Gastautor / 12.08.2016 / 06:20 / Foto: Peter Koard /Bundesarchiv / 10 / Seite ausdrucken

Keinen direkten körperlichen Kontakt bitte, nicht mal per Hand

Von Meir Seidler.

Wenn man die deutsche Presse liest, hat man den Eindruck dass die Deutschen aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herauskommen. Die Willkommenskultur hat sie vor Herausforderungen gestellt, denen sie mehrheitlich nicht gewachsen sind. Man ist einfach überfordert. Der Shitstorm, der sich seit Monaten in der Handschütteldebatte austobt, ist ein gutes Beispiel dafür.

Das Handschütteln oder Handgeben ist tatsächlich in fast allen Kulturen gang und gäbe. Seine Universalität beruht vielleicht auf einer ursprünglichen kulturübergreifenden Friedensgeste. Man reicht seinem Gegenüber die rechte, im Kriegsfall waffentragende Hand, um ihm so zu bedeuten: fühl mal, ich komme ohne Waffen, in friedlicher Gesinnung. Natürlich ist das nur symbolisch gemeint, zumal man ja, wie die Bibel zu erzählen weiss, die Waffe auch woanders verstecken kann, insbesondere wenn man Linkshänder ist. Im dritten Kapitel des Buches der Richter wird die Geschichte von Ehud erzählt, der den Moabiterkönig Eglon auf diese Weise austrickste. Aber wie gesagt, die Geste ist eine symbolische Freundschaftsgeste und wird wohl auch so verstanden. Soweit zum möglichen/mutmaßlichen Ursprung des Händeschüttelns.

Nun gibt es da aber noch einen ganz anderen, zwischengeschlechtlichen Aspekt, der von dem oben Gesagten ganz unabhängig ist, bzw. zu ihm im Widerspruch stehen kann. In manchen Kulturen wird darauf geachtet, dass Frauen und Männer, die miteinander nicht verheiratet sind, auch nichts miteinander haben dürfen. So ist es zum Beispiel im orthodoxen Judentum, und so war es wohl anno dazumal auch im christlichen Abendland, bevor man sich dort auf die Vorzüge des freien Auslebens der Sexualität verlegt hat.

Man wird ja noch keusch sein dürfen!

Sexuelle Abstinenz vor der Heirat ist seither eine in westlichen Augen arg archaische Wertvorstellung, bei der, so hat man den Eindruck, ein auf sexuelle Freizügigkeit fixierter Europäer geradezu Gänsehaut kriegt. Dem orthodoxen Juden hingegen ist genau diese sexuelle Freizügigkeit ein Graus. Das kann man gut finden oder auch nicht, verordnen sollte man sexuelle Freizügigkeit allerdings nicht. Man wird ja noch keusch sein dürfen (um mal ein mittlerweile wohl ausrangiertes Wort zu benutzen). Andere Kulturen, andere Sitten.

Was hat das alles nun mit Händeschütteln zu tun? Eigentlich gar nichts, wäre da nicht Sigmund Freud, der uns lehrt, dass der Mensch dauernd von seiner Sexualität umhergetrieben wird. Das Judentum scheint da ganz auf der Freudschen Linie zu liegen. Es geht davon aus, dass zwischengeschlechtliche Umarmungen, Schubser, Hand- oder Wangenküsse u.s.w. eben nie ganz von diesem Aspekt frei sind. Sicherheitshalber verfügt man deshalb, dass Mann/Frau gegenseitig, wenn unverheiratet, überhaupt keinen direkten körperlichen Kontakt haben, nicht einmal per Hand.

Hütet Eure Augen!

Jüdische Männer werden sogar, extrem freudianisch, dazu angehalten, ihre "Augen zu hüten". Inwiefern das klappt ist eine andere Frage, aber es wird auf jeden Fall angeraten. Das kann einem übertrieben erscheinen oder nicht, sinnvoll oder weniger sinnvoll (vielleicht sogar kontraproduktiv nach dem Motto: einer der nicht hingucken darf, guckt erst recht hin) – das Augenhüten ist jedenfalls das jüdisch-orthodoxe Ideal. Mit Frauenverachtung hat das nichts zu tun, das kommt aus einer anderen Ecke.

Dass auch das im orthodoxen Judentum praktizierte Nicht-Handgeben nichts mit Frauenverachtung zu tun hat, sondern etwas mit der oben beschriebenen, nennen wir es mal, restriktiven Sexualmoral, lässt sich einfach beweisen: Es geht ja nicht nur von Männern aus, vielmehr reicht auch eine Frau einem Mann nicht die Hand. Da es im Islam genauso zu sein scheint (moslemische Schülerinnen gegenüber ihrem deutschen Lehrer), ist damit erwiesen, dass auch dort der Ursprung des Nicht-Handreichens eben in dieser restriktiven Sexualmoral liegt und nicht in Frauenverachtung. An letzterer mangelt es dort vielleicht auch nicht, aber da sollte man eben woanders suchen, statt sich an der falschen Stelle festzubeißen.

