Cora Stephan / 09.09.2012 / 13:16 / 0 / Seite ausdrucken

Jedem sein Trauma

Erleidet jeder beschnittene Knabe ein Trauma? Wir wissen es nicht. Die Diskussion darüber aber hatte etwas Obsessives, Voyeuristisches. Nicht nur, was die überbordenden Phantasien der Empörten betrifft. Auch viele, die ihren Respekt vor den Traditionen und Riten anderer Kulturen und Religionen bezeugen wollten (obwohl es doch zahllose Traditionen gibt, von denen wir uns dankend verabschiedet haben), widmeten sich mit Hingabe den blutigen Details. Der Empörung trat die Faszination an die Seite. Es ist, vermute ich mal, die Faszination für eine Kultur, in der Zu- und Zusammengehörigkeit einen körperlichen Ausdruck hat. Nur wer beschnitten ist, gehört zu uns, heißt es auf jüdischer ebenso wie auf muslimischer Seite. Fehlt ein solches Zeichen der Zugehörigkeit in der hellausgeleuchteten Moderne? Eines, das durch Schmerz verstärkt worden ist? Das also viel mit dem zu tun hat, was wir zu ächten gelernt haben – mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, mit Gewalt also?

Wir leben in einem überaus friedlichen Land – und dafür kann man nicht dankbar genug sein. Die erhitzten Debatten über die Beschneidung von Knaben und das Ohrlochstechen bei Mädchen zeigen, wie empfindlich man hierzulande ist bei jedem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Kein Kind soll Schaden nehmen, jeder Zwang, jeder gewaltsame Eingriff soll ihm erspart bleiben. Denn die psychischen Folgen könnten es für ein vermutlich langes Leben zeichnen. Das Schreckenswort der Zeit lautet Trauma.

So barbarisch manche Riten, Rituale, Sitten und Gebräuche auch sind und so froh man darüber sein darf, dass das meiste davon Kindern hierzulande erspart bleibt - nach unseren heutigen Kriterien hätte die gesamte Menschheit bis in unsere glücklichen Tage hinein ein einzig Volk von Traumaopfern gewesen sein müssen. Erst heute gehört Gewalt nicht mehr zur fast alltäglichen Erfahrung fast jedes Menschen. Kinder früherer Zeiten (und anderer Kulturen) wurden vernachlässigt, missbraucht, leisteten Schwerarbeit, litten Hunger, starben wie die Fliegen. Die größten Genies der Menschheit wussten, als sie Kinder waren, nichts von Liebe, Bildung und Förderung, von all den Dingen, von denen wir glauben, dass sie für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung unabdingbar sind. Zwei kleine Löcher in den Ohrläppchen sollen eine Dreijährige traumatisiert haben? Die Kinder der schlesischen Weber hätten sich krumm und buckelig gelacht.

Doch obwohl tiefster Frieden herrscht, ist man hierzulande von Gewalt geradezu besessen. Wem die globale Nachrichtenlage zum Gruseln nicht reicht, zieht sich seinen täglichen Krimi rein, ob im Fernsehen oder als Buch, je blutrünstiger, desto besser - Ersatzerfahrung, die auch der sensibelste Vegetarier gern mitnimmt.

Gewalt ist präsent, auch wenn sie fehlt. Wer keine physischen Rohheiten benennen kann, spricht eben von der unsichtbaren, der psychischen Gewalt, und ob die nicht eigentlich viel schlimmer sei. Die partytalktaugliche Gewaltskala ist nach oben offen bis zur Milchstraße. Denn während es gewiss furchtbar ist, ein Opfer zu sein, ist es mindestens entlastend, sich als Opfer zu fühlen - es enthebt der Verantwortung fürs eigene Schicksal. Irgendeine traumatisierende Erfahrung findet sich immer.

