Gastautor / 20.11.2012 / 17:47 / 0 / Seite ausdrucken

Jüdisches Wien: Wie aus einem Vorwort ein Nachwort wurde

Benjamin Kaufmann


Vorbemerkung: Der Autor ist von dem Photographen Josef Polleross gebeten worden, für den Katalog zu seiner Ausstellung im Jüdischen Museum Wien über das zeitgenössische jüdische Wien einen Beitrag zu verfassen. Bezüglich Form und Inhalt wurde ihm gänzlich freie Hand gelassen. Hier lesen Sie den Text, der nun doch nicht im Katalog erscheinen wird.

Es gibt kein jüdisches Wien

Es gab ein jüdisches Wien, gewachsen in den Jahren der liberalen Blüte nach 1867. Die Juden der Stadt nutzten die durch die Emanzipation erworbenen Rechte und Freiheiten, bildeten sich und gingen in die freien Berufe oder machten sich unternehmerisch selbstständig. Eine Rolle, in die sie nicht zuletzt von der Gesellschaft weiter gedrängt wurden, denn für sie war es immer noch schwer, Land zu erwerben oder in christlichen Betrieben eine Anstellung zu finden. Mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg sahen sie sich bald in der Lage, jene Lücke im bürgerlichen Leben der Stadt zu füllen, die die Adels- und Patrizierfamilien hinterlassen hatten. Das intellektuelle Leben der Stadt war von Juden bestimmt. „Der Adel war vollkommen teilnahmlos;“ (sic) schreibt Jakob Wassermann in Mein Leben als Deutscher und Jude „mit Ausnahme einiger Fehlgeratener und Ausgestoßener, einiger Abseitiger und Erleuchteter, hielt er sich nicht nur ängstlich fern von geistigem und künstlerischem Leben, sondern er fürchtete und verachtete es auch.“

Es waren die Kinder dieser Generation, die das künstlerische Gesicht der Stadt bis in die Gegenwart prägen sollten und deren wissenschaftliche Arbeiten bis heute den größeren Teil der nach Österreich verliehenen Nobelpreise begründen. „Jeder, der ein bisschen Verstand oder irgendein Talent hat, [gilt] deshalb gleich als Jude; sie können sich’s nicht anders erklären.“ wird Herrmann Bahr zitiert.

Der schnelle und vielfältige Erfolg einer Religionsgruppe, die kurz zuvor noch nicht einmal innerhalb der Stadtmauern wohnen durfte, schürte bei vielen nichtjüdischen Mitbürgern Neid. Die Überhöhung der Leistungen, der Macht und des Einflusses der Juden und einerseits die daraus abgeleitete Verantwortung für alles Schlechte sowie das evozierte Gefühl, den Nichtjuden sei kein gerechter Anteil zugekommen, trafen auf jahrtausendealte antijudaistische Ressentiments. Mit dem Erschwachen der Kirchen im Zuge der Europäischen Reformbewegungen und in Österreich insbesondere mit der Aufkündigung des Konkordats von 1870 war der klassische, religiös begründete Antisemitismus ?  „Ketzer“, „Christusmörder“  ?  immer weniger geeignet, die Massen zu bewegen. Der Boden war damit aber für den neuen rassisch begründeten Antisemitismus gut bereitet. In Frankreich war das Phänomen schon seit den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bekannt und wurde dort zunächst vor allem von linken, antikapitalistischen Kräften befeuert, die insbesondere die jüdische haute banque in ihr Visier genommen hatten. In Wien kam dieser neue Antisemitismus hingegen relativ spät auf, schlicht aufgrund des späten gesellschaftlichen Wandels, dafür aber mit einer Kraft, die ohnegleichen war.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Die jüdische Bevölkerung Wiens war gespalten. Auf der einen Seite die beschriebenen assimilierten bürgerlichen Juden. Sie gingen vielfach Ehen mit Katholiken ein, wobei in den allermeisten Fällen es die jüdischen Ehepartner waren, die sich taufen ließen oder zumindest ihre Konfession aufgaben. Zahlen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg belegen fast zehnmal so viele Ehen, die zwischen Katholiken und Juden wie zwischen Katholiken und Protestanten geschlossen wurden. Ihre Identifikation war häufig mit dem Deutschtum höher als mit dem Judentum.

