Gastautor / 07.11.2014 / 14:38 / 13 / Seite ausdrucken

“Jeder Massenmörder ist menschlich”

WOLF BIERMANN IM GESPRÄCH DANIEL W. SZPILMAN


Herr Biermann, was hängt dort an Ihrer Wand?

Biermann: Vor einiger Zeit gingen mein Sohn und ich in Hamburg zu den heute verlassenen Bahn gleisen, von denen aus 1941 die Todestransporte ins Getto Minsk losfuhren. Auch meine jüdische Familie, meine Grosseltern, Tante und Onkel, meine Cousins und Cousinen, wurden von dort aus verschleppt. Wir fanden auf dem Gelände Reste der Eisenbahnschwellen, Schrauben, Muttern, Federn und Gleise. Eine Schwelle und ein paar dieser Eisenteile nahmen wir mit nach Hause. Aus den Schrauben, Muttern, Federn und einigen Schottersteinen baute ich mir mein eigenes Holocaust-Mahnmal. Die Eisenbahnschwelle stellte ich in den Garten.

Warum?

Ich will meinen Kindern die Mörder meiner Familie zeigen.

Die Mörder Ihrer Familie?

Ja. Kein Nazi-Mörder hat sich als schuldig bekannt. Die schwere Eichenschwelle hat sich nicht aufgerichtet, als die Züge fuhren. Die Schrauben lockerten sich nicht, als die Züge rollten, und die Schottersteine flogen dem Lokomotivführer nicht an den Kopf. Kurze Zeit, nachdem ich zu Hause angekommen war, stand die Polizei vor meiner Haustür.

Was wollte die Polizei von Ihnen?

Die zwei Polizisten sagten, ich und mein Sohn seien beobachtet worden, wie wir eine Eisenbahnschwelle entwendet hätten. Ich sagte: «Ja, die steht jetzt in meinem Garten.» – «Sie geben es also zu, dass Sie die Schwelle mitgenommen haben?», fragte der Polizist. «Natürlich», versicherte ich und erklärte ihm, was ich auch Ihnen gerade erklärt habe: Ich will meinen Kindern die Mörder meiner Familie zeigen.

Wie reagierten die Polizisten?

Sie sagten, sie müssten das so notieren, das sei ihr Job. Ich erwiderte, ich mache auch nur meinen Job und verhafte die Mörder meiner Familie. Einige Tage später rief mich mein Sohn an und erzählte, dass ein Artikel in der Zeitung stünde: Zwei Männer hätten eine Eisenbahnschwelle geklaut. Ein Grund wurde nicht genannt. Dabei hatte ich der Polizei meine Beweggründe mitgeteilt.

Ihr in Auschwitz ermordeter Vater und Ihre Mutter waren überzeugte Kommunisten. Wie war Ihre Kindheit, wie waren Ihre Eltern?

Ich war drei Monate alt, als mein Vater hier in Hamburg verhaftet wurde. Er hatte die heimlichen Waffentransporte der Nazis sabotiert, die General Franco im spanischen Bürgerkrieg unterstützten. Der Waffennachschub für die deutsche Einheit, die Legion Condor, kam aus dem Hamburger Hafen. Mein Vater war Hafenarbeiter auf der Hamburger Werft. Die Widerstandsgruppe flog durch einen Gestapo-Spitzel auf und mein Vater wurde zum zweitem Mal während der Nazizeit verhaftet. Diesmal «nur» zu zwei statt zu sechs Jahren Zuchthaus. Ich habe ihn nur einmal in meinem Leben erlebt.

Wann und wie erlebten Sie ihn?

Durch einen wahnsinnigen Glücksumstand. Dagobert Biermann sass seine zweite Strafe in Bremen Oslebshausen ab. Meine Mutter durfte ihn vier Mal im Jahr für eine halbe Stunde besuchen. Man nannte das «Sprecher». An einem dieser Tage, das muss im Winter des Jahres 1942 gewesen sein, fand meine Mutter niemanden, der auf mich aufpassen konnte. Also nahm sie mich in ihrer Not mit nach Bremen. Mein Vater sass gerade nicht, wie sonst, in einer Gefängniszelle, sondern wurde in einem Arbeitskommando eingesetzt, das im Moor, nördlich von Bremen, Torf stechen musste.

