Zu den Modewörtern des politischen Jargons gehören neuerdings Zeitstrang, Zeitschiene und Zeitachse. Wer irgend etwas über die Zukunft sagen und zugleich andeuten möchte, daß er den Weg dorthin genau kennt, der redet in Vektoren. Gemeint ist aber immer nur die simple Tatsache, daß die Zeit bloß eine Richtung hat. Wir werden älter und nicht jünger. Das ist – je nach Betrachtungsweise – ein Fluch oder ein Segen. Während Kinder immer älter sein wollen, wollen ältere Menschen lieber jünger sein – meistens jedenfalls. Irgendwo dazwischen liegt der Umkehrpunkt des Wünschens, der aber völlig irrelevant ist, weil, wie gesagt, die Zeit nur eine Richtung kennt, sodaß man sagen kann: Jugendlichkeit gehört zu den ganz wenigen Problemen, die sich irgendwann von selbst beheben.
Aber wann ist irgendwann? Die hundertjährige Frau Milz ist jedenfalls, wenn man einem entsprechenden Zeitungsbericht glauben darf, unlängst nach kurzem Aufenthalt in einem Altersheim im Rheinland wieder ausgezogen, weil sie verärgert feststellte, daß da nur alte Leute waren – und die wollte sie nicht ständig sehen. Es gibt ja nicht nur generell immer mehr alte Menschen, sondern auch immer mehr Alte, die noch so gut drauf sind, daß sie sich nicht als Alte verstehen und wahrnehmen wollen. Darin werden sie von der gesamten sozialpsychologischen Apparatur des öffentlichen Lebens voll unterstützt: In der Werbung, auf dem Eitelkeiten-Markt, in sämtlichen gesellschaftlichen Vitrinen sind immer noch die jungen Menschen tonangebend – und das, obwohl die Grau- und Weißhaarigen mit bevölkerungsmathematischer Sicherheit drauf und dran sind, die Oberhand zu gewinnen.
Es gibt zwar mittlerweile viele Versuche, die Alten als solche anzusprechen – politisch, publizistisch und reklametechnisch –, doch auch das geschieht in der Regel mit einer leichten Verjüngung im bildlichen Bereich. Die Wahrheit ist nämlich: richtig alt zu sein macht immer ein bißchen Angst. Es ist die Angst vor dem sich auf der Zeitschiene unerbittlich nähernden Ende.
Daß eine krawallige Hundertjährige nicht ständig den Verfall ihrer Mitmenschen vor Augen sehen will, hat etwas Rührend-Komisches, aber es ist völlig verständlich. Woody Allen sagte, er möchte doch nicht Mitglied in einem Club werden, der solche Leute wie ihn aufnimmt. Das gilt natürlich auch für Altersheime, diese trostlosen Agenturen gesellschaftlicher Entmischung.