Damit von vornherein klar ist, worüber ich hier rede: Attitüde ist laut Duden eine bewusst eingenommene [gekünstelte] körperliche Haltung, affektiert wirkende Geste. Als Kind habe ich meine alleinerziehende Mutter hin und wieder zu Kaffeekränzchen begleitet. Das einzige, was mir davon in Erinnerung geblieben ist, war die Gewohnheit der Damen, beim Anheben der Kaffee- oder Teetasse, den kleinen Finger abzuspreizen – eine Attitüde, die vollkommen aus der Mode gekommen ist. Dafür gibt es andere, von denen ich ein paar hier thematisieren möchte. Sie sind allesamt harmlos, eröffnen aber trotzdem gewisse Einblicke in unser menschliches Wesen (oder wie immer man das nennen will).
Eine Angewohnheit, die mir schon seit Jahrzehnten auffällt, überwiegend bei Männern, ist der hochgestellte Mantelkragen. Klar, wenn es stürmt oder regnet, schlagen wir den Kragen hoch, um zu vermeiden, dass wir einen steifen Nacken kriegen. Aber bei ruhigem, gar sonnigem Wetter ist diese Gefahr ja nun wirklich nicht gegeben. Und trotzdem der hochgestellte Kragen. Kürzlich sah ich Robert Redford in einem schon etwas betagteren Film, in dem er sogar in der Wohnung den Kragen seines Staubmantels hochgeschlagen hatte. Und da wusste ich plötzlich warum: Es sieht einfach irgendwie besser aus, nicht so brav und spießig. Keine sehr überzeugende Erklärung allerdings. Aber dann hatte ich die Erleuchtung: Bei irgendeinem dieser so genannten Mantel- und Degen-Filme, die man gelegentlich noch zu sehen bekommt (meistens mit Errol Flynn, falls den noch jemand kennt), fiel mir auf, dass der Kragen des Mantels, der eher ein Umhang ist, stets hochgestellt ist und damit offensichtlich zum abenteuerlichen Aussehen des Helden beiträgt. Das ist es: die Suche nach dem Abenteuer, die natürlich vergeblich ist, aber wohl tief in uns (Männern) steckt.
Seither geht es mir wie Faust, der laut Mephisto mit dem Hexentrank im Leibe bald Helenen (die schöne Helena) in jedem Weibe sehen werde: Ich sehe automatisch (ohne irgendein Getränk) Errol Flynn oder Zorro in jedem Mann mit hochgestelltem Mantelkragen. Klar, irgendwie albern. Aber für mich Quelle eines heimlichen Amüsements, dessen Ursache niemand erkennt, zumal ich mich in entsprechenden Situationen stets bemühe, ein ernstes, völlig unbeteiligtes Gesicht zu machen. Das Vergnügen wird noch gesteigert, wenn Zorro aus einem SUV steigt, den Mantel vom Rücksitz nimmt und sogleich den Kragen hochschlägt. Jetzt fehlt nur noch der Gegner! Aber der dürfte sich heutzutage ja schnell finden lassen, wo wir so dicht aufeinander hocken. Und dem begegnet man dann mit absoluter Coolness.
Sonnenbrillen im Haar
Zuweilen trifft man auch auf Zeitgenossen ohne Mantel, die den Kragen ihres Sakkos hochgeschlagen haben. Aber das erzeugt bei mir nicht dieses stille Vergnügen. Diese unerklärliche Differenzierung muss ich bei der nächsten Sitzung mal mit meinem Therapeuten besprechen; denn natürlich haben nicht all die Errol Flynns eine Meise, sondern ich.
Neueren Datums scheint mir dagegen die Attitüde zu sein, die Sonnenbrille nicht auf der Nase, sondern im Haar zu tragen. Diese Angewohnheit trifft man vor allem bei jungen Mädchen, aber auch bei gestandenen Frauen an. Bei einem Mann wirkt sie „unmännlich“: „In diesem Fall ist die dunkle Brille nichts Anderes als ein modisches, aber fehlgeleitetes Statement. Und er ist ein Kerl mit nutzlosem Klimbim auf dem Kopf.“ Ich weiß offen gestanden nicht, was der Inhalt eines solchen „Statements“ sein sollte. Aber im Netz ist trotzdem eine regelrechte Kontroverse dazu im Gange.
