Rudolf Taschner
Beim Besuch der sehenswerten Dokumentation Die Universität. Eine Kampfzone des Jüdischen Museums Wien, die letzten Dienstag eröffnet wurde, wies meine Frau mich auf eine Tafel hin, auf der eine Anekdote aus den Jahren um 1880 geschrieben stand. Sie las sich ungefähr so:
„Geht eine Frau mit ihren beiden manierlichen und in feschen Matrosenanzügen gekleideten Buben im Park spazieren. Begegnet ihr ein Herr, der, von den wohlerzogenen Kindern beeindruckt, die Dame fragt, wie alt denn ihre Sprösslinge seien. Darauf die Mutter: ,Der Arzt ist sechs und der Anwalt vier.‘“
Mindestens zwei Gedanken tauchen beim Vernehmen dieser eines Friedrich Torberg würdigen Geschichte auf: Zum einen, wie geborgen man sich damals fühlte. Stefan Zweig nennt in der „Welt von Gestern“ die Ära seiner Jugend „das goldene Zeitalter der Sicherheit”. “Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit.“
Für die Dame in der Erzählung war es keine Frage, dass sich in der nächsten Generation die Welt, in der man lebte, in steter Beständigkeit zum Besseren hin entwickeln werde, man die Karriere der Kinder vorhersehen könne und diese bestimmt angesehene und einträgliche Berufe ergreifen würden.
Zum anderen, welche Wertschätzung man damals einer guten Ausbildung an der Universität entgegenbrachte, von der mit Recht vorausgesetzt werden konnte, dass in ihr Professoren mit Wissen und Verantwortung wirkten. Und es war klar, dass die Ära des Adels vergeht, in der allein die Abstammung zählt, und eine neue, hellere Ära anhebt, in der jene auf der Gewinnerspur fahren, die eine solide Ausbildung genossen haben – auch dann, wenn sie Kinder von Handwerkern waren. Nicht ohne Grund passt diese Erzählung so treffend in die Ausstellung, angesiedelt in jener kurzen Epoche, da die Universität noch nicht Kampfzone dumpfer Ideologien war.
Die gleiche Geschichte hätte sich auch 1913 ereignen können. Das täte mir aber leid, denn die Kataklysmen der folgenden Jahrzehnte hätten die Mutter in tiefste Verzweiflung gestürzt. Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts konnte man sich davon erholen. Die Ära unter Kreisky und Androsch – der Zweitgenannte kommt in seiner Lebensbilanz „Niemals aufgeben“ darauf zu sprechen – darf im Sinne Stefan Zweigs als „das silberne Zeitalter der Sicherheit“ angesehen werden: Die Menschen genossen wieder Wohlstand und waren überzeugt, dass es ihren Kindern noch besser gehen würde. Das Ansehen der Schulen und Universitäten war hoch, weil man in ihnen Bürgen für die gute Zukunft erblickte.
Leider wurde seither wieder viel davon verspielt. Mangelndes politisches Management mag schuld daran sein. Manch anderes auch. Sicher aber gibt es zwei Hauptverursacher:
Erstens der fehlende, wohl absichtlich wegen seiner politischen Unkorrektheit unterdrückte Ehrgeiz, in die Ausbildung von jungen Menschen höchste Ansprüche zu setzen, gediegene Leistung und genuine Kreativität zu fördern. Dass immer noch an den Universitäten seriöse und gewichtige Disziplinen mit Orchideenfächern, die in Posen und Talmi versanden, um Rang und Geld streiten müssen, ist ein Skandal.
Zweitens der fehlende Ansporn zum freien Unternehmertum. Endlich wieder muss der Staat dafür sorgen, dass es sich lohnt, gute Ideen wirtschaftlich umzusetzen. Das Übermaß von Regulierungen, die sich dagegen als Hindernisse türmen, hat ein sich seiner Souveränität bewusster Staat federstrichartig zu beseitigen. Selbst dann, wenn sie vom „sanften Monster Brüssel“ verordnet sind.
Damit, im übertragenen Sinn, 2020 eine Mutter ihre Kinder mit den Worten, die Managerin sei sechs und der Ingenieur vier, vorstellen kann.
Zuerst erschienen in der Wiener Tageszeitung Die Presse.
Rudolf Taschner, Professor an der Technischen Universität Wien, gründete das Projekt math.space im Wiener MuseumsQuartier: Es stellt die Mathematik einer breiten Öffentlichkeit als kulturelle Errungenschaft vor.