Erinnern Sie sich an die Szenerie?

Ich lief mit meiner Mutter auf dem Weg zum Lager kilometerweit durch eine schneebedeckte Landschaft. Eine verzauberte Idylle, die Büsche und Bäume, wie von weissem Zucker übergossen. Fantastisch. Dann kamen wir zu einem mit Stacheldraht umgürteten Lager, zu dem Einlasstor, durch welches die Lastwagen fuhren. Vor dem Tor stand ein uniformierter Posten.

Was geschah dann?

Der Posten sagte zu meiner Mutter, dass Kinder nicht ins Lager dürften. Meine Mutter weinte und bettelte. Irgendwann hatte der Mann keine Nerven mehr, vielleicht auch nur ein gutes Herz, und liess uns durch. So ging ich mit meiner Mutter in das Lager und wir kamen zu einer Baracke, an die ich mich genau erinnere.

Wieso?

Weil ich links ein Fenster sah, welches ich nie wieder im Leben vergessen habe. Das ganze Fenster war von innen voll mit Männergesichtern bedeckt, die sich drängelten, ein Kind und eine Frau zu sehen. Mitten im Lager, eine Frau und ein Kind! Dieses Fenster, wie von einem Maler gemalt, mit glotzenden Gesichtern ausgemergelter Männer, die mit gierigen Augen eine Frau und ein Kind fressen, ging mir nie wieder aus dem Kopf. Meine Mutter und ich wurden in einen Büroraum geführt und an einen Tisch gesetzt. Meine Mutter nahm mich auf den Schoss und setzte sich auf den Besucherstuhl. Dann wurde mein Vater reingeführt. Meine Eltern durften sich nicht berühren. Mein Vater setzte sich auf die andere Seite und der Wachhabende stellte sich wieder ans Fenster. Meine Eltern durften nur über Privates sprechen.

Worüber redeten Ihre Eltern?

Über Alltägliches. Aber doch in einer Weise, die geeignet war, politisch wichtige Dinge auszutauschen. Diese Art zu reden nennt man «Sklavensprache». Ich begriff das als kleiner Junge natürlich nicht. Ich verstand etwas anderes.

Was verstanden Sie?

Mein Vater schenkte mir eine Tüte Bonbons. Erst später, als ich älter wurde, habe ich gefragt, wieso mein Vater in einem Lager eine Tüte Bonbons haben konnte. Meine Mutter hatte sie dem Posten gegeben, damit er die Tüte meinem Vater gab und der wiederum mir eine Freude machen konnte. Auch diese Schweine waren ja Menschen. Ich gab meinem Papa ein Bonbon. Das fand er wahrscheinlich schon mal ganz gut. Ein zweites Bonbon steckte ich in den Mund meiner Mutter. Dann nahm ich ein drittes Bonbon raus. Meine Hand wanderte in Richtung des Mannes, der uns bewachte. Ich guckte ihn mit meinen Kinderaugen an und zog die Hand wieder zurück, ich war mir unsicher. Mein Vater sah das, lachte und sagte: «Du kannst ihm ruhig eins geben.» Da bin ich mit dem Bonbon in Richtung des Mannes gegangen, steckte dann das Bonbon aber kurzentschlossen in meinen eigenen Mund.

Weswegen haben Sie sich in diesem Moment anders entschieden?

Ein kleiner Akt von Anti-Faschismus, der meinen Vater vielleicht gefreut hat. Meine Mutter erzählte meinem Vater auch, dass ich den Spottnamen «der kleine Sänger» hatte. Morgens, wenn meine Mutter zur Arbeit musste, sass ich immer zwei Stunden alleine in meinem Bett und wartete, bis meine Tante Lotte mich zu sich holte. Ich war damals vier, fünf Jahre alt. Und jeden Morgen sang ich diese zwei Stunden allein vor mich hin. Und dann passierte ein Unglück.

Was für ein Unglück?