Auch die Modeseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die immer noch selten ohne das Attribut „seriös“ erwähnt wird, befasst sich ganz ernsthaft mit diesem Thema. Unter der Überschrift „Darf man die Sonnenbrille ins Haar stecken?“ liest man: „In vielen (sic) Ratgebern steht, dass es bei Frauen als angemessen empfunden wird, solange man das nicht im geschäftlichen Umfeld macht. Ich würde Frauen mit langen Haaren davon abraten, weil gerade bei Metallrahmen sich die Haare schnell verknoten oder gar brechen. Außerdem leiert der Rahmen stark aus. Es gibt eine Ausnahme, die ich in Ordnung finde: beim Sport. Wer Mountainbike fährt, wandert oder klettert und dabei Sportbrillen trägt, muss auf Situationen schnell reagieren können und die Brille ins Haar schieben oder vielleicht sogar nur auf die Stirn. Im Alltag ist das überhaupt nicht angemessen, aber in einer Sportsituation schon. Denn da geht es ja hauptsächlich um Funktionalität.“
So nüchtern wird dieses hochkomplexe Thema nicht überall abgehandelt. Dabei begegnet man „Argumenten“ wie „echt schick“, „modisch“, „stylish“, „cool“ (darf auf keinen Fall fehlen), „sieht gut/toll aus“, „cool und sportlich“, „sexy“ (hm). Vermisst habe ich nur „trendy“, aber wahrscheinlich habe ich das nur übersehen.
Die Zeit der Pudelmützen-Trendsetter
Natürlich ist man schnell dabei, die betreffenden Personen in der gesellschaftlichen Hierarchie (gibt es die überhaupt?) ziemlich weit unten einzuordnen. Doch dann besuchte ich eines Abends eine Veranstaltung, ich sage bewusst nicht wo, weil Sie die Dame dann mühelos identifizieren könnten, und staunte nicht schlecht, als die Chefin der veranstaltenden Organisation ans Pult trat, um die schätzungsweise 200 Gäste zu begrüßen – mit Sonnenbrille im üppigen Haar (20 Uhr, im Saal), Alter 55 Jahre. Sah echt cool aus (was ich wirklich dachte, verrate ich hier nicht).
Bleiben noch die Mützen. Irgendwann ist irgendjemand, ich glaube, es war Eminem, auf die Idee gekommen, im Sommer eine Pudelmütze zu tragen. Gewiss, der Junge hatte eine „turbulent childhood“, aber dass sich das so auswirkt. Egal, vielleicht war es auch ganz anders. Auf jeden Fall läuft heute ohne Mütze wenig bis gar nichts. Auch hier hat sich ein „seriöses“ Blatt wie das Magazin der „Süddeutschen“ des Themas angenommen und ein Marc Baumann fragt „Kann man auch im Sommer Mütze tragen?“ Klar, Marc, man kann (fast) alles, die Frage ist nur, ob man sollte. Die Antwort lautet natürlich, wer hätte das gedacht, „ja“. Hier die „Begründung“: „Ich verspüre Genugtuung beim Schreiben dieser Zeilen. Warum? Weil ich seit Jahren Mützen trage in der Redaktion, also im Büro (sic), genau: drinnen! Oft sogar im Sommer. Genauso lange musste ich mir deswegen Sprüche von den Kollegen anhören, ich habe sogar den Spitznamen ‚Mütze‘ bekommen. Und dann, letzte Woche, kommt die Moderedakteurin in mein Zimmer und sagt: ‚Marc, kannst du einen Text schreiben über Mützen, die man im Sommer trägt? Bei den großen Modenschauen ist das ein Trend.‘ Ach, sieh an. Das Mützen-drinnen-Tragen habe ich nicht erfunden, aber ich trage sie lange genug, um mich jetzt als Trendsetter fühlen zu dürfen.“
Ach, wie gerne wäre ich das auch mal, ein Trendsetter. Aber da wird nichts draus. Ich hatte mal die Chance, als ich als Student dicke Wollsocken zu Sandalen trug. Aber die spöttischen Blicke einer Bekannten haben mich dann doch veranlasst, diesen Weg zu verlassen. Heute bedaure ich das, aber das hilft jetzt auch nichts mehr.
