Frau Zissler spricht von “scheinbaren Argumenten”, begeht aber selbst zwei gravierende Denkfehler: a) Die Erteilung von Visafreiheit ist eine Vergünstigung - der Normalzustand ist die Notwendigkeit von Visa bei der Einreise. Insofern ist also der Übergang von Visapflicht zu Visafreiheit eine “Belohnung”, die Beibehaltung des Ist-Zustandes also keine “Bestrafung”. Sie kehrt im Dienste des gewünschten Effektes (erinnernd an Schopenhauers eristische Dialektik) die Begriffe um. Geschieht dies bewußt, könnte man das Agitprop nennen. Verallgemeinert man das Argument, müßte Bürgern von Staaten ohne Meinungsfreiheit generell Visafreiheit gewährt werden, um eine “Doppelbestrafung” zu vermeiden. Eine groteske Argumentation. b) Die Visafreiheit wird mitnichten dem einzelnen Bürger erteilt: sonst müßte die Erteilung ja von den Eigenschaften des Bürgers abhängig gemacht werden, d.h. eine Individual-Prüfung vorgenommen werden. Visafreiheit für “die Türkei” bedeutet aber, dass diese Freiheit kollektiv, und zwar bezüglich der Eigenschaft, Staatsbürger der Türkei zu sein, erteilt wird, d.h. durchaus korrekt “der Türkei” gewährt wird.
Welch überzeugende Argumentation. Ab sofort muss es Visafreiheit für alle Menschen aus nicht demokratischen Staaten geben, einschließlich solchen wie Nordkorea. Sonst würden die ja alle doppelt, dreifach, zehnfach bestraft.
Kleiner Denkfehler: Ein Sonderrecht, wie Visafreiheit, nicht zu gewähren ist keine “Bestrafung”. Daher kann man so nicht argumentieren um Visafreiheit durchzusetzen. Es gibt keinerlei Anspruch auf rechtliche oder finanzielle Vergünstigungen, egal ob Ukrainer, Türken oder Nepalesen, deren Nicht-Erfüllung auch nur ansatzweise als “Bestrafung” zu werten sei. Allein angesichts der absehbaren negativen Folgen für Deutschland ist die Argumentation für Visafreiheit übrigens falsch.
“Die Visumsfreiheit wird eben nicht dem türkischen Staat gewährt, sondern dem einzelnen türkischen Staatsbürger…” Und dieser Staatsbürger hat den türkischen Staat gewählt und vertritt somit auch die Prinzipien des türkischen Staates. Dank Visumsfreiheit kann Erdogan dann fröhlich seine loyalen Staatsbürger in die EU exportieren, die dann dort fröhlich seine islamistischen Werte verbreiten dürfen. Solange türkische Bürger einen Autokraten wählen, sind sie sehr wohl für den islamistischen Kurs der türkischen Regierung mitverantwortlich. Was auch gern ausgeblendet wird, auch unter deutschen Türken gibt es mehr Erdogan-Anhänger denn Gegner.
Die Argumentation der Autorin ist nicht schlüssig. Die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei gilt im wesentlichen für zwei Punkte: Beleidigung des Präsidenten als Vetreter der Türkei, und Beleidigung des Islam. Beide Punkte treffen in der türkischen Bevölkerung auf überwältigende Zustimmung. Die Türken und die Türkei stehen also keineswegs für zwei verschiedene Dinge. Zumindest nicht in diesem Fall.
Und nun? Das ist eben das Pech eines unmündigen Bürgers. Jeder Einzelne hat die Pflicht, ob in der Türkei oder in Deutschland, Verhältnisse zu ändern, die ihn in seinen Rechten einschränken. Wenn er alles stoisch über sich ergehen läßt, hat er die Verhältnisse, die er nicht zu ändern wünscht.
Meines Erachtens gibt es einen Roten Faden in der Politik Erdogans: Die Errichtung der Großtürkei. Durch Aufruhr und Kriege ist die Expansionsmöglichkeit nach Osten derzeit stark eingeschränkt. Trotzdem behält Erdogan auch in Richtung Syrien “den Fuß in der Tür”. Nach einer Pause hat er nun wieder “Fahrt” in Richtung Westen aufgenommen: Aufnahme in die EU. Gut kann ich mich noch erinnern, wie er auf einer Wahlveranstaltung in Köln, seine “lieben Landsleute” begrüßt hat. Was würde wohl passieren, wenn Merkel Wahlkampf in der Türkei machen würde? (Das Olympiastadion in Berlin wurde zum Wahlbüro für die türkischen Präsidentschaftswahlen.) Erdogan möchte Deutschland zu einer “Provinz” der Türkei machen. Den anderen EU-Ländern kann die Visafreiheit herzlich gleichgültig sein. Das bevorzugte Ziel der Türken ist Deutschland. Leider werden sie nicht nur als Urlauber kommen. In der deutschen Bevölkerung gibt es wohl eine starke Abneigung gegen die Visafreiheit, weil sich nicht alle hier lebenden Türken beliebt gemacht haben. In Berlin sei nur Kreuzberg und Neukölln genannt. Wenn nur die “Guten” mit lauteren Absichten kämen, würden sie hier genau so herzlich willkommen geheißen wie die Deutschen in Antalya. Den im SPIEGEL genannten “Snap-Back-Mechanismus”, der die Visafreiheit aussetzen soll, halte ich für eine Chimäre, eine Spiegelfechterei, die in der Praxis nicht umsetzbar sein wird. Die EU sollte die verbleibende Zeit intensiv nutzen um die Grenze Griechenland - Türkei dicht zu machen. Nur so kann sich die EU aus der Umklammerung Erdogans befreien. Der Hinweis auf die Leid tragende Bevölkerung der Türkei greift m.E. nicht. Jede Bevölkerung, egal in welchem Staat, muss die Ergebnisse des Regierungshandelns der jeweiligen Regierung aushalten, erleiden. Da gibt es nur eine Möglichkeit: Eine andere Regierung wählen. Unsere Regierung kann nicht die Not der Türken zu Lasten der Interessen der eigenen Bürger lindern.
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