Meine Mutter sagte bei dem Besuch meines Vaters: «Wölflein, sing doch deinem Papa ein Lied vor.» Und ich habe sofort, ohne einen Moment zu zögern, losgesungen:

«Hörst du die Motoren brummen,
ran an den Feind!
Hörst du die Motoren brummen,
ran an den Feind!
Bom-ben, Bom-ben, Bom-ben auf
Enge-land. Bumm! Bumm!»

Ein Nazi-Lied. Über diese herzzerreissende Situation habe ich mich mit meiner Mutter immer wieder gestritten. Immer derselbe Dialog: Mein armer Vater, einmal im Leben sieht er seinen Sohn und was singt ihm dieser kleine Idiot vor? Das Lied seiner Todfeinde. Und meine Mutter ärgerte sich und sagte, ich sei ein Dummkopf, weil mein Vater sich trotzdem gefreut hatte. «Der wusste doch, dass du das in der Goebbelsschnauze», so nannte man das Radio damals, «gehört hattest.»

Später gingen Sie in die DDR.

Mit 16 Jahren beschloss ich, in die DDR zu gehen.

Wieso? Die DDR war auch eine totalitäre Diktatur.

Weil ich mich 1953 in West-Deutschland wie im Feindesland fühlte.

Was war der Auslöser für dieses Gefühl?

Vieles. Zum Beispiel solche Tatsachen: Der Mann, der meinen Vater monatelang an Eisenhandschellen im Konzentrationslager Fuhlsbüttel an die Wand gehängt hatte, war nun Beamter im Hamburger Senat. Und ein anderer wollte jedem 50 000 Mark geben, der beweise, dass auch nur ein Jude in Auschwitz ermordet worden sei. Aber wie sollte ich denn beweisen, dass mein Vater dort ermordet wurde und nicht in Buenos Aires an Liebeskummer gestorben ist? Ausserdem wurde ich von meiner Mutter kommunistisch erzogen.

Was bedeutete das?

Meine Mutter hatte sehr bescheidene Wünsche, was das betrifft. Sie war nicht der Meinung, dass ich ein grosser Dichter werden solle. Sie war bescheidener: Ich sollte nur den weltweiten Kommunismus aufbauen und die Menschheit retten. Sonst nichts. Nicht im Alleingang, wie Sie dunkel ahnen werden, sondern mit anderen Genossen.

Sie sollten also die Revolution anführen?

Ich sollte das machen, wozu ein Kommunist eben so da ist: Weltrevolution. Und ich war reinen Herzens bereit, ihr diesen kleinen Wunsch zu erfüllen. Ich war Mitglied der Jungen Pioniere, der Kinderorganisation der Kommunistischen Partei, deren Mitglieder meine Eltern seit ihrer Jugend waren. Ich wuchs nur mit Kommunisten auf. Ich bin in der «kommunistischen Kirche» konfirmiert worden. Für mich gab es nichts anderes.

Denken Sie, dass es immer das Umfeld eines Menschen ist, das ihn prägt? Oder gibt es auch Menschen, die von Natur aus Schweine sein können?

Der Charakter spielt natürlich eine grosse Rolle. Aber auf welchem konkreten Gebiet man ein Schwein ist, oder kein Schwein, das hängt nicht von einem selber ab, sondern von wem man geprägt wird. Das gilt zumindest für die Jugendzeit. Dann wird man älter, klüger und macht eigene Erfahrungen. Mit 50 Jahren kann man nicht mehr erzählen, dass man als Dreijähriger verkehrt auf den Nachttopf gesetzt wurde und deswegen ein Verbrecher werden musste. Jean-Paul Sartre sagte einmal in hegelianischem Jargon, kompliziert, aber durchaus richtig formuliert: «Wir beurteilen die Menschen nicht danach, was aus ihnen gemacht wurde, sondern danach, was sie aus dem gemacht haben, was aus ihnen gemacht wurde.» Was dieser langweilige Philosophen-Satz konkret bedeutet, habe ich in meinem Leben erlebt.

Wie erlebten Sie es?

