Gunnar Heinsohn / 13.06.2014 / 22:21 / 3 / Seite ausdrucken

Iraks 35-jähriger Krieg

Mit rund 5000 Angriffen, 8000 Toten und 15000 Verletzten seit Januar 2014 erreicht Iraks 35-jähriger Krieg wieder eine aktivere Periode. Im Jahr 2013 werden pro Monat 800 Gewaltopfer gezählt, jetzt sind es fast doppelt so viele. 1980-1988 verkraftet das Land gegen den Iran 200.000 Gefallene.1990-1991 verliert Saddam Hussein (1937-2006, hingerichtet) gegen die USA 150.000 Soldaten und zwischen 2003 und 2011 sterben noch einmal 110.000 im Zweiten Irakkrieg. Zwischendurch lässt Saddam über 200000 Schiiten und Kurden genozidal – auch mit Giftgas – ermorden.

Das alles kann den demografischen Sturmlauf Iraks nur minimal verzögern. Denn von 1980 bis 2014 wächst die Zahl junger Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren von 1,1 auf 3,1 Millionen (http://esa.un.org/unpd/wpp/unpp/p2k0data.asp). Erreichen die USA gegenüber dem Irak in dieser Altergruppe 1950 eine unangefochtene Überlegenheit von 27:1, so stehen sie heute bei nur noch gut 6:1. Dagegen sieht es bei der Gesamtbevölkerung mit 10:1 (320 gegen 32 Millionen) ungleich günstiger aus. Erst beim Durchschnittsalter von 38 Jahren (D: 46) gegenüber 21 im Irak werden die Welten zwischen beiden Kulturen unübersehbar. 

Über diese demografischen Trends bräuchte man weiter keine Worte zu verlieren, wenn sie bei möglichen Einsatzkalkülen immer mitbedacht würden. Dem aber ist nicht so. 2006, als es im Irak-Krieg für Amerika unter George W. Bush prekär wird, geht eine Sonderkommission an die Ursachenforschung. Man lädt dazu 44 der weltweit besten Kriegsexperten ein. Im Dezember 2006 liegt der so genannte Baker-Hamilton-Report vor:„Die US-Regierung kann auch jetzt weder die Aufstandsbewegungen noch die Rolle der Milizen zureichend verstehen“. Man hatte vergessen, einen Demografen hinzuzuziehen. Immerhin wird die eigene Truppenzahl unter David Petraeus so wuchtig nach oben gefahren („the surge“), dass man im Moment neu gewonnener Überlegenheit abziehen kann.

Auch das könnte man zu den Akten legen, wenn der aktuelle Oberbefehlshaber bei der Ermittlung von Konfliktursachen sich nicht immer wieder auf gutes Benehmen (bringt Frieden) oder provokantes Verhalten der USA (bringt Krieg ) konzentrierte. Als am 11. September 2012 gut vorbereitete Gotteskrieger im lybischen Benghasi den US-Vertreter und drei Marines töten, erklärt Präsident Obama das mit einem prophetenkritischen Video, das ein paar Exilägypter in Kalifornien gedreht hatten. Mehrmals entschuldigt er sich vor der gesamten Menschheit für die gotteslästerliche Tat. Die Islamisten hatten das Video weder gesehen noch auch nur als Vorwand für ihren Angriff bemüht. Dafür war zwischen 1970 und 2012 in Lybien die Zahl der 20-29-jährigen Männer um den Faktor 4 von 160.000 auf 630.000 nach oben geschnellt. Obendrein hatten sich zornige Jünglinge aus anderen Youthbulge-Regionen den Krieger-Fraktionen in dem ölreichen Land hoffnungsvoll angeschlossen.

Wer seine Optionen im Irak ermessen will, sollte im Auge behalten, dass dort 2020 nicht mehr nur 3,1, sondern 3,7 Millionen Wehrfähige zwischen 20-29 Jahren den Lebenskampf bestehen müssen. Was spräche dafür, dass für die zusätzlichen 600000 Mann der Ruf zu den Waffen weniger verlockend klänge als heute?

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Leserpost

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Jochen Seelig / 14.06.2014

Das heißt: noch jahrzehntelanges Massakrieren, und der Druck auf die angrenzenden Länder wird erheblich zunehmen. Hier vor allem die Türkei, deren Geburtenrate gen Westen immer mehr sinkt.

Max Wedell / 14.06.2014

“Was spräche dafür, dass für die zusätzlichen 600000 Mann der Ruf zu den Waffen weniger verlockend klänge als heute? “ Wenig. Als Faktoren, die zu den Waffen ziehen, sind zu nennen: a) Sozialisierung der Jungen in Chaos, Gewalt und religiösem Fanatismus… solche Verhältnisse neigen ja dazu, sich selber zu perpetuieren… etwa weil es beschädigten Menschen einfacher fällt oder sogar dazu drängt, andere Menschen zu beschädigen. b) Ressourcenknappheit bei gleichzeitig hoher Anzahl potentieller Ressourcenverbraucher drängt den einzelnen zur Aneignung der Ressourcen mit Gewalt c) Gerade bei jungen Männern, die aus dem Krieg heimkehren (z.B. US-Soldaten aus Vietnam oder Irak) fällt immer wieder auf, wie sie den Krieg als “gute Zeit” verklären, als eine Zeit der Kameradschaft, der Abenteuer, der intensiven Erlebnisse. Es wäre wirklich merkwürdig, wenn arabische junge Männer diese Erlebnisse so ganz anders empfinden würden. Als Faktor, der von den Waffen fernhält, fällt mir nur einer ein: Das erfahrene Leid ist so groß, daß man die Lust oder Energie verliert, mitzuwirken. Wenn man all jene, die das militante Geschehen in höchstem Maße ablehnen, über Asyl in unsere europäischen Länder kommen lässt, kann man auch die letzten Einflüsse hin auf ein friedliches Miteinander in diesen von Gewaltausbrüchen geschüttelten Ländern beseitigen.

Dieter Sulzbach / 14.06.2014

Et tu, Gunne! - L i byen!! Ansonsten: Danke und: Weiter so! (Was für ein Weg von den frühen Werken - edition suhrkamp? Kann augenblicklich nicht zum heimischen Bücherregal.) Realitätsverweigerung, wie von Ihnen immer wieder einfach anhand von Zahlen beschrieben, entwickelt sich zur tragischen Fehlleistung einer ach so aufgeklärten und informierten Welt. Die Techniker der Macht, die es bis an die Schalthebel geschafft haben, bekommen auf ihren zahlreichen Konferenzen, Reisen, Konsultationen, Presseterminen ... überhaupt nicht mehr mit, was eigentlich los ist. Und - dazu braucht man aber unfähige BeraterInnen! - auch heimische Heerscharen von “Experten” bringen keine vernünftige Basis zustande, auf der zukunftsorientiertes Handeln gelingen könnte. Die Erkenntnis ist mir nicht leicht gefallen: Auch bei unseren Spitzenkräften - v.a. in der Politik - scheint Dummheit vorzukommen. Und das nicht zu knapp!

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