Der langen Rede kurzer Sinn: man sollte sich die Lächerlichkeit einer "Sie-geben-uns-jetzt-mal-schön-die-Hand"-Ideologie ersparen. Trotz der kulturellen Verunsicherung, die eine Akzeptanz des Nicht-Handgebens mit sich bringt, sollte man Moslems, orthodoxen Juden und sonstigen Sonderlingen (Leuten mit anders motivierten Berührungsängsten) erlauben, es damit zu halten, wie sie lustig sind.

Dr. Meir Seidler, 58, ist Dozent für jüdische Philosophie im Department of Jewish Heritage an der Ariel University in Israel. Er wurde im Nach-68er-Westdeutschland sozialisiert, ein Trauma, von dem er sich noch immer nicht erholt hat. Wenn er rückfällig wird, surft er ab und an auf deutschen Internetseiten.

Foto: Peter Koard /Bundesarchiv CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia

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Leserpost

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P. Bernhard MÜLLER / 13.08.2016

Vielleicht sollte man sich auf die alt - chinesische Variante verlegen und sich bei der Begrüßung selber die Hände schütteln.

Roland Wolff / 13.08.2016

Um das Spektrum zu erweitern - in Japan gibt man sich traditionell nicht die Hand, sondern verbeugt sich kurz. Allerdings habe ich selbst erfahren, dass man bei “Westlern” sehr gerne eine Ausnahme macht, ich habe dort schon fleissig Hände geschüttelt. Woher diese Abneigung gegen einen Händeduck kommt, weiß ich nicht, wäre aber dahingehend gerne schlauer.

Daniel Aue / 13.08.2016

Orthodoxen Muslimen, die Frauen aus Prinzip nicht die Hand reichen, werde ich aus Prinzip nicht mehr die Hand reichen.

Nicolas Linkert / 12.08.2016

Es ist mir relativ egal, wie das in Israel, dem Nahen Osten per se oder Teilen New Yorks gehandhabt wird. Dies hier ist Europa und hier gelten andere Wert- und Moralvorstellungen. Wer sich nicht daran hält, der isoliert sich bestenfalls - schlimmstenfalls riskiert er sogar Gefängnis, wenn er z.B. einem Richter/einer Richterin keinen Respekt erweist. Religion ist deshalb auch Privatsache und hat für mich nichts im öffentlichen Raum zu suchen, schon gar nichts in staatlichen Institutionen. Im letzteren Fall sollte Europa sich ein Beispiel an der sekularen Türkei unter Atatürk nehmen, die Staat und Religion rigoros trennte. Gut so!

Goetz v. B. / 12.08.2016

Obwohl auch dieser Kommentar wieder nicht veröffentlicht wird wegen abweichender Meinung kann ich diese trotzdem nicht für mich behalten. Zuerst einmal: der Händedruck wird bereits in der Bibel beschrieben bzw. findet sich als Darstellung auf antiken Münzen, ist also nichts Neues in Europa. Etwas daneben finde ich die Anspielung, dass erst durch das Ausleben der sexuellen Triebe, wohl seit 1968?, der Händedruck zwischen Mann und Frau in diesem Lande Usus ist. Vielmehr ist es spätestens seit dem 17. Jahrhundert verbürgt. Der Händedruck diente dabei nicht nur der Besieglung von Geschäften, sondern ist bis in die heutige Zeit eine Art Respekterweisung. So wie man sich z.B. in Japan voreinander verbeugt. Bei den Juden sind es ausschließlich Teile (!) der orthodoxen Gläubigen die dem anderen Geschlecht die Hand nicht reichen; alle anderen Juden geben sich die Hand wie wir auch. Der “Shirtstorm”, eine vom Autor also von vornherein negativ bewertete Kritik, entzündete sich wohl kaum daran, dass man sich nicht die Hand zum Gruße reicht. Denn fadenscheinige Begründungen dafür finden sich viele, von SPON bis ... : weil es ja so unhygienisch ist, weil der Schutzsuchende der Frau keinen Körperkontakt aufdrängen möchte, weil es Frauen in D grundsätzlich unangenehm finden, Männern die Hand zu geben etc.. Wenn man sich die Mühe macht und liest, dass Frauen unrein sind und man Ihnen deswegen nicht die Hand gibt und dass man von diesen unreinen Frauen auch kein Essen annimmt, was ja nun sehr häufig berichtet wurde, oder dass man z.B. mit weiblichen Maklerinnen nicht zusammenarbeitet, z.B. bei der AOK Bayern weibliche Angestellte beim Beratungsgespräch abgelehnt werden - dann freilich müsste man das Verweigern unseres Händedrucks neu bewerten. Aber selbst wenn der Autor recht hätte: Migranten geben aus “kulturellen Gründen” Frauen keine Hand zum Gruß, unsere Frauen wünschen diese aber, weil das in ihrer Kultur so ist. Wessen “Kulturgut” hätte dann Vorrang? Das des Gastes oder das des Gastgebers? Zugegeben; dies wiederum wäre eine Frage für einen Philosophen. Warum die Migranten unreinen Frauen die Hand nicht geben ist dagegen so ausreichend beschrieben worden, dass man darüber m.E. kaum philosophieren kann.

