Emma Finkelstein / 13.11.2012 / 21:04 / 0 / Seite ausdrucken

Israel für Anfänger 6: Kritische Patrioten

Stimmt man in einem Attentatsland eigentlich ohne zu Zögern zu, auf eine fremde Tasche aufzupassen? Zu Recherchezwecken radele ich morgens an den Strand und kann meine Sachen problemlos bei der Liegenachbarin deponieren. Das Meer ist kristallklar und warm, die Sonne scheint und Ende Oktober misst man 28 Grad. Israel als Wellnessoase.

Am Nachmittag treffe ich mich mit Orly und bitte sie, mir einen Freund für den Abend zu vermitteln, irgendetwas linkes, womöglich mit Aktivistentouch. Wenn ich schon selbst bei der Abreise für eine Aktivistin gehalten wurde, dann möchte ich zumindest meine potentiellen Mitstreiter kennen lernen. Orly erzählt, mit ihrem ehemaligen Freund Ben, einem englischen Juden und amnesty international Frontkämpfer, auch den Kontakt zur Szene verloren zu haben. Jetzt könne sie nur noch mit Sharon aufwarten, der sei zwar links und schwul, aber kein Demonstrant sondern Journalist bei der Merez. Ich stimme einem abendlichen Cocktaildate zu und höre zum ersten Mal von Orly etwas Politisches. Im richtigen Leben ist sie Künstlerin, gestaltet tagsüber für das Nationaltheater und diverse TV-Serien die Kulissen und schafft anschließend eigene Skulpturen – und zwar so erfolgreich, dass sie unter anderem schon im August diesen Jahres eine Ausstellung in Berlin hatte und im Dezember ein dreimonatiges Stipendium in Düsseldorf antritt. „Ich kann mit Dir stundenlang über die neuesten Filme und Ausstellung reden, aber von Politik habe ich keine Ahnung“, sagt sie jetzt. „Sharon meint immer, dass sei in einem Land wie Israel auch gesünder, sonst rege man sich nur auf. Mir selbst ist es aber manchmal peinlich, wie selbstverständlich ich zum Beispiel zur Armee gegangen bin. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, irgendetwas von Krankheit oder baldiger Heirat zu erzählen“, Hinweise, die zumindest bei Frauen meist zur Freistellung vom Dienst führen. „Stattdessen war ich total Gehirn gewaschen, habe gedacht, alles was Israel macht ist gut und richtig – und bin begeistert mitgelaufen.“ Bei der Armee sei ihnen beigebracht worden, ihre Waffe zu lieben, „das hat bei mir gut funktioniert, ich habe sie sogar mit ins Bett genommen und hatte morgens manchmal einen dicken Abdruck vom Lauf im Gesicht“.

Erst durch ihren Ex-Freund habe sie angefangen, ein wenig über ihr Land nachzudenken. Teilte jedoch die rigide Kritik Bens nicht. „Er kam aus seinem warmen, gemütlichen Großbritannien hierher, und erzählte uns, was wir angeblich alles falsch machen und ändern sollten. Selbst konnte er jeder Zeit wieder verschwinden und machte das dann ja auch. Ben hat nie verstanden, dass das hier unser zu Hause ist und wir keinen anderen Platz haben!“ Nur glücklich mache Israel zwar nicht, so ist Orly selbst zum Beispiel genervt davon, seltsam angeschaut zu werden, weil sie mit 35 Jahren weder verheiratet ist, noch Kinder hat. „Und das ist hier Pflichtprogramm!“ Dennoch sei Israel eben ihre Heimat „und wir haben keine andere, wir müssen sie verteidigen“. 

Abends holt mich Sharon ab Richtung nahe gelegene Bar. Am Eingang eine Klingel – wegen möglicher Rauchkontrollen. Als wir reingehen, riecht es nicht nur nach Zigaretten, sondern auch nach Dope. Aschenbecher gibt es allerdings nicht, stattdessen formt sich jeder bei Bedarf aus einem Bieruntersetzer sein eigenes Kippengrab. Wenn Kontrolleure kämen, könne der Bar so niemand nachweisen, dass sie Rauchen dulde, meint Sharon. Logisch.
Wir setzen uns und bekommen sofort Besuch von einer riesigen Dogge. Sie beginnt, trotz intensiver Abwehrversuche, mich, meine Tasche und den Platz vor mir abzulecken. „Israelische Tier sind wie ihre Besitzer – very touching“, bemerkt Sharon und versucht den desinteressiert an der Bar lehnenden Hundebesitzer davon zu überzeugen, sein Tierchen zumindest von meinem frisch servierten „Sex on the Beach“ abzuhalten. Nebenbei erklärt er mir die Grundzüge israelischer Beziehungsgesetzgebung. So werden Ehe und Scheidung nach wie vor eisern in orthodoxer Hand gehalten – eine säkulare Eheschließung, für die man mal eben aufs Amt um die Ecke geht, kennt Israel nicht. Dafür allerdings eine sehr moderne Anerkennung von Lebensgemeinschaften. „Wenn jemand stirbt und der Hinterbliebene mit Zeugen nachweisen kann, dass er der Lebenspartner war, erbt er genauso, als wären sie verheiratet gewesen.“ Auch Homosexuelle hätten im Großen und Ganzen die gleichen Rechte wie Heteropaare; eine der wenigen Ausnahmen sei die Leihmutterschaft, die schwule Paare nicht nutzen können.