Auf der anderen Seite gab es die »Ostjuden«. In erster Linie Flüchtlinge vor den wiederholten Pogromen im zaristischen Russland, das mit circa fünf Millionen zu der Zeit die meisten Juden beherbergte. Sie kamen über die Grenze nach Galizien und von dort mit der Nordbahn in die Leopoldstadt. Vor allem sie sind die acht bis zehn Prozent, die in den offiziellen Statistiken zwischen 1880 und 1938 als jüdische Bürger Wiens aufscheinen. Viele der später rassisch verfolgten assimilierten Juden gaben hingegen bei den Volkszählungen katholisch oder konfessionslos an. Die Ostjuden waren religiös, lebten in Armut, sprachen russisch, polnisch oder jiddisch. Gründe, aus denen auch die etablierten deutschen Juden sie häufig mit Argwohn betrachteten. Die Bemühungen, die es von ihrer Seite gab, die Ostjuden zu unterstützen, scheiterten meist wieder an deren Ablehnung. Die deutschen Juden hatten ihre Religion verraten.

Dies war das Umfeld, in dem Theodor Herzl und Max Nordau in Wien die zionistische Idee entwickelten, die einerseits natürlich eine Reaktion auf den Antisemitismus darstellte, andererseits auch diesen wieder beförderte. Es war eine Zeit, in der viele, Juden wie Nichtjuden, glaubten, die »Judenfrage« ließe sich noch durch Assimilation lösen. Die Wiener Gesellschaft erlebte die Juden, sie waren prominent in der Stadt vertreten. Wenn sie auch nicht ein Viertel oder die Hälfte der Bevölkerung ausmachten wie in Budapest, respektive Krakau, war die Situation doch eine ganz andere als beispielsweise in Berlin, wo etwa vier Prozent der Einwohner jüdisch waren und ihre gesellschaftliche Stellung lange nicht so bedeutend war. Außerdem erlebte Wien zwei Gruppen von Juden, an den einen ließ sich gut das Bild von dem raffgierigen Geldadel aufbauen, an den anderen das der geschlossenen, in Kaftans uniformierten, verschwörerischen Gesellschaft.

Die Monarchie war instabil, die Kirche in der schwächsten Position seit Jahrhunderten, die hehren liberalen Ideale hatten tiefe Risse bekommen, die Arbeiterbewegung hinkte hinterher, die Gesellschaft war gekränkt, dass Bismarck die kleindeutsche Lösung vorgezogen hatte. Die Zeit schrie nach einfachen Lösungen, nach Schuldigen, und zwei mitreißende Redner schrien besonders laut zurück. Der „schöne Karl“, ein hochintelligenter Bilderbuchpopulist, wusste sehr gut, wen er gegen wen ausspielen konnte. Er, der Advokat der „kleinen Leute“, der Studierte, der Wienerisch ?  ihre Sprache ?  sprach. „Seine Art, auf seine Gegner zu schimpfen, erinnerte ein wenig an die Art, in der die Fiaker auf dem Standplatz schimpften. Eben deshalb mochten ihn die Fiaker.“, bemerkt Albert Fuchs in Geistige Strömungen in Österreich.

Karl Lueger beginnt seine politische Laufbahn bei den Liberalen, schließt sich bald der antiliberalen Demokratischen Gruppe an und bekennt sich erst 1887 zu den klerikal-antisemitischen Kräften. Im September des Jahres hält er vor dem Christlich-sozialen Verein seine erste, verglichen mit späteren noch geradezu harmlose, antisemitische Rede. Er war zweiter Redner nach dem Anführer der ungarischen Antisemiten Professor Komlossy, dessen mit minutenlangen Ovationen bedachte Rede er nur durch einen noch strikteren Antisemitismus übertrumpfen zu können glaubte. Hier erfuhr er zum ersten Mal die Macht, die er mit seiner antisemitischen Rhetorik über sein Publikum ausübte, und verfeinerte von da an seine Methoden und radikalisierte seine Thesen. Felix Salten schrieb in einem Essay über Lueger: „Da kommt dieser Mann und schlachtet ?  weil ihm sonst alle anderen Künste mißlangen ?  vor der aufheulenden Menge einen Juden. Auf der Rednertribüne schlachtet er ihn mit Worten, sticht ihn mit Worten tot, reißt ihn in Fetzen, schleudert ihn dem Volk als Opfer hin.“ (sic)