Paul Franke / 12.08.2016

Das Berührungsverbot (Hände nicht geben), die Verschleierung der Frauen (Muslime) und auch das “Augen hüten” (orthodoxe Juden) hat nichts mit Frauenverachtung zu tun. Nein, wirklich nicht, es ist im Grunde genommen ein Ausdruck von Männerverachtung! Denn es bedeutet nichts anderes, als das der Mann (die Männer) durch den Anblick von Frauen oder ihre Berührung von einer nicht mehr zu bremsenden Geilheit gepackt werden (s.a. Kölner Domplatte, Sylvester). Das ist doch ein trauriges Männerbild, oder? Davor sollen die Frauen durch Verschleierung und Berührungsverbot bewahrt werden!

H.-J. Elmlinger / 12.08.2016

Ich bin geneigt Ihren Ausführungen des religiös / sozialen („Zwang“-) Verhaltens mit Verständnis zu folgen, jedoch .  .  .  .  .  .  .  ist das eigentliche Durchschnittsproblem der benannten Ethnien die mangelnde Impulskontrolle und geringe Frustrationstoleranz, insbesondere was mit Sexualität und Identität an sich zu tun hat. Mit diesem so offensichtlichen Manko können sie gerne leben, aber bitte nur in ihren Heimatländern. Aber nicht bei uns. Warum?  Weil ich mir mein / unser soziales Gefüge mit anderer Leute Privatproblemen nicht beschädigen lasse. Religion und Weltanschauung sind nämlich Privatsache, damit belästigt man seine soziale Umwelt nicht. Auch keimt unmittelbar die Frage auf, warum in aller Welt soll dieses (für uns) verkrampfte Sozialverhalten in meinem Heimatland zu einer (neuen) Gesellschaftsnorm erhoben werden?! Ist es nicht eine Anmaßung derer, unserem Kulturkreis ihren ganz besonderen Habitus aufdrücken zu wollen? Warum sollte ich dem zustimmen? Und nein, ich brauche mich nicht dafür zu entschuldigen, dass ich das nicht will. Ich lasse mir ja auch nicht vorschreiben besondere Sachen zu essen oder zu trinken oder dass „man“ Bungee Jumping machen muss etc.,  w e n n ich das nicht will. Auch bleibt es zweifelsfrei meine Entscheidung, welchem Mitmenschen ich gegenüber neutral, positiv oder negativ eingestellt bin. Komisch, gerade politische Amtsträger die meinen diesbezüglich eine Deutungshoheit zu haben, können andere politische Wettbewerber nicht mal tolerieren, geschweige dessen akzeptieren. Mit Ihrer abschließenden Forderung: „Man sollte .  .  .  .  .  . Moslems, orthodoxen Juden und sonstigen Sonderlingen erlauben, es damit zu halten, wie sie lustig sind“.  Damit kann ich leben, ja. Aber dann müssen diese Menschen auch akzeptieren, ablehnende Reaktionen zu bekommen. Niemand kommt zufällig in unser Heimatland. Man sich heutzutage auch nicht herausreden wollen, die grundlegenden Verhaltensregeln hier nicht zu kennen und einhalten zu können. Wieso kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen, mich in d e r e n Heimatländer mit u n s e r e n europäischen Sozial- und Wertemaßstäben niederzulassen, warum nur? Weil i c h   nicht den Prolo mache, mich an das, was ich an Kultur vorfinde, anpassen will. Möchte ein Teil der von mir ausgewählten Gesellschaft sein = integriert sein. Was ist also der logische Schluss über die vorsätzliche Nicht-Anpassungswilligkeit dieser Menschen hier bei uns?  W i r haben das schon als Kinder gelernt, als wir z. B. in Italien Urlaub machten, Stichwort Verhalten beim Kirchenbesuch u. a.. Im Übrigen lässt sich die ganze Argumentation 1:1 auch auf besondere (zwanghafte) Kleiderregeln adaptieren.

Markus Hahn / 12.08.2016

Nun mögen die Ausführungen von Herrn Seidler über das körperliche Distanzbedürfnis in der jüdischen Kultur, wonach dies nicht Ausdruck einer spezifischen Frauenverachtung sei, durchaus zutreffend sein. Aber die Weigerung in der muslimischen Kultur, einer Frau die Hand zu geben, ist durchaus und selbsterklärter Maßen Ausruck einer Frauenverachtung, einer dezidierten Einschätzung der Frau als minderwertig. Wieviel Unhöflichkeit muss eine Gastgesellschaft ertragen? Wie sensibel darf man sein, in scheinbar schrullig banalen Gesten die politische Statements zu erkennen?

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