Erleidet jeder beschnittene Knabe ein Trauma? Wir wissen es nicht. Die Diskussion darüber aber hatte etwas Obsessives, Voyeuristisches. Nicht nur, was die überbordenden Phantasien der Empörten betrifft. Auch viele, die ihren Respekt vor den Traditionen und Riten anderer Kulturen und Religionen bezeugen wollten (obwohl es doch zahllose Traditionen gibt, von denen wir uns dankend verabschiedet haben), widmeten sich mit Hingabe den blutigen Details. Der Empörung trat die Faszination an die Seite. Es ist, vermute ich mal, die Faszination für eine Kultur, in der Zu- und Zusammengehörigkeit einen körperlichen Ausdruck hat. Nur wer beschnitten ist, gehört zu uns, heißt es auf jüdischer ebenso wie auf muslimischer Seite. Fehlt ein solches Zeichen der Zugehörigkeit in der hellausgeleuchteten Moderne? Eines, das durch Schmerz verstärkt worden ist? Das also viel mit dem zu tun hat, was wir zu ächten gelernt haben – mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, mit Gewalt also?

Anders gefragt: Was unterscheidet die äthiopischen Mursafrauen, die sich in einer extrem langwierigen und schmerzhaften Prozedur tellergroße Lippen formen, von jungen Frauen, die sich mit Lippenpiercings oder Silikonbusen schöner finden? Was die mühsam erworbenen Riesenohrläppchen auf Borneo von den Tätowierungen, die heute schichtübergreifend Mode sind? Insbesondere junge Menschen nehmen Höllenqualen auf sich, um dazuzugehören - zu welcher Peergroup mit welchen Ritualen auch immer. Man muss nicht weit suchen, um selbstzugefügte Verletzungen zu finden, die man Mode nennen könnte, wenn ihre Herkunft aus Älterem nicht so sichtbar wäre. Denn um Schönheit, um Ästhetik allein geht es hier wie dort nicht.

Die dunklen Seiten von Initiationsritualen kann jeder im Schlaf aufzählen. Und wenig ist hässlicher als der Satz unserer Altvorderen: “Was dich nicht umbringt, macht dich stark“. Doch genau das muss jedes Kind irgendwann lernen: dass man Streit, Schmerz, Konflikt, Verletzung überleben kann. Denn das Leben ist selten ohne zu haben. Statt dessen suggeriert das Schreckenswort „Trauma“, dass aus jeder Zumutung ein Folgeschaden erwachsen könnte. Überbehütete und risikoscheue Wesen aber machen keine Erfahrungen. Die ängstliche Vermeidung vom allem, was als “Gewalt” zu deuten sein könnte, erschwert die Erkenntnis, dass es in der Welt nicht nur friedlich und politisch korrekt zugeht. Man muss sich als Heranwachsender auch wehren können.

Der Wunsch, Kindern ihre körperliche Unversehrtheit so lange wie möglich zu erhalten, ehrt. Die Angst vor der „Traumatisierung“ aber ist wirklichkeits- und lebensfremd. Und der Respekt vor religiösen Traditionen heißt nicht, dass sie unantastbar wären. Die obsessive Diskussion über all das aber zeigt, dass hier etwas aus den Tiefenschichten hochsteigt, das nicht verschwindet, wenn man es verdrängt.

Gewalt spielte in der Menschheitsgeschichte immer wieder die Rolle eines Schlüsselreizes: Initiationsriten waren (und sind bei anderen Völkern) nicht selten außerordentlich blutig und grausam. Gewalt ist ein mächtiger Motor der Erinnerung, denn Schmerz verstärkt sie. „Erinnere dich, wer du bist und zu wem du gehörst.”

Der große Walter Burkert analysierte in seinem “Homo Necans” (Der tötende Mensch) die gemeinschaftsstiftende Funktion des Blutopfers. René Girard führt Religion auf ein Menschenopfer zurück, das des Sündenbocks, mit dem die Gemeinschaft ihre inneren Spannungen regelrecht austreibt. Auch die rituelle Schlacht als ein kollektives Menschenopfer hat noch lange diese Funktion erahnen lassen: die Gewalt aus dem Inneren der Gesellschaft durch ihre Stellvertreter nach außen zu tragen. Michael Wolffsohn hat jüngst an diesen Kontext erinnert: “Der Urgedanke des Menschenopfers liegt auch der Beschneidung zugrunde: sie ist der Ersatz für das ‘Ganzkörperopfer’.”
Das Archaische ist modernen Gesellschaften weit weniger fremd, als ihre aufgeklärten Mitglieder annehmen. In der Obsession, mit der man sich mit Gewalt beschäftigt, kehrt das Verdrängte zurück. Mit Macht.

Zuerst erschienen in Die Welt vom 6. 9. 2012.
Siehe auch:
bLogisch

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