Der zweite prominente Antisemitenführer war der Alldeutsche Georg von Schönerer. Auch er wurde zunächst von den Liberalen nominiert, trat aber nie einem liberalen Klub im neuen Reichsrat bei. Während sein erstes politisches Programm von 1882 schon vom pangermanischen Gedanken charakterisiert wird, mit sozialistischen und liberalen Einschlägen, finden sich in dem mit den areligiösen geborenen Juden Heinrich Friedjung und Victor Adler aufgesetzten Papier noch keine explizit antisemitischen Forderungen. Seine Reden und politischen Handlungen ließen aber schon damals keinen Zweifel an seiner Einstellung den Juden gegenüber zu. Seine rassistischen Ansichten überstiegen die Luegers bei weitem. 1885 schließlich wurde dem Programm ein weiterer Punkt hinzugefügt: „Zur Durchführung der angestrebten Reformen ist die Beseitigung des jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens (…) unerlässlich.“ Lueger und Schönerer erzielten in dieser Zeit mit ihren antisemitischen Kampagnen Wahlerfolge wie niemand sonst in Europa. Wien, die Stadt mit der großen jüdischen Tradition in Kunst, Wissenschaft und Kultur, war auch die geistige Wiege einer neuen Bewegung, die auf die Auslöschung des gesamten jüdischen Volkes bedacht war. Es zeigte sich, dass das Echo von Schönerers Wahlspruch noch lauter war als der Ruf: „Die Religion ist einerlei, im Blute liegt die Schweinerei.“

Ein verhinderter Architekturstudent und Postkartenmaler, der wenige Jahre später unter dem ekstatischen Jubel der Wiener am Heldenplatz sprach, betonte wiederholt den Einfluss, den Lueger und Schönerer in seinen Wiener Jahren auf ihn ausübten. Die Bewegung, die sie anführten, die Saat, die sie säten, erklärt, warum man in Wien und Österreich besondere Freude daran hatte, Juden herabzuwürdigen, zu demütigen, zu berauben, zu foltern, zu morden. Erklärt, warum man besonders eifrig war, Provinzen »judenrein« zu bekommen. Erklärt, warum Österreicher in der SS weit überproportional vertreten waren. Die Brutalität, die in Wien gegen die Juden entfesselt wurde, war 1938 noch einigen hohen Funktionären in der NSDAP unangenehm. In Wien war man geil wie nirgends, das jüdische Erbe auszulöschen. Wieder einmal, nach 1420 und 1669.

Der Krieg ging, und die Befreier, aka Besatzer, kamen. Da stand sie nun, die gekränkte österreichische Gesellschaft, nackt und schamhaft. Ihrer Idole beraubt. Führerlos. Vaterlos. Gottlos. Unfähig zu trauern. Und in diesem Stillstand stand sie, verharrte sie, schwieg. In den 1940er Jahren sprach keiner vom jüdischen Wien. In den 1950er Jahren sprach keiner vom jüdischen Wien. In den 1960er Jahren sprach keiner vom jüdischen Wien. In den 1970er Jahren sprach keiner vom jüdischen Wien. In den 1980er Jahren sprach keiner vom jüdischen Wien. Es gab keins. Dann begann eine krampfhafte Suche. Keine Saison ohne Buch zum Thema; Veranstaltungen, Ausstellungen. Man betrieb »Wiedergutmachung«. Nun ruft man: „Jüdisches Wien? Ist eh da!“ Aber das ist es nicht. Was herausgegriffen wird, ist lächerlich. Zu den jüdischen Feiertagen gibt es nicht mal Grußkarten in den Buchhandlungen. Das, was geschieht, ist längst nicht Stadtkultur, sondern geschieht nur an geschützten Rückzugsorten. Ja, sicher, es gibt wieder Jüdisches in Wien, das jüdische Wien aber ist nicht mehr.

Benjamin Ari Kaufmann, geboren 1991 Wien; Ausbildung zum Mediator und Winzer. Bis 2009 Herausgeber von Kantus, Brief für Neue Musik München, lebt und arbeitet als Dichter und Weinhändler in Wien. Im Frühjahr 2013 erscheint unter seiner Herausgeberschaft Trotz Allem… Aron Menczer 1917-1943 und gemeinsam mit Christof Habres das Handbuch für Kunsttouristen

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