Die Politik hat einen systematischen Weg aus dem Schuldturm gefunden. Mit extrem niedrigen Zwangszinsen schleichen sich die Schuldokratien aus der Not. Experten sprechen feinsinnig von “finanzieller Repression” - in Wahrheit handelt es sich um kalte Enteignung.
Die Aktienbörsen feiern den läppischen Haushaltskompromiß in Amerika als habe Obama finanzielles Freibier für alle bestellt und die exorbitanten Schulden der USA mit einem Zaubertrank weggeschluckt. In Wahrheit geht das Schuldenmonopoly munter weiter. Und zwar in der gesamten westlichen Welt. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Staatsschuldenquoten so rasant gestiegen wie derzeit – im Durchschnitt der OECD-Länder ist die Marke von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts jetzt überschritten.
Seriöse Staatsmänner würden jetzt eine umfassende Sparpolitik einleiten. Mutige Staatenlenker würden ihre Volkswirtschaften so konsequent liberalisieren, dass sie sich aus den Schulden herauswachsen könnten. Verwegene Politiker würden die Schulden weginflationieren. Ehrliche Machthaber würden Insolvenzverfahren mitsamt Umschuldungen organisieren.
Unsere Staatenlenker jedoch gehen weder den seriösen noch den mutigen Weg. Sie haben sich für den organisierten Diebstahl entschieden: mit erzwungenen Radikal-Niedrigzinsen werden die Sparer um ihre Reserven gebracht. Seit Monaten wird feinsinnig eine „finanzielle Repression“ diagnostiziert, als handele es sich um eine geldliche Befindlichkeitsstörung wie Wechseljahrbeschwerden. In Wahrheit geht es sich um systematische Enteignung.
Wenn nämlich die Sparer dauerhaft eine Verzinsung unterhalb der Inflationsrate erdulden müssen, finanzieren sie über ihren Substanzverlust die Entschuldung des Staates zwangsweise. Die Zinsenteignung funktioniert wie eine direkte Steuer auf Ersparnisse. Seit anderthalb Jahren liegt sogar die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen unterhalb der Inflationsrate. Drastischer erfolgt der Zinsraub bei Anleihen mit kürzerer Laufzeit, deren Renditen nurmehr eine Null vor dem Komma haben.
Bei einer Inflationsrate von rund 2 Prozent bekommen Anleger auf Bundesanleihen im Durchschnitt aller Laufzeiten nur noch etwa 1 Prozent. Wie in der Schweiz zahlen wir also dem deutschen Staat dafür, dass wir ihm Geld leihen. Da das ausstehende Volumen bei Bundesanleihen rund 1,9 Billionen Euro beträgt, zahlen die Anleger nach derzeitigen Konditionen alleine dem Bund jährlich 19 Milliarden Euro drauf. Dieses Geld wird stillschweigend von Sparern zum Staat umverteilt. Wolfgang Schäuble kann sich freuen, denn bei diesen negativen Realrenditen entschuldet sich der Bund durch die Ausgabe von Schuldtiteln - ohne dass er Sparen oder Steuern erhöhen muss.
Doch geht die Politik inzwischen auf Nummer sicher, dass ihr Zinsraub auch wirklich wie geschmiert läuft. So werden nicht nur die Notenbanken gedrängt, mit immer massiveren Anleihekäufen die Zinsen unten zu halten. Auch der Druck auf Geschäftsbanken, Versicherungen und Pensionsfonds wächst, immer weitere europäische Staatsanleihen zu übernehmen. Mal müssen sie für die Staatstitel kein Eigenkapital unterlegen, mal werden bedrohte Banken und Pensionsfonds direkt in die Staatsschuldenfinanzierung gezwungen.
Aber auch in den USA und in Japan ist die Zinsräuberei inzwischen systemisch. So kontrolliert die Tokioter Regierung die japanische Postbank, einer der weltgrößten Finanzkonzerne, und zwingt sie nun schon traditionell bis zu drei Viertel ihres Geldes in lächerlich verzinste heimische Staatsanleihen zu investieren.
In den USA hat der Zinsraub sogar Tradition. Um die Kosten des Zweiten Weltkrieges zu finanzieren, hatte Amerika bis Mitte der siebziger Jahre negative Realzinsen. Die Verschuldung wurde so von mehr als 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf gut 30 Prozent gedrückt. Das ist die Blaupause für die jetzige Enteignung. Dabei hatten wir diesmal gar keinen Weltkrieg.
Den Sparern bleibt nur eine Chance, sich dem Zinsraub zu entziehen. Sie müssen andere Anlegeklassen wählen. Und sie tun es bereits in zusehends größerer Zahl – der Boom an den Immobilien- und Aktienmärkten hat darin einen Grund. Und so ist der Zinsraub nicht nur eine ungerechte Enteignung, weil er all die bestraft, die sparsam vorgesorgt haben und ganze Alterssicherungssysteme gefährdet – er provoziert auch noch neue Finanzblasen, die irgendwann riskant zu werden drohen.
Zuerst erschienen auf Handelsblatt Online