Ich kam als kleines Kommunistenkind in die DDR und wollte dort das Richtige von den richtigen Leuten lernen.

Was wollten Sie lernen?

Alles, was mir der Klassenfeind in Hamburg nicht beibringen konnte. Mir wurde erst einige Jahre später bewusst, warum ich kleiner Mensch, mit meinem Asthma und meinen sehr bescheidenen Talenten, der grosse Drachentöter in der DDR werden sollte und mit meinen Liedern und Gedichten die Heldenrolle in diesem Theater gespielt habe. Wieso war meine Kritik an den herrschenden Bonzen der Partei, an den Stalinisten also, so radikal?

Sagen Sie es mir.

Weil ich das Kind von Kommunisten war. Die meisten meiner Altersgenossen waren Kinder von Nazis. Sie schämten sich für ihre Eltern und waren deswegen im Streit mit den Parteibonzen der DDR sehr bescheiden. Sie wollten es besser machen als ihre Eltern und taumelten so in den nächsten Fehler, weil sie gehandicapt waren mit ihrer Geburt.

Wie meinen Sie, «gehandicapt»?

Sie waren gehindert, den Streit zu wagen.

Ist das heute noch so in Deutschland?

Heute sind wir eine Umdrehung weiter. Im Grossen und Ganzen ist es so, wie es die Bibel schreibt: «Verdorben bis ins dritte und vierte Glied.» Die Kinder, die sich von ihren Nazi-Eltern lösen, wollen einen anderen Weg beschreiten. Aber weil sie eben einen anderen Weg gehen wollen, orientieren sie sich trotzdem an ihren Eltern. Nur in verdrehter Weise.

Dieses Problem hatten Sie, als ein Kind der Opfer, nicht.

Ich fühlte mich als rechtmässiger Erbe des Kommunismus. Ich war ein Kommunistenkind in diesem Nachkriegs-Nazi-Deutschland, also in der DDR und der BRD. Es waren die selben Deutschen.

Waren Sie sich als 16-Jähriger bewusst, dass es dieselben Deutschen waren?

Ja, das war mir vollkommen klar.

Und dennoch gingen Sie in die DDR.

Ja, weil dort Menschen an der Macht waren, die das alles besser machen sollten. Kommunisten. Die wie meine Familie, in der Nazi-Zeit verfolgt wurden.

Gab es ehemalige Nazis, die vor dem Krieg Kommunisten waren und nach dem Krieg wieder zu Kommunisten wurden?

Die gab es. Aber die meisten von denen waren im Westen. Und die Parteibonzen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands haben immer so getan, als hätte die DDR selbst im Bund mit der Sowjetunion Nazi-Deutschland besiegt.

Für die DDR war auch klar, dass Hitler eigentlich Kapitalist war.

Nein, das ist nicht wahr. Er war ein «Kapitalisten-Knecht». Das darf man nicht verwechseln. So blöd waren die in der DDR nun auch wieder nicht! Wenn man älter wird, lernt man nach und nach, Probleme zu erkennen. Und es kommt die Frage, ob man die moralische Kraft hat, sein theoretisches Begreifen in praktisches Verhalten umzusetzen. Es gibt viele Menschen, die klüger sind, als sie sich dumm verhalten, weil sie nicht den Mut und die Moral haben, für das, was sie begriffen haben, zu kämpfen. Nur die Tapferen wagen diesen Krieg.

Wer gehörte zu den Tapferen in der DDR?

Es gab viele. Die meisten standen nicht im Rampenlicht, wie mein Freund Professor Robert Havemann, der berühmte Naturwissenschaftler. Er sass in der Nazi-Zeit in der Todeszelle, die er sich redlich verdient hatte. Er war einer der tapfersten Anti-Faschisten, die es gab, und er überlebte diese Zelle. Havemann wurde von der sowjetischen Armee befreit und wurde ein Bonze in der DDR.

Er wurde zu einem guten Bonzen?