Auf den offiziellen Veranstaltungen läge jedoch die Hand der Orthodoxie – und würde sich auch gerne öffnen. „Als mein Vater gestorben ist, wollten wir ihn gerne in seiner Heimatgemeinde begraben lassen, und nicht an seinem letzten Wohnort. Der Rabbiner hat gemeint, ‚Kein Problem – 20.000 Schekel.’“ Das entspricht 4000 Euro und war als Handgeld fällig, ohne Rechnung und auch ohne Gegenleistung, schließlich wurden Zeremonie und Grab zusätzlich bezahlt. „Und die muss in Israel unter orthodoxem Ritus stattfinden. Mir haben sie zum Beispiel ungefragt das Hemd zerrissen.“ Die meisten Israelis seien säkular und hassten die Ultras – ihre Macht werde jedoch nicht beschnitten. „Sie sind korrupt, leben vom Staatsgeld, gehen nicht zum Militär und reisen zum Teil sogar in den Iran, um dort zu erzählen, dass Israel nicht existieren dürfe, schließlich sei der Messias ja noch nicht gekommen.“ Daneben bekämen sie auch mehr Kinder, als andere Israelis, nähmen also mit der Zeit immer mehr Platz ein, da sich der Nachwuchs nur gelegentlich gegen die Vorstellungen der Eltern entscheide. „Ich gehe davon aus, dass Israel irgendwann mal ein religiöser Staat wird, so wie der Iran.“

Demokratisch ginge es schon jetzt nicht zu. „Wenn man sich zum Beispiel die pro Kopf Ausgaben des Staates für Bildung anschaut, bekommen die Siedler am meisten. Danach kommen die jüdischen Schulen im Mainland, als letztes die arabischen Gemeinden.“ Überhaupt die Araber – etwa zwanzig Prozent der Israelis sind Araber „werden aber gar nicht als solche wahrgenommen. An den Hohen Jüdischen Feiertagen heißt es in den Medien zum Beispiel, ‚das ganze Land feiert’. Muslimische Festtage sind dagegen nicht mal Feiertage – für die muss extra Urlaub genommen werden, und es kommt auf den Arbeitgeber an, ob der dann auch gewährt wird.“

Eines Tages werden sich Israels Araber erheben, ist Sharon überzeugt. „Bislang sind sie immer ruhig gewesen. Auch alle Anschläge wurden von Palästinensern begangen, nicht von israelischen Arabern, trotzdem werden sie nicht als Menschen wahrgenommen. Man sagt zum Beispiel ‚die verstehen nur Arabisch’ und meint damit Gewalt.“  Wenn die Israelis irgendwann wirklich Frieden wollten, müssten sie endlich die Siedlungen räumen, mehr in die arabische Bildung investieren und aufhören, die eigenen Soldaten als Märtyrer zu stilisieren. „Es geht um die Definition von Terror – warum ist eine Bombe in Tel Aviv Terror, in Gaza aber nicht? Wir nutzen ständig den Holocaust als Rechtfertigung für alles, tanzen auf dem Blut meiner Großeltern und leben unter Gestapo Angst – der Panik, dass alles hier mal vorbei sein könnte, und wir alle ermordet werden. Damit wird alles gerechtfertigt, und wer Israels Politik kritisiert als Antisemit hingestellt. Dabei nehmen wir uns permanent viel zu wichtig. Nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung sind Juden!“

Und die sollten auch leben dürfen, wo immer sie wollen. „Die Zionisten fordern, dass alle Juden in Israel zu leben haben. Damit haben sie indirekt das gleiche Ziel wie Hitler – ein judenreines Europa. Ich hingegen finde, dass jeder Jude leben können soll, wo er will. Manche sind nun mal Amerikaner, Deutsche oder Franzosen. Ich selbst bin Israeli, meine Muttersprache ist Hebräisch und obwohl ich mein Land als lausige Familie erlebe, liebe ich es – und möchte nur hier wohnen!“

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