Die Richtung der Basecaps
Außer Pudelmützen stehen noch Baseballcaps und Kapuzenpullis hoch im Kurs, ebenfalls unabhängig von Jahreszeit und Wetter. Dabei hat sich aus unerfindlichen Gründen die Marotte durchgesetzt, die Mützen mit dem Schirm nach hinten zu tragen (besonders Verwegene schieben ihn auch zur Seite). „Studien des Ig-Nobelpreis-Trägers John Trinkaus ergaben Mitte der 1990er Jahre, dass zwischen 10 Prozent und 40 Prozent der beobachteten Studenten ihre Baseballcaps verkehrt herum trugen.“ (Wikipedia) Jetzt bin ich sehr gespannt, ob die allgemeine Trump-Aversion auch auf den Absatz von Basecaps durchschlagen wird, die der amerikanische Präsident ja bevorzugt trägt (so wie Helmut Schmidt einst die Prinz-Heinrich-Mütze).
Dieser kleine Überblick über Attitüden unserer Gegenwartskultur wäre nicht vollständig (er ist es natürlich auch sonst nicht), wenn die Coffee-to-go-Manie unerwähnt bliebe. Ich habe mich oft gefragt, wie es evolutionär zu erklären ist, dass die Menschheit solange ohne diese moderne Errungenschaft überleben konnte. Und jedem Kritiker hält Violetta Simon in der „Süddeutschen“ entgegen: „Coffee to go zu verfluchen, ist etwa so originell, wie über den Stau zu schimpfen, in dem man steckt.“ Und weil diese Art von Originalität kaum Anhänger findet, werden in Deutschland jährlich rund 2,8 Milliarden Einweg-Kaffeebecher verbraucht, was einer Abfallmenge von 40.000 Tonnen entspricht
Und zum Schluss noch eine Attitüde, die mir eine Zeitlang Rätsel aufgab: die freiwillig rasierte männliche Glatze. Während verzweifelte Männer auf alle möglichen Werbesprüche reinfielen, um wieder zu vollem Haar zu gelangen, und am Ende sogar zum Toupet griffen, schnappten sich andere Schere und Messer und rasierten sich den Kopf kahl. Als ich das zum ersten Mal richtig wahrnahm, war ich fassungslos. Eine unserer Töchter hatte zwar auch mal vorübergehend eine Glatze, aber nur weil sie sich auf andere Weise nicht der Dreadlocks (Filzlocken) entledigen konnte, die sie monatelang getragen hatte (sah übrigens gar nicht schlecht aus, die Glatze, was ich aber wohlweislich für mich behielt).
Ja und dann stieß ich auf diese Erklärung: „Männer mit Glatze werden laut einer Studie (schon wieder, s.o.) der University of Pennsylvania von ihrer Umwelt häufig als dominant und erfolgreich eingeschätzt. ... Laut Ronald Helms, Psychologe an der Universität Saarland wirken Männer ohne Haar nicht nur mächtiger, sondern auch intelligenter.“ Donnerwetter! Aber Achtung: „Wenn Glatze, dann richtig. Denn Männer mit Halbglatze werden oft als unattraktiv und schwach empfunden.“ Offenbar ist das noch nicht bis zu Martin Schulz bzw. der Parteizentrale im Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg durchgedrungen. Für Schwaben dürfte es allerdings keine Überraschung sein, steht doch der „Halbdackel“ für ein noch vernichtenderes Urteil als der „Dackel“ (wer’s genauer wissen will lese bei Wikipedia das Stichwort „Halbdackel“).
Sollten unermüdliche Achse-Leserinnen und -Leser nur deshalb bis hierher durchgehalten haben, weil sie auf ein Wort zum allfälligen Smartphone-Gebrauch warten, so bedaure ich aufrichtig, sie enttäuschen zu müssen: Das ist so wenig eine Attitüde wie das Autofahren. Im April 2016 gab es in Deutschland rund 49 Millionen Smartphone-Nutzer. Davon waren 51 Prozent weiblichen und 49 Prozent männlichen Geschlechts. Für das Jahr 2019 werden 55,5 Millionen Nutzer prognostiziert. Der PKW-Bestand betrug zum 1. Januar 2017 laut KBA-Statistik 45,8 Millionen. Wenn ich trotz des ständigen Feinstaubalarms in Stuttgart für die (seltene) Fahrt in die City das Auto benutze, so nur deshalb, weil ich mich schäme, in der U-Bahn zu der immer weiter abnehmenden Minderheit zu gehören, die nicht wie gebannt auf ihr Smartphone-Display, sondern stumpfsinnig ins Leere starrt. Eine zum Aussterben verdammte Spezies.
Eine besondere Attitüde ist die Koketterie, die sich in so vielfältiger Weise äußert, dass ich ihr demnächst einen eigenen Beitrag widme.