Mit Bonzen meine ich Funktionäre in einer Diktatur, die den Laden zum Laufen bringen. Und weil die meisten Funktionäre nur versuchen, ihre Macht zu erhalten, nenne ich sie eben abwertend Bonzen. Wenn es kommunistische Bonzen sind, dann stinken sie noch mehr als kapitalistische Bonzen, die ganz offen sagen: «Ja, ich bin reich, du Hund, und du nicht. Willst du sonst noch was?»

Sie sagten, dass sich Havemann die Zelle verdiente. Inwiefern?

Weil er als anständiger Mensch gegen die Nazis gekämpft hat.

Hat somit jeder anständige Mensch eine Zelle verdient?

Wenn er das Pech hat, in einer Diktatur zu leben, droht ihm das. Wenn er das Glück hat, in einer Demokratie zu leben, nicht. Das ist ein kleiner Unterschied. Havemann gehörte zu den alten Kommunisten, die erschüttert waren, als die Wahrheit über die Stalin-Verbrechen bekannt wurde. Havemann wagte den Bruch mit der DDR, weil er die Lügen und Ausreden satt hatte.

Sind solche Lügen nicht menschlich, um eine Ideologie zu schützen?

Jeder Massenmörder ist menschlich. In der deutschen Sprache wird das Wort menschlich für das Schlechteste und Beste benutzt. Havemann gehörte zu den menschlichen Menschen, die den Mut und die Scham hatten, die notwendig sind, den Bruch zu wagen. Und ich merkte als Jugendlicher auch bald, dass in der DDR nicht alles funktionierte und es viele Ungerechtigkeiten gab, die mich empörten.

Zum Beispiel?

Ganz banale Dinge! Ich komme ins Internat bei Schwerin in Mecklenburg mit meinen 16 Jahren und sehe, wie junge Leute auf der Strasse von einem uniformierten Terrortrupp angehalten werden, weil sie Jeans trugen. Unter dem Gespött der Passanten wurden diesen Jugendlichen die Hosen ausgezogen und einkassiert. Man nannte die Jeans «westlich-kapitalistische Klassenfeind-Hosen» und die jungen Leute kriegten eine halb zerlumpte Armee-Trainingshose aufgedrängt und wurden mit einem Tritt in den Hintern verabschiedet. Das missfiel mir. Damals dachte ich: Das ist nicht der Kommunismus, das ist nicht die Partei.

Was war es dann?

Das müssen ein paar alte Nazis sein, die sich hier rot angemalt und das Hakenkreuz weggelassen haben.

War es gängig, alles Schlechte in der DDR auf Ex-Nazis abzuwälzen?

Ich sah darin keinen Systemfehler, sondern einen Fehler einzelner Idioten.

Würden Sie heute sagen, dass es ein Systemfehler war?

Natürlich war es ein Systemfehler! Aber wenn man jung ist, will man das nicht wahrhaben. Im Grunde ist es wie mit der Liebe. Als ich Liebeskummer hatte, schrieb ich ein schönes Lied, worin es heisst: «Mein Herz weiss alles besser und glaubt die Wahrheit nicht.»

Also liebten Sie die Partei und den Kommunismus?

Natürlich war das eine Liebe. Man macht doch solche Sachen mit dem Herzen und nicht nur mit dem Gehirn.

Wann erkannten Sie endgültig, dass die DDR ein diktatorisches Regime war?

Als ich total verboten wurde. Das war 1965. Ich schrieb Lieder, für die jeder normale Mensch in der DDR in die Haftanstalt Bautzen kam. Mich haben sie nicht eingesperrt, weil ich inzwischen zu berühmt war.

Wieso wollten Sie nicht aus der DDR weg?

Weil dort meine vertrauten Feinde waren. Ich sah meine Lebensaufgabe darin, in nicht mehr ganz so kindlicher Art wie am Anfang, meinen Vater zu rächen. Für mich waren die Bonzen keine Kommunisten, sondern Verräter am Kommunismus. Also schlugen sie, aus meiner Sicht, meinen toten Vater jeden Tag nochmal tot.  Deswegen war ich so radikal. Viel radikaler als die Nazi-Kinder. Die mochten kräftiger und intelligenter sein, aber sie hatten nicht denselben moralischen Hintergrund. Diesen wiederum kann sich kein Kind aussuchen, den kriegt man automatisch geliefert. Auch heute noch.

Ihr wirklicher Bruch mit dem Kommunismus kam aber später, mit Ihrer Ausbürgerung 1976.

Etwas später. In der DDR war meine Position, dass ich der gute Kommunist bin, und die Herrschenden die schlechten Kommunisten sind. Damit langweilte ich mittlerweile mein Publikum und mich selbst. Anfang der Achtzigerjahre fuhr ich nach Paris und besuchte Manès Sperber. Sperber hatte bereits in den Dreissigerjahren mit dem Kommunismus gebrochen. Er merkte sofort, wo mein fauler, kommunistischer Backenzahn eiterte.

Wo eiterte er?

Im Oberkiefer, wo der Eiter langsam ins Gehirn sickerte. Sehr schlecht für einen Dichter. Sperber sagte zu mir, ich müsse den Mut haben, mit dem Kommunismus zu brechen. Er zog mir diesen Zahn, ohne dass es wehtat. Mit Narkose ins Herz und ins Gehirn: «Du bist ein grosser Dichter. Du schreibst die schönsten Lieder», log Sperber mit der Wahrheit, «aber du bist dümmer als deine Lieder.»

Weil Sie Kommunist waren?

Ja. «Du bleibst hinter deinen eigenen Werken zurück », sagte Sperber.

Was sind Sie heute?

Ich bin kein Kommunist. Nicht etwa, weil der Kommunismus in Wirklichkeit nicht so funktioniert hat. Das würde mich nicht abhalten. Ich bin kein Kommunist, weil ich inzwischen weiss, dass Ideologien, die ein soziales Paradies, in dem es keine Heuchelei, keine Unterdrückung und keine Klassenkämpfe mehr gibt, versprechen, der endgültige Weg in die Hölle sind!

Nicht alle sind sich im Klaren, dass Ideologien Wege in die Hölle sein können. Wie zum Beispiel der Krieg des IS. Der IS kämpft für eine Ideologie.

Das glaube ich nicht. Es ist kein reiner Religionskrieg. Es geht nebenbei immer noch um Macht, um Eitelkeit, um Anteil am produzierten Reichtum. Im Irak ist es bilderbuchartig einfach zu erkennen. Saddam Hussein, ein Sunnit, hatte in diesem Land, in dem es mehrheitlich Schiiten und im Norden Kurden gab, einen Apparat von Polizei, Militär und Geheimdienst aufgebaut. Selbstverständlich wurden die wichtigen Posten von Sunniten besetzt. Dann kamen die Amerikaner und stürzten diese ­bestialische Diktatur. Aus guten Gründen, wie ich finde. Weil sie klug sein wollten, setzten sie einen neuen Ministerpräsidenten ein, der früher ein unterdrückter Schiit war. Und was macht dieser Idiot? Das, was die anderen vor ihm gemacht haben.

Was hat er getan?

Er besetzte alle Machtpositionen mit seinen Leuten, den Schiiten, damit sie in den Genuss all dieser Privilegien kommen, die vorher Saddams Leute hatten. Es geht, wie bei den Schweinen, auch darum, wer zuerst an den Fresstrog kommt. Die Geheimdienstleute, Soldaten und Polizisten, die im alten Regime ein Wohlleben führten, waren plötzlich bedeutungslos. Und die IS-Leute sind diese ausgemusterten Mitglieder des Machtapparates von Saddam Hussein. Arbeiten haben die nie gelernt, also tun sie das, was sie immer getan haben. Töten.

Wie erklären Sie sich, dass studierte Leute aus Europa nach Syrien in den Jihad ziehen?

Weil sie aus irgendwelchen Gründen, kulturellen, sozialen, charakterlichen, unglücklich sind. Es gibt immer Leute, die solche Auswege suchen und dem eigenen Leben eine neue Bedeutung geben wollen. Unter all den Millionen Muslimen, die in Deutschland leben, wird es immer solche Leute geben, die in den Jihad ziehen wollen.

Kann so eine Minderheit ausreichen, um einen Umsturz durchzuführen?

Die Demokratie in der Bundesrepublik umstürzen? Von diesen Leuten? Nein.

Haben Sie solch ein Vertrauen in Europa und die Demokratie?

Nein. Ich sehe aber die realen Machtverhältnisse.

Wie sind die?

Diese radikalen Leute haben hier in Deutschland nur eine sehr geringe Macht. Dass sie durch die Strassen ziehen können und antijüdische Parolen brüllen, zeigt aber, dass die deutsche Gesellschaft durch den seit Jahrhunderten gewachsenen Antisemitismus vergiftet ist. Den gab es vor, während und auch nach der Nazi-Zeit. Die Menschen, die solche Parolen schreien, spekulieren, dass die Deutschen darauf positiv reagieren.

Und tun sie es?

Ja, sie tun es. Die allgemeine Stimmung in Deutschland gegen Israel ist, meiner Meinung nach, eine rote Warnlampe, die man ernst nehmen muss. Wie in der DDR. Dort war Antisemitismus verboten und wurde dann Anti-Zionismus genannt. Im Grunde genommen das Gleiche, nur mit zwei verschiedenen Etiketten.

Die Israel-Kritiker sagen, dass ihre Kritik berechtigt ist.

Natürlich. Sie leben auch in einer Gesellschaft, in der Antisemitismus verboten ist.

Wie beurteilen Sie die Entwicklungen, wenn Sie lesen, dass in Paris Molotow-Cocktails auf Synagogen geschmissen und Juden auf europäischen Strassen verprügelt werden?

Das ist so, als ob Sie mich fragen würden, wie ich die Nazi-Zeit beurteile. Ich fand es nicht so schön in der Nazi-Zeit.

Gibt es Parallelen?

Es sind dieselben historischen Tendenzen. Der Antisemitismus ist älter als Adolf Hitler und er lebt auch nach Adolf Hitler. Der Antisemitismus braucht keine Gründe und keine Argumente. Die verlogene Pose der Toleranz gegenüber Antisemiten ist überall auf der Welt zu finden. «Man muss für alles Verständnis haben», sagen die Leute, die gar nichts verstehen. Es gibt Dinge, die man verstehen kann, aber für die man kein Verständnis haben darf.

Was wäre so eine Sache?

Für die Terrororganisation Hamas zum Beispiel, die ihr eigenes Volk abschlachtet.

Wie sieht berechtigte und faire Kritik an Israel aus? Alle, die sagen, dass die Israelis den Iron-Dome ausschalten sollten, um eine «nicht militärische Lösung» zu finden, nennen ihre Kritik auch gerecht.

Wer das gerecht und berechtigt nennt, will eigentlich nur das Werk Adolf Hitlers vollenden. Es gibt faire Kritik. Wenn es um die Siedlungspolitik der jetzigen Regierung geht, zum Beispiel. Das sind Fragen, über die man sehr wohl streiten kann und über die in Israel auch bis aufs Blut gestritten wird. Aber unfair ist es, die Terrororganisation Hamas und das demokratische Israel gleichzusetzen und gleich zu behandeln. Ich rate den Leuten, sich mal die Charta der Hamas durchzulesen.

Und was halten Sie vom Siedlungsbau?

Ich halte den forcierten Siedlungsbau für falsch. Einer meiner Söhne widerspricht mir. Er sagt, die Menschen im Gazastreifen haben die Hamas gewählt. Sie negieren das Existenzrecht Israels und wollen alle Juden ausrotten, das steht in ihrer Charta. Also hat Israel nicht den geringsten Grund, auf die Interessen der Palästinenser Rücksicht zu nehmen. Ich kenne einige Leute in Israel, die diese Meinung vertreten und ich kann ihnen leider nicht mit guten Argumenten widersprechen, denn es stimmt, das ist das erklärte Ziel der Hamas. Wie soll man sich gegenüber jemanden verhalten, der nur das Interesse verfolgt, dich umzubringen? Und was macht man mit diesen jungen Menschen, die Sie erwähnten, die in den Jihad ziehen, um irgendwelche Heldentaten zu vollbringen? Woher haben die ihre – mehr oder weniger wahnsinnigen – Konstruktionen und Begründungen?

Woher?

Meine Grossmutter sagte immer: «Durch Klugheit wird man dumm.» Das war ein sehr weiser Satz. Es bedeutet nämlich, dass die Leute, die ein wenig cleverer im Kopf sind, sehr gefährdet sind, weil sie sich selber schneller und besser belügen können. Das können die einfachen Leute nicht so gut. Deswegen sind die Gebildeten und Intellektuellen gefährdeter, in den Jihad nach Syrien zu ziehen.

Wieso genau?

Weil sie aus Scheisse Frikadellen machen können. Sie können sich alles zurechtbiegen, wie es ihnen passt. Das ist der Fluch der Intellektuellen. Es ist eine Berufskrankheit der Bildungsnahen. Sie können sich elegant und wirkungsvoll selbst betrügen.

Zuerst erschienen in der Basler Zetung vom 6.11.14

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Chris Deister / 08.11.2014

Biermann ist (Halb-)Jude? Sieh’ an. Mir kam er immer vor wie ein aus der Zeit gefallener Nachfahr der deutschen Romantik (à la Clemens Brentano oder den Arnims). Wie auch immer: jeder, der den zeitgenössischen NWO- Wahn nicht mitmacht ist willkommen!

Martin Wessner / 08.11.2014

“Der Fluch der Intellektuellen: Sie machen aus Scheisse Frikadellen.” LoL. Hahahaha. :o) Großartig! Diese glasklare Erkenntnis hätte selbst ein Akif Pirincci nicht treffender und kiez-poetischer auf den Punkt bringen können. Ein doppeltes Hoch auf den altersweisen Wolf Biermann!

wolf doleys / 07.11.2014

Sehr lesenswert. Eine Lektion in Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich in einer persönlichen Biographie spiegelt. Dazu auch ein paar interessante Bemerkungen zu Intellektuellen. Was die Sympathie der 68er für die Fatah-Terroristen betrifft, glaube ich nicht, daß es sich um Antisemitismus handelt. Die linke schwedische Regierung hat gerade das Möchte-Gern-Gebilde in der Phantasie der gewaltbereiten Fatah-Bande als Staat anerkannt - das sind linke Flausen, vermute ich, wie sie auch die Biermann-Eltern im Kopf hatten. Der kommunistische Widerstand gegen die Nazis war wenig überzeugend, wollten die Kommunisten doch nur eine andere, ebenso schlimme, stalinistische Diktatur errichten.

Dirk Ahlbrecht / 07.11.2014

Ein sehr berührendes Interview. Danke dafür.

Ulrich Dinser / 07.11.2014

Ein beeindruckendes, toll geführtes Interview mit einem lebensklugen Biermann, das zusätzlich durch seinen Tiefgang besticht.

Morgan von Müller / 07.11.2014

Diktaturen, ideologischer oder religiöser Couleur, haben die charmante Anziehungskraft, den Untertanen das Denken abzunehmen. Denken ist anstrengender als das Nachplappern ideologischen oder ganz besonders religiösem Schwachsinn. Das sind u.a. Gründe einer Reihe von Jugendlichen, den IS-Terroristen zu folgen. Jugendliche haben Visionen; der satte deutsche Staat (und vermutlich auch die Europäische Union) nicht. Das habe ich auch aus dem Interview “gesaugt”.

Gerd Wöbken / 07.11.2014

“...Weil sie aus Scheisse Frikadellen machen können. Sie können sich alles zurechtbiegen, wie es ihnen passt. Das ist der Fluch der Intellektuellen. Es ist eine Berufskrankheit der Bildungsnahen. Sie können sich elegant und wirkungsvoll selbst betrügen….” Für solche Sätze, (und für vieles andere), muss man ihn lieben.

Matthias Pflipsen / 07.11.2014

Biermann ist einfach ein wandelnder Tucholsky. Es ist so furchtbar selten geworden, daß die Substanz einer Verpackung qualititativ in Nichts nachsteht. Ein Gespräch für Genießer. Vielen Dank fürs Weiterreichen, Herr Broder!

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