„So lange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird“, heißt es in Martin Walsers Roman „Ein springender Brunnen.“
Der 23. August 1939 war ein Mittwoch. Die Wetteraufzeichnung besagt, dass es im August des Jahres 1939 etwas zu warm war. Modisches Muss für die Dame von Welt war das kurze Bolero, lässt es doch die schmale Taille sehen. Zu den neuen Wagen, die in Serie gingen, gehörten der BMW 335 und der Maybach SW 42. Der Film des Jahres 1939 war ein amerikanisches Bürgerkriegsdrama: Vom Winde verweht. Zu den Büchern des Jahres gehörte Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen und James Joyce Finnegans Wake. In Paris wurde das neue Schauspiel von Jean Giraudoux Undine uraufgeführt. In Buenos Aires begann die Schacholympiade. In Moskau wurde in Anwesenheit von Stalin ein deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt unterzeichnet.
Sieben Tage später, als die deutschen Armeen in Polen einmarschierten, hat der Zweite Weltkrieg begonnen. Es vergehen noch knapp drei Wochen, bis Wehrmacht und Rote Armee am 22. September aufeinandertreffen, um an der Demarkationslinie eine gemeinsame Siegesparade zu veranstalten. Ein Foto des Ereignisses in Brest zeigt die beiden Generäle Heinz Guderian und Semjon Moissejewitsch Kriwoschein in bester Laune. Ein erster Teil des geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt, die Aufteilung Polens, ist vollzogen.
In der Akademie für politische Bildung in Tutzing fand im Juli eine deutsch-russische Historikertagung statt. Es ging um „Erinnerungsorte des 20. Jahrhunderts im russischen und deutschen Gedächtnis.“ Der Titel wurde durch drei Jahreszahlen aufschluss-und folgenreich markiert: 1941, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion; 1961, Mauerbau und 1991,das Ende der Sowjetunion. Der Hitler- Stalin-Pakt von 1939 war zwar am Rande auch ein Thema, aber nur am Rande.
Sein Status als Marginalie erlaubt es über die Ereignisse vom 23.August 1939 bis zum 22. Juli 1941 hinwegzusehen. Diese aber stellen eine mustergültige Zeugenschaft für den Totalitarismus dar. Ihre Betrachtung macht jede Debatte über die Vergleichbarkeit der beiden extremistischen Systeme überflüssig. Ihre Verbrechen erweisen sich als so überzeugend austauschbar, dass noch in späten Projekten, wie dem der ersten Wehrmachtsausstellung, Dokumente falsch zugeordnet werden konnten.
In der Zeit des Pakts blühen die deutsch-russischen Beziehungen, und auch das bleibt nicht folgenlos. Stalin drosselt die antifaschistische Propaganda, vor allem die Kultur soll das Schaufenster der neuen Freundschaft bestücken. So beauftragt der Diktator den Regisseur Eisenstein mit einer Inszenierung der Walküre, aus Wagners Ring.
Gleichzeitig nutzt er den Augenblick um den in den geheimen Zusatzprotokollen vereinbarten Territorialklau zu ermöglichen. Stalin besetzt die Ostgebiete Rumäniens, Bessarabien und die Bukowina, und die baltischen Staaten. Darüber hinaus führt er. mit allerdings hohen Verlusten, den so genannten „Winterkrieg“ gegen das widerspenstige Finnland.
Stillschweigend werden Hunderte deutscher Emigranten an das Dritte Reich ausgeliefert. Zu den bekanntesten gehört Margarete Buber-Neumann, ehemalige Parteipressen-Redakteurin und verheiratet mit dem KPD-Führer und Thälmann-Konkurrent Heinz Neumann, der in Moskau zum Opfer der Säuberung wurde. Er wurde 1937 erschossen. Margarete Buber- Neumann, die zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt war, wurde zunächst nach Karaganda deportiert, um schließlich im Februar 1940 an das Dritte Reich ausgeliefert zu werden. Dort kam sie ins KZ Ravensbrück, wo sie bis zum April 1945 in Haft blieb. Buber-Neumann hat über ihr vom Totalitarismus zerstörtes Lebensglück mehrere Bücher verfasst.
In den von Stalin besetzten Gebieten beginnt das „Rote Jahr“ 1940, das von Willkür und Terror, Enteignung und Deportation geprägt ist. Es ist für die Völker Ost und Ostmitteleuropas die Einführung in das, was sie mit dem Kalten Krieg, von dem sie noch nichts wissen können, in der Nachkriegszeit erwartet. Sie waren Hitler entkommen und wurden an Stalin ausgeliefert.