zwischen den durch das Schwert vereinigten Völkern, den ewigen Hass der zwangsweise Islamisierten, mit Idiomen und Spruchweisheiten in seinen „Mohammedanischen Studien“, einem Standardwerk des späten neunzehnten Jahrhunderts. Der aserbaidschanische Ingenieur ist der erste Muslim, den ich treffe, der seine Araber-Verachtung offen bekennt. Es mag am Ort liegen: ein deutscher Intercity, irgendwo zwischen Kassel und Fulda.

Zu den größten Freunden Israels unter Muslimen gehören Iraner, die im Exil leben. Wo immer ich ihnen begegne, geben sie mir Zeichen ihrer Sympathie. Ein Taxi-Fahrer in Münster, Westfalen, nachdem er gefragt und erfahren hat, woher ich komme, drückt mir stumm die Hand. Auf einem wissenschaftlichen Kongress werde ich von mehreren Exil-Iranern nacheinander zum Kaffee eingeladen, jedes Mal gestehen mir die Gesprächspartner unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihre Hochachtung vor meinem Land, jedes Mal äußern sie ihren Wunsch, Israel zu besuchen, den sie sich – auch wenn sie inzwischen die Pässe freier Staaten besitzen – aus Angst vor den allgegenwärtigen Geheimdiensten des iranischen Regimes nicht zu erfüllen wagen. Auch in Afrika scheint Israel zunehmend Sympathien zu genießen. Die vielleicht extremste Reaktion auf meine Kipa, die ich bisher erlebte, war die Weigerung eines nigerianischen Taxifahrers in Hamburg, von mir Geld für die Fahrt vom Hauptbahnhof zum Hotel Vier Jahreszeiten anzunehmen: Es sei ihm eine Ehre, einen Israeli einzuladen.
Auf einem großen Umsteigebahnhof im Westen Deutschlands sprach mich im vergangenen Jahr ein junger Libanese an, in gutem Deutsch, er lebt seit seiner Kindheit in einer Stadt in Niedersachsen. Es kam zu folgendem Gespräch, das ich anschließend im Zug notierte:

Mein neuer Bekannter zog, ohne ein Wort zu sagen, einen Gegenstand aus der Halsöffnung des T-Shirts, ließ ihn auf dem weißen Stoff baumeln, bis ich gesehen hatte, was es war: ein Kreuz. Ziemlich groß. Ein Kreuz dieser Größe trägt in Europa allenfalls ein Bischof. Nur dass seins schwarz war wie Ebenholz. An einer goldenen Kette. Er ließ es wieder verschwinden.
„Meine Familie lebt im Süden“, sagte er, den Blick auf sein Telefon gerichtet. „Nahe eurer Grenze. Einige meiner Leute waren in der Zadal, der Zeva darom levanon.“
„Ist ihnen was passiert?“ fragte ich.

„Du meinst, nach dem Abzug eurer Truppen?“
Ich sah ihn an. Fand auch wirklich die Spur Herablassung in seinem Gesicht, die ich erwartet hatte. Er erwiderte meinen Blick, grinste. Als wollte er sagen: Kein Ruhmesblatt, euer Abzug damals. Aber was soll’s. Nobody is perfect.
„Meinen Onkel haben die Schweine von der Hisbollah erschossen“, sagte er, ohne den Blick von meinem Gesicht zu nehmen. „Sofort. Sie gingen von Haus zu Haus.“
Wir waren allein zwischen den gläsernen Wänden. Es war kalt, aber nicht so kalt wie auf dem zugigen Bahnsteig. Draußen ging jemand vorbei, in einem wattierten Anorak.
„Einem anderen Onkel“, sagte er, „hat ein Hamas-Mann die Waffe ins Auge geschlagen, die Kalaschnikow. Mein Onkel trug eine Brille, das Glas ist zersprungen, die Splitter haben sich in seine Augen gebohrt. Seitdem ist er ist blind.“
„Schrecklich“, sagte ich. Es klang vollkommen sinnlos.
„Meine Familie war immer auf eurer Seite. Unser Dorf ist geteilt: Mitten durch geht eine Straße, auf einer Seite wohnen nur Christen, auf der anderen die Leute von Hisbollah. Jeder kennt jeden. Jeder weiß, was der andere ist. Viele christliche Familien sind inzwischen weg.“
„Deine auch?“
„Die Eltern sind geblieben. Sie wollten nach Israel gehen, aber Hisbollah lässt sie nicht raus. Wir Kinder sind alle noch rechtzeitig weg, nur eine Schwester hat zu Hause geheiratet, weiter im Norden. Die Eltern sind jetzt ganz allein. Müssen sich viel gefallen lassen.“
„Das ist bitter für alte Leute“, sagte ich.
„Sie sind dran gewöhnt.“
„Ich meine: Wenn alle Kinder weg sind…“
„Ich fliege einmal im Jahr zu ihnen.“
„Keine Angst?“
„Und wenn? Ich muss sie trotzdem besuchen.“
Ich nickte stumm. Er stand neben mir, den Blick auf die gläserne Tür gerichtet. Näherte sich draußen hinter dem matten Glas ein Schatten, hob er kurz den Kopf, fasste den Schatten ins Auge.
„Wenn mich Hisbollah-Leute mit dir sehen…“ sagte er. „Hier leben genug von ihnen. Wenn mich einer mit dir sieht, du trägst die Kipa, er weiß sofort, wer du bist…“
„Was ist dann?“ fragte ich.
„Dann sperren sie mich ein, wenn ich das nächste Mal zu den Eltern komme. Ins Gefängnis. Oder sie schlagen mich tot. Wenn ich mit dir rede, bin ich schon ein Kollaborateur.“
„Ich kann eine Mütze aufsetzen“, bot ich an. Und begann in der Tasche nach ihr zu suchen. „Ich habe eine Mütze dabei, falls Sturm kommt, damit mir die Kipa nicht weg fliegt…“
„Nur deshalb?“
„Oder wenn mich ein Typ aus dem Libanon anspricht, der nicht mit einem Juden gesehen werden will.“
„Mach keine Witze. Ich meine, sonst kommt es nicht vor, dass du die Kipa verstecken musst?“
„Ich fliege jedes Jahr zweimal nach Deutschland. Und ich habe mir geschworen: Ich mache das solange, wie ich offen die Kipa tragen kann. Ich trage sie zu Hause, warum soll ich sie dann nicht hier tragen?“
„Und?“
„Ich finde die Mütze nicht, tut mir leid…“
„Ist egal.“
„Muss im Koffer sein. Oder ich habe sie zu Hause vergessen. Nein, bisher ist nichts passiert. Ich passe ein bisschen auf. B esrat ha shem. Nur eine Menge unerwartete Bekanntschaften.“


Chaim Noll  ist ein deutsch-israelischer Schriftsteller. Dieser Text erschien auch in der Jüdischen Rundschau

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Leserpost

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Clemens Hofbauer / 08.04.2015

“Vegane” Kipas, die ausschauen wie Haarteile ... selten so gelacht. Das kann einem nur in Deutschland einfallen.

Peter Luetgendorf / 07.04.2015

Sehr geehrter Herr Noll, lassen Sie sich bitte nicht von diesem Land täuschen. Unter den Einheimischen gibt es ca. 25 % hartleibige erklärte Antisemiten. Und dann gibt es noch die Israelkritiker. Weitaus mehr. Camouflierte Antisemiten. Und dann gibt es noch die muslimischen Einwanderer. Ich habe viele Kontakte und was mich immer wieder vollkommen umhaut: Es gibt bei beiläufigen oder auch weiterführenden Gesprächen immer einen Moment, der mich zusammenzucken läßt. Eine grundlegende Ablehnung sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber den sog. Juden. Es kann natürlich sein, daß ich die falschen Leute kenne. Gruß Peter Lütgendorf

Reiner Schöne / 07.04.2015

Sehr guter Kommentar. Deutschland im Querschnitt und im Mittelfeld. Menschen die Deutschland bereisen, sollten öffters Ihre Eindrücke beschreiben. Ich wünsche Herrn Noll weiterhin sehr viele Reisen nach Deutschland und hoffendlich noch mehr gute Eindrücke von Deutschland.

Matthias Mohr / 06.04.2015

Ein schöner, ermutigender Text. Ich hoffe sehr, dass die christlichen Kirchen sich etwas mehr um ihre Glaubensbrüder und -schwestern in Not sorgen, und dies auch kundtun, anstatt die Gefahren des islamischen Extremismus zu verharmlosen. Das Wegschauen, Ausweichen und Schweigen in Angelegenheiten der Verfolgung und Ermordung durch muslimische Extremisten ist eine Schande. Zudem wird mit etwas mehr Anstand und stärkerem Eintreten für die Verfolgten sichtbar, dass es im Islam viele Menschen gibt, die diese Greueltaten verabscheuen. Nachrichten aus Israel, der einzigen Demokratie inmitten eines Ozeans der Unfreiheit und Unterdrückung machen Hoffnung.

Thomas Bonin / 06.04.2015

(K)eine “Unheimliche Begegnung der dritten Art” - absolut